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Stuttgart 21

Die Pirouetten des Professors

Stuttgart 21: Die Pirouetten des Professors
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Verwirrung bei Stuttgart 21: Staatssekretär Steffen Bilger erklärt die Umsetzung und Finanzierung eines neuen Gäubahntunnels schon als sicher. Und S-21-Erfinder Gerhard Heimerl befürwortet jetzt einen Ergänzungskopfbahnhof. Damit erklärt er das Projekt im Grunde für unzulänglich.

So langsam wird es unübersichtlich. Quasi aus dem Nichts wird die Idee eines völlig neuen Gäubahntunnels im Zusammenhang mit Stuttgart 21 in die Diskussion geworfen (Kontext berichtete). Und der offenbart die zwei Jahrzehnte alte, immer wieder ehern von S-21-Befürwortern verteidigte alte Streckenführung als das, was Projektkritiker schon immer sagten: eine komplette Fehlplanung. Und kurz darauf erklärt Steffen Bilger, aus Ludwigsburg kommender CDU-Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium, schon mal dessen Planung, Umsetzung und Finanzierung durch den Bund für praktisch gesichert, obwohl es noch nicht einmal einen präzisen Streckenverlaufsplan für das neue Vorhaben gibt. Auch im Bundesverkehrswegeplan ist es noch nicht hinterlegt.

Das verwundert viele, offenbar auch vom SWR, von dem Bilger denn auch gefragt wurde, woher er diese Sicherheit nehme und ob der Tunnel nun komme oder nicht. Bilger eiert betont gutgelaunt herum, um dann einzuräumen: Gut, die Wirtschaftlichkeit des Tunnels müsse noch geprüft werden, die Finanzierung bereit gestellt sein, rechtlich alles geprüft werden, "aber das gilt auch für jeden Radweg".

Zwei Tunnelröhren von jeweils zwölf Kilometern ist auch nichts anderes als einen Radweg zu planen? Das klingt ja beruhigend. Oder beunruhigend für Freunde neuer Radwege, je nachdem. Wenig gewagte Prognose: Das wird noch heiter werden.

Keineswegs "völlig neue Rahmenbedingungen"

Und als wäre das schon nicht genug, meldet sich der Erfinder der S-21-Idee, der emeritierte Stuttgarter Verkehrswissenschaftler Gerhard Heimerl, in einem Interview mit der "Stuttgarter Zeitung" gemeinsam mit dem früheren Projektkritiker Klaus Amler zu Wort (online kostenpflichtig). Und wirft noch mehr über den Haufen. Nicht nur, dass er den Gäubahntunnel im Prinzip gut findet, er plädiert auch noch für einen (unterirdischen) Ergänzungskopfbahnhof für Stuttgart 21, wie es Landesverkehrsminister Winfried Hermann im vergangenen Jahr vorgeschlagen hat. (Kontext berichtete)

Im zusammenfassenden Text auf der StZ-Homepage liest sich das so: "Der Ergänzungsbedarf rühre von völlig neuen Rahmenbedingungen her, sagte Heimerl jetzt: Von den Zielen, das Klima zu schützen, die Zahl der Fahrgäste im Bahnverkehr zu verdoppeln und einen Deutschlandtakt einzurichten mit Verbindungen zwischen größeren Städten im 30-Minuten-Takt."

Eine aparte Feststellung: War denn nicht das Versprechen, die Leistungsfähigkeit des alten Hauptbahnhofs zu verdoppeln, in den 1990ern eines der zentralen Argumente für die Stuttgart-21-Station gewesen? Das hatte sich dann zwar nach und nach verringert – bei Geißlers Faktencheck 2010 war nur noch von 30 Prozent mehr Leistung die Rede, und die bis heute in Aussicht gestellten Kapazitäten der Tiefhaltestelle bewerten nicht nur lokale, sondern auch internationale Experten mehr als skeptisch. Doch das jetzige Plädoyer für eine Ergänzung klingt schon sehr nach: S 21 braucht diesen zusätzlichen Halt, damit das, wofür es ursprünglich versprochen wurde, auch eingehalten werden kann. Die projektkritische Gruppe "Ingenieure 22" spann dies logisch weiter: "Prof. Heimerl gesteht mit seinem neuerlichen Vorstoß … ein, dass seine Ursprungsidee für einen ergänzenden Durchgangsbahnhof in den Händen von Politik und Deutscher Bahn offenbar völlig verunstaltet wurde und letztlich zu einer Fehlplanung missraten ist." Aber diese Einschätzung habe "Jahrzehnte Verspätung".

Der Kombibahnhof war die Ursprungsidee

Tatsächlich kommen Heimerls neuerliche Einschätzungen, wenn man seine Äußerungen der letzten Jahre verfolgt hat, nicht ganz überraschend. Schon 2016 hatte er, auch da schon in einem StZ-Interview zusammen mit Klaus Amler, für einen Ergänzungs-, also Kombibahnhof bei Stuttgart 21 geworben. Knapp fünf Jahre zuvor hatte er, anlässlich der von Heiner Geißler im Stresstest zu S 21 präsentierten Kombilösung, den reinen Durchgangsbahnhof noch als "deutlich überlegen" bezeichnet. Und 2014 hatte er die bisher geplante Gäubahnführung über die S-Bahnstrecke auf den Fildern vehement mit scharfen Worten kritisiert – nachdem er keine vier Jahre zuvor ebenso vehement die S-21-Gegner für ihre Kritik an eben dieser Gäubahnführung kritisiert hatte. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich Heimerl so oft widersprüchlich zu dem auf seiner Idee beruhenden Projekt geäußert, dass man leicht den Überblick verlieren konnte – oder eben den Eindruck gewinnen, dass es sich hier um einen bei Gelegenheit äußerst wendigen Wissenschaftler handelt.

Woran kein Zweifel besteht: Am Anfang von Heimerls Idee stand ein Kombibahnhof. Mitte der 1980er entwickelte er das Konzept eines Durchgangsbahnhofs, der den bestehenden Kopfbahnhof im 90-Grad-Winkel kreuzen sollte. "Sein Vorschlag galt nur für den Fernverkehr Mannheim – Stuttgart – Ulm – München", so der Ingenieur und frühere Bundesbahndirektor Sven Andersen in einem lesenswerten Artikel von 2010, "der Kopfbahnhof sollte für alle übrigen Verkehre erhalten bleiben."

War Heimerl ein Getriebener?

Für diese frühe Phase der Stuttgart-21-Idee hat Kontext-Kolumnist Joe Bauer in einem früheren Text eine sehr hübsche Anekdote parat. Ein befreundeter Bahningenieur habe damals in Stuttgart bei Heimerl studiert und sich erinnert: Des Professors "Idee von S 21 und der NBS nach Ulm war eine bewusst theoretische Planstudie als Anregung für die Studierenden, wie man heute solche Vorhaben angehen müsste … Die Skizze sei nie als konkreter und praktischer Vorschlag für Stuttgart gemeint gewesen, schon wegen des offensichtlichen Missverhältnisses zwischen Aufwand und Nutzen und der nicht vorhandenen Erweiterungsmöglichkeiten einer unterirdischen Gesamtanlage. Nachdem die Politik dann mit einiger Verspätung unversehens den Ansatz aufgriff, habe Heimerl nolens volens gute Miene zu dem Spiel machen müssen. … Dass die Immobilien-, Bau- und Finanzbranche die Idee dermaßen an sich ziehen würden (womit dann das Thema Eisenbahn letztlich zum irgendwie hingebogenen Abfallprodukt deklariert wurde), habe Heimerl nicht ahnen können und müssen. Natürlich hätte seine Uni bei 'logischen' Voraussetzungen ein solches Projekt als nicht sinnvoll bezeichnen müssen. Doch auf der hohen politischen Ebene hätte Heimerl dann schlecht sagen können: Ätsch, wir haben nur ein Späßle gemacht. Und nachdem für positive Studien im Auftrag der DB AG viel 'Drittmittel' winkten und parallel das Land an den Unis sparte, war die Ausgangslage wieder etwas anders."

Eine von heute aus gesehen nicht unschlüssig klingende Deutung, die Heimerl letztlich fast wie einen Getriebenen erscheinen lässt. Zu Recht? Daran lassen wiederum die Schilderung Andersens und einige Veröffentlichungen Heimerls Zweifel: 1988 war er mit einer Denkschrift zu seiner Ursprungsidee – also dem Durchgangsbahnhof nur für die Strecke von Mannheim nach München – an die Öffentlichkeit gegangen. In den kommenden Jahren wurden, lange mehr oder weniger ergebnislos, von Bahn und Landesregierung verschiedene Varianten dieser Lösung geprüft. Ende 1992 habe sich abgezeichnet, dass die Bahn zumindest einem Durchgangsbahnhof für den Fernverkehr nicht abgeneigt war, wobei sie den eher am Rande des Rosensteinparks prüfen wolle.

In dieser Situation hätten Heimerl sowie Jürgen Wedler, damals Vizepräsident der Bundesbahndirektion Stuttgart, eine Chance gesehen für die Idee eines tiefergelegten Hauptbahnhofs an Stelle des Kopfbahnhofs, wie Andersen beschreibt: Die beiden "sahen nun eine Möglichkeit darin, mit städtebaulichen Aspekten durch die freiwerdenden Bahnflächen die Politik in Baden-Württemberg ganz auf ihre Seite zu bringen". Was auch gelang, wie man heute weiß. Dass es die "große Chance für die städtebauliche Entwicklung der topographisch beengten Kernstadt" war, die letztlich den Ausschlag für Stuttgart 21 in der bis heute verfolgten Form gab, stellte Heimerl selbst 1994 fest. Andersherum gesagt: Wäre das Projekt nicht zum Immobilienprojekt gemacht worden, hätte es wohl keine Chance gehabt.

Haltungs-Rochade

Da ist es wieder eine bemerkenswerte Pirouette, wenn Heimerl nun, im aktuellen StZ-Interview vom 11. Juli 2020, die Stadt Stuttgart dafür kritisiert, dass sie aus Sorge um den Wohnungsbau keine zusätzlichen Gleise für einen Ergänzungsbahnhof möchte: "Das ist zu kurz gedacht", sagt Heimerl, "die Stadt muss auch Interesse an einer guten Anbindung an den Fern- und Regionalverkehr haben… Sie darf nicht nur an den Wohnungsbau denken." Letzteres ein unverhohlener Seitenhieb auf den grünen Baubürgermeister Peter Pätzold, der sich ja, mit regelmäßigem Verweis auf Gemeinderatsbeschlüsse, als wackerer Verteidiger der Wohnbauinteressen auf jedem Quadratzentimeter der irgendwann einmal durch S 21 frei werdenden Flächen geriert.

Eine Haltungs-Rochade könnte man dies auch nennen: Während der S-21-Erfinder auf einmal mehr oder weniger explizit sein Baby als unzulänglich geplant darstellt und die Gründe kritisiert, wegen derer es überhaupt durchgesetzt werden konnte, macht sich der ehemalige Stuttgart-21-Gegner nun für die möglichst pure Umsetzung des von ihm früher kritisierten Projekts stark. Damit letzteres nicht ganz in Vergessenheit gerät, sei an dieser Stelle noch einmal daran erinnert, wie Pätzold noch 2013, einmal einträchtig neben Gangolf Stocker sitzend (Video hier), einmal auf der Demo-Bühne (Video hier), gegen Stuttgart 21 wetterte. Gut, die Zeiten waren andere. Das Projekt stand bis dato ein letztes Mal im Bahn-Aufsichtsrat auf der Kippe, und Pätzold kritisierte, dass sich die Projektbefürworter einer Diskussion verweigerten, "was passiert wenn nichts passiert. Und sie schüren die Angst vor einem Ausstieg. Dazu kann ich nur sagen: keine Angst vor einem Ausstieg. Es kommt kein schwarzes Loch, das schwarze Loch kommt, wenn Stuttgart 21 kommt."

Wie gesagt, die Zeiten waren andere.


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4 Kommentare verfügbar

  • Jue.So Jürgen Sojka
    am 16.07.2020
    Antworten
    ʺLernen von den Bestenʺ Titelt Oliver Stenzel in der KONTEXT Ausgabe 308 und lässt die Öffentlichkeit dabei nicht im Ungewissen, wie freundliche publizistische Begleitung funktioniert – in Gegenseitigkeit! [1]

    Irrungen und Wirrungen waren in längst vergangenen Tagen darin noch erfolgreich, Kritik…
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