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Polizeistatistik

Tiefes Misstrauen

Polizeistatistik: Tiefes Misstrauen
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Nur 155 Beschwerden in fünf Jahren, landesweit. Das beweist laut Innenministerium, dass es keine Diskriminierung durch Polizeibeamte in Baden-Württemberg gibt. Vier Fünftel der Fälle ziert zudem der Zusatz "Verdacht nicht bestätigt". Doch die Aussagekraft dieser Zahlen ist mehr als zweifelhaft.

Ein Mann randaliert in einem Stuttgarter Schnellimbiss. Zwei Zeugen mit Migrationshintergrund rufen die Polizei. Die kommt, und als erstes kümmern sich die Beamten nicht um den bedrängten Mitarbeiter hinter der Theke. Sondern? "Sie packen einen der beiden dunkelhäutigen Anrufer", berichtet Bea Böhlen über einen jener Fälle, die in ihrem Büro in den vergangenen Monaten eingegangen sind. Die Bürgerbeauftragte des Landes Baden-Württemberg sieht das harte Urteil der SPD-Bundesvorsitzenden Saskia Esken, es gebe strukturellen Rassismus bei der Polizei, durch ihre Arbeit bisher nicht bestätigt. Sie sehe aber sehr wohl Bereiche, sagt die frühere Grünen-Landtagsabgeordnete, mit noch "viel Luft nach oben".

Leichter würde sich die Aufarbeitung polizeilicher Fehl- und Übergriffen gestalten, wenn umgesetzt worden wäre, worauf sich Grüne und SPD vor dem Hintergrund des Schwarzen Donnerstags von 2010 in ihrem Koalitionsvertrag im April 2011 geeinigt hatten. "Wir werden eine individualisierte anonymisierte Kennzeichnung der Polizei bei sogenannten 'Großlagen' einführen, unter strikter Wahrung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung der Polizistinnen und Polizisten", heißt es auf Seite 66. Die den Innenminister stellenden Sozialdemokraten mochten das Versprechen aber nicht erfüllen. 2015 wurde als schaler Kompromiss die Einrichtung des oder der Bürgerbeauftragten beschlossen für Beschwerden aller Art zur Arbeit der Landesverwaltung, aber eben auch der Polizei.

Die CDU schäumte, der damalige Fraktionschef Peter Hauk sprach von einer "linken Machenschaft", getragen von tiefem Misstrauen gegen die Polizei. Als die Union ein Jahr später die Regierung mit den Grünen einging, musste sie das Amt aber wohl oder übel schlucken, zumal der Koalitionspartner als ersten Beauftragten Volker Schindler aufbot, den früheren Vizepräsidenten im Aalener Polizeipräsidium. Schon in seinem ersten Jahresbericht hob er nicht nur die Bedeutung seiner Aufgabe hervor, sondern listete feinsäuberlich die Eingaben zum Thema Polizei auf.

Die Fehlerkultur soll positiv sein

Aus der Gesamtschau des Innenministeriums von 2015 bis heute stechen mehrere Aspekte heraus: 25 der insgesamt 155 aufgelisteten Fälle datieren aus den ersten sechs Monaten des laufenden Jahres. Würde sich der Trend bestätigen, müsste erst recht genau hingeschaut werden. Zum Beispiel nach Reutlingen, mit zwei noch ungeklärten Fällen in den vergangenen Monaten. Oder nach Ravensburg, wo zwei Petitionen laufen, weil Betroffene sich nicht damit abfinden wollen, dass ihre Beschwerden in der Kategorie "Diskriminierung ethnischer Herkunft" als aufgeklärt und erledigt abgeheftet werden. Ginge es allein nach der politischen Führung im Hause Thomas Strobl (CDU), wären weitere Recherchen sinnlos. Denn wie sein Staatssekretär Wilfried Klenk erläutert, gebe es bereits in der Ausbildung Maßnahmen, "damit Rassismus und Diskriminierung in die polizeiliche Arbeit auch weiterhin keinen Eingang finden".

Verdunklungsgefahr

Wer nichts zu verbergen hat, habe nichts zu befürchten, lautet ein beliebtes Argument insbesondere konservativer SicherheitspolitikerInnen, wenn sie Maßnahmen wie die Vorratsdatenspeicherung oder eine Videoüberwachung im öffentlichen Raum befürworten. Doch anscheinend gilt dieser Grundsatz nicht für Polizeibeamte: Innenminister auf Bundes- und Landesebene sträuben sich dagegen, in einer unabhängigen Untersuchung der Frage nachzugehen, wie weit Rassismus in den Reihen der Polizei verbreitet ist.

Auch einer Empfehlung des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen wollte die Bundesrepublik bislang nicht folgen. Dieser bemängelte bereits 1996, dass es "keinen wirklich unabhängigen Mechanismus für die Untersuchung von Beschwerden über Misshandlungen durch die Polizei" gebe, und sprach sich für die bundesweite Einrichtung solcher Stellen aus. Eine Empfehlung, der sich zwischenzeitlich nicht nur NGOs, sondern auch der UN-Antifolterausschuss und die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz anschlossen. Während mehrere Bundesländer über die vergangenen Jahre Polizei- bzw. Bürgerbeauftragte wie in Baden-Württemberg einsetzten, gibt es eine solche Instanz bislang nicht auf Bundesebene.

Alarmiert durch den polizeilichen Mord an George Floyd in den USA sprachen sich zuletzt SPD, Grüne und Linke erneut für die Einrichtung einer unabhängigen Beschwerdestelle aus. Entsprechende Initiativen aus der Opposition im Bundestag scheiterten jedoch am 18. Juni dieses Jahres an den Gegenstimmen von CDU, AfD und SPD. Für die Union sprach der Abgeordnete Mathias Middelberg sein "Grundvertrauen in die Polizeibeamtinnen und -beamten" aus und wies jede Rede von "verfassungsfeindlichen Tendenzen" als Unterstellung zurück.  (min)

Die Botschaft soll also heißen: Alles paletti. Plausibel ist das aber mitnichten, heißt es doch an anderer Stelle, dass im Rahmen der Ausbildung für den mittleren Polizeivollzugsdienst für die Vermittlung einschlägiger genannten Inhalte nur "neun theoretische sowie zwölf praxisbezogene Unterrichtsstunden vorgesehen sind, in der Vorausbildung und im Studium für den gehobenen Polizeivollzugsdienst zwölf Unterrichts- bzw. Vorlesungsstunden, dazu sechs praxisbezogene Unterrichtstunden und fünf Stunden im Selbststudium", was auch immer das sein mag. 151 Beamte aus dem gehobenen Dienst nahmen in den vergangenen zwei Jahren am Seminar "Führung und Zusammenarbeit" teil. Als Ziel wird angegeben, "rassistische und diskriminierende Tendenzen nicht nur zu erkennen, sondern bereits deren Entstehung zu unterbinden". Die Grundlage hierfür bilde, schreibt Klenk im Hochglanz-Broschüren-Stil weiter, "die Schaffung einer positiven, von Offenheit, Ehrlichkeit und Transparenz geprägten Organisations- und Führungskultur, welche im Sinne eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses eine positive Fehlerkultur pflegt".

Soweit die Theorie, die Praxis ist – jedenfalls auch – eine andere. Fälle belegen, wie Beamte ihre Nerven verlieren und danach mit einer positiven Fehlerkultur gar nichts zu tun haben wollen. So wurden im Februar 2017 anhaltend und sogar per Pressemitteilung die Ereignisse bei einem Verkehrsunfall von den beteiligten vier Beamten falsch dargestellt – bis ein Handy-Video auftauchte. Das stützte die von den Ordnungshütern beharrlich geleugnete Version, wonach einer der Beamten das Unfallopfer mit einem Knüppel traktierte. Der Haupttäter bekam acht Monate auf Bewährung wegen Körperverletzung im Amt, die Ermittlungen gegen seine drei Kollegen wurden hingegen eingestellt. Die Staatsanwaltschaft hatte behauptet, das Trio habe irrtümlicherweise davon ausgehen können, das Opfer habe sich möglicherweise aggressiv verhalten und sei deshalb "zu Boden gebracht worden".

Polizeigewalt: Studie rechnet mit riesigem Dunkelfeld

Wohl dem, der ein Handy-Video vorlegen kann. Denn dass es zu einer Verurteilung kommt, ist die absolute Ausnahme. Jahr für Jahr belegen offiziell erhobene Zahlen, dass deutlich über 90 Prozent der Ermittlungen gegen PolizistInnen eingestellt werden. Einer der wichtigsten Gründe: StaatsdienerInnen in Uniform sprechen ihre Aussagen vor Gericht ab. Zum missverstandenen Korpsgeist gehört es, dass die eigenen Leute nicht im Regen stehengelassen werden, wenn sie wegen irgendwelcher im Dienst begangenen Übergriffe vor dem Kadi landen. Nur äußerst mühsam sind dann oft die wahren Abläufe zu rekonstruieren, etwa warum ein Afrikaner, der ursprünglich bei einer Zugfahrt ein Ticket nachlösen wollte, entkleidet bis auf seine Boxershorts nach zweieinhalb Stunden in einer Geislinger Zelle landete und ohne Angabe von Gründen wieder freigelassen wurde. Immerhin: Zwei beteiligte Beamte wurden später zu Geldstrafen in Höhe von 1.200 beziehungsweise 2.000 Euro verurteilt. Noch eine schlimme Erfahrung von BeschwerdeführerInnen ist, dass, wenn es überhaupt zu einer Hauptverhandlung gegen Einsatzkräfte kommt, den Angeklagten in Uniform vom Richtertisch viel Wohlwollen entgegenschlägt, was auch dazu führt, dass RechtsanwältInnen nicht selten von der Anzeigeerstattung abraten.

An Analysen ist kein Mangel. Durchschnittlich mündet nach den Zahlen des Statistischen Bundesamts ein Fünftel aller Ermittlungsverfahren in der Republik in eine Anklage oder einen Strafbefehl. Geht es aber um PolizistInnen, sind es zehn Mal weniger. Noch schonungsloser unterstreicht eine Langzeituntersuchung die Verhältnisse aus Sicht Betroffener. Basierend auf systematischen Interviews in Deutsch, Englisch, Arabisch und Französisch hat ein Team der Ruhr-Uni Bochum unter Leitung des Kriminologen Tobias Singelnstein hochgerechnet. Die WissenschaftlerInnen gehen von bundesweit rund 12.000 Verdachtsfällen illegaler Polizeigewalt im Jahr aus. "In der Stichprobe ist das Dunkelfeld also etwa sechsmal größer als das Hellfeld," sagt Singelnstein. Der Abschlussbericht, in dem ExpertInnen aus Polizei, Justiz und Zivilgesellschaft die Erkenntnisse bewerten, wird im kommenden Jahr vorliegen.

Die Bürgerbeauftragte Böhlen hofft, gerade nach ihren acht Jahren als Vorsitzende im Petitionsausschuss des Landtags, auf mehr Kooperation und vor allem auf die Bereitschaft unter Betroffenen, zu eigenen Fehlern zu stehen. Im Innenministerium selber berichten MitarbeiterInnen, dass sich die Tonlage bereits geändert habe, seit mit Stefanie Hinz erstmals eine Frau die Landespolizei führt. Sie könnte mithelfen, jenen "Code of Silence" zu durchbrechen, den Heribert Prantl in der "Süddeutschen Zeitung" beklagt. Gerade wenn sich "hohe Polizeiführer hinter diese Mauer des Schweigens stellen, wenn sie selbst offenkundige Fehler ihrer Beamten leugnen, wenn sie Überreaktion und überzogene Gewaltanwendung als Normalität darstellen, dann tun sie das in vermeintlich guter Absicht – um die polizeiliche Integrität zu sichern und zu wahren; genau der schaden sie aber damit". Würde sich diese Erkenntnis in allen Polizeipräsidien durchsetzen, wäre die massenhafte Einordnung von Beschwerden in die Rubrik "Verdacht nicht bestätigt" ziemlich zügig Geschichte.


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1 Kommentar verfügbar

  • Jue.So Jürgen Sojka
    am 28.07.2020
    Antworten
    Statistik, eben auch bei der Polizei, sollte kein Buch mit sieben Siegeln sein, auf jeden Fall nicht bleiben! [1]

    Das tiefe Misstrauen hat eine lang andauernde Vorgeschichte - ZEIT ONLINE
    2012, Sept. – Nov. 2013 Serie Polizeigewalt mit 9 Artikeln https://www.zeit.de/serie/polizeigewalt
    2012,…
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