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Versprochen, gebrochen

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Die Ablehnung des Volksbegehrens für gebührenfreie Kitas schlägt hohe Wellen. Eltern müssen auch künftig viel Geld berappen. Außerdem hat der Verfassungsgerichtshof mit seinem Urteil der Politik des Gehörtwerdens einen kräftigen Tritt verpasst. Und selbst ihr Erfinder will mittlerweile nicht mehr viel von ihr wissen.

Sätze fürs Geschichtsbuch: Politischer Streit, "eigentlich das Lebenselixier der Demokratie", verkommt im politischen Alltag viel zu oft zum billigen Krach. Das stellte Winfried Kretschmann fest, im Winter 2011, kurz vor seiner ersten Wahl zum Ministerpräsidenten. Eben deshalb wolle er einen neuen und anderen Umgang mit der Bürgerschaft zu seinem Markenzeichen machen. Auf der Sollseite stehen seither und für immer die Volksabstimmung zu Stuttgart 21, einschließlich der vielen Falschinformationen, mit denen der Sieg für das Fanlager erschummelt wurde, und Kretschmanns schräger Spruch vom Käs', der trotzdem gegessen sei.

Die Habenseite darf sich mit kleinen Fortschritten und Teilerfolgen schmücken: neue Beteiligungsverfahren, darunter die Befassung zufällig ausgewählter BürgerInnenräte mit strittigen, selbst komplexen oder emotionalen Fragen, oder die ausgeweitete kommunale Mitbestimmung. Erst Anfang März befasste sich eine von "Mehr Demokratie Baden-Württemberg" organisierte Fachtagung mit der befriedenden Wirkung durch den Zuwachs an Bürgerrechten auf gesellschaftliche Konflikte.

Kretschmann müsste das eigene Wort im Ohr klingeln

All diese Pluspunkte stellt allerdings der Umgang mit dem Volksbegehren für gebührenfreie Kitas in den Schatten. Das hatte ein von der SPD angeführtes Bündnis auf den Weg gebracht mit vergleichsweise großen Hoffnungen. Es sammelte 17.000 Unterschriften ein, überreichte sie im vergangenen Jahr im Innenministerium und wurde – geschmackvollerweise am Rosenmontag – vom CDU-Hausherrn Thomas Strobl in die Schranken gewiesen. Begründung: Wäre das Begehren erfolgreich, würde es den Haushalt des Landes über Gebühr beeinflussen. Wenn das Volk Ausgaben in Millionenhöhe auslöst, ist das von der Verfassung, auch von der geänderten, nicht gedeckt.

Schon da hätten dem grünen Regierungschef seine eigenen Worte in den Ohren klingen müssen. Denn: Wollte er zu Beginn seiner Amtszeit nicht erreichen, "dass das Vertrauen in die Politik wieder wächst"? Und "vermitteln, dass man etwas bewirken kann, wenn man sich hinter einer Idee zusammenschließt und dem Volk die Möglichkeit geben, Themen an sich ziehen und sogar entscheiden kann"? Wollte er nicht "radikal brechen mit der Beteiligung nach dem Motto: Die Bürger machen eine Eingabe und bekommen einen Bescheid"? In der Euphorie des grün-roten Machtwechsels schlug Kretschmann Pflöcke ein, die er inzwischen deutlich versetzt hat.

Mitte Mai folgte das Gericht Strobl, bemägelte Widersprüche im SPD-Gesetzentwurf und eben jene Ausgaben in dreistelliger Millionenhöhe, die das Land Jahr für Jahr hätte, würden Eltern keine Kita-Gebühren mehr zahlen. Es liege ihm fern, die Verfassung noch einmal zu ändern, sagt der Regierungschef dennoch. Dabei hatten die HöchstrichterInnen des Landes mit ihrem Urteil doch gerade das immer noch ziemlich zarte Pflänzchen Volksgesetzgebung auf Landesebene lieblos niedergetreten. Jetzt zeige sich eben, sagt Edgar Wunder, der Landesvorsitzende von "Mehr Demokratie", dass die 2015 vom Landtag interfraktionell gefassten Beschlüsse zur Erleichterung der Volksgesetzgebung im Land praxisuntauglich seien.

Volksbegehren werden immer schwieriger

Nicht nur aus Wunders Sicht haben die Richter mit ihrem Urteil die Volksbegehren der Zukunft erheblich erschwert. Zwar verlange der vom VGH für seine Entscheidung zentral ins Feld geführte Bestimmtheitsgrundsatz, dass staatliches Handeln messbar und berechenbar ist. Mit diesem Urteil, sagt Wunder, werde aber gefordert, "dass ein Volksbegehren bis in den Begründungstext und in kleinste Details hinein abschließende Regelungen zu allen auch nur denkbaren Auswirkungen enthalten muss". Zudem: "Würde man diese hohen Maßstäbe an Gesetzentwürfe anliegen, die aus Ministerien kommen, wären schätzungsweise zwei Drittel davon ebenfalls unzulässig." Für Wunder liegt eine "Doppelmoral" darin, von Volksbegehren "mehr zu fordern als von Landtagsfraktionen oder Ministerien".

Aufschlussreich nicht nur für juristische Feinschmecker, sondern für alle, die Hoffnungen in die Weiterentwicklung der Demokratie durch mehr direkte Mitbestimmung setzen, ist der Umgang des Gerichts mit Artikel 59 der Landesverfassung: "Über Abgabengesetze, Besoldungsgesetze und das Staatshaushaltsgesetz findet kein Volksbegehren statt", steht da unter anderem zu lesen. Wird dieser Satz derart eng ausgelegt, kann das Volk nur noch sehr wenig begehren. Denn entscheidende Eingriffe in bestehende Verhältnisse, die nicht finanzwirksam sind, müssen mit der Lupe gesucht werden in der Geschichte der direkten Demokratie. Für Wunder ist es "unschwer voraussehbar", dass "bei einem der nächsten Volksbegehren dieser Rechtsstreit erneut aufkommen wird". Deshalb sei jetzt der Landtag als Landesgesetzgeber gefordert, dazu eine rechtlich eindeutige Klarstellung zu beschließen.

Der aber denkt gar nicht daran. Die CDU freut es, wie der grüne Koalitionspartner den eigenen Markenkern beschädigt, und die Grünen selber spielen auf Zeit. Nach der Ablehnung durch Strobl vor einem Jahr war Fraktionsvize Hans-Ulrich Sckerl (Grüne) noch aus der Deckung gekommen und hatte eine zweite Verfassungsänderung verlangt für den Fall, dass sich Strobls Haltung vor Gericht durchsetze. Inzwischen hat sich die Sprachregelung verfestigt, dass das Kita-Urteil erst einmal genau analysiert werden muss, um dann die notwendigen Schlüsse ziehen zu können.

Die Grünen haben zentrale Versprechen gebrochen

Dabei liegen die längst auf dem Tisch: Kretschmann und mit ihm die größere Regierungsfraktion haben zentrale mit Volksbegehren und -abstimmungen verbundene Versprechen gebrochen. Denn der Grüne wollte – zumindest auch – erreichen, dass VolksvertreterInnen den möglichen Willen des Volkes von vorneherein mitdenken, dass sie "anders agieren, wenn das Volk Themen an sich ziehen und sogar entscheiden kann".

Spätestens als mehr als zwei Dutzend Gewerkschaften, Verbände sowie Initiativen die SPD-Idee unterstützten und 17.000 Unterschriften gesammelt waren, hätte sich die Koalition des Begehrens annehmen müssen, so wie es später bei "Rettet die Biene" geschah. Zu prüfen wäre etwa, warum Kita-Gebühren so extrem unterschiedlich ausfallen im Land. Und es hätte sich gelohnt zu ermitteln, was der Landeshaushalt hergeben könnte, um Sonntagsreden von der Bedeutung der Bildung selbst am Montag ernst zu nehmen.

Selbst Strobls Zurückweisung hätte noch reichlich Anlass geboten, das Familienwohl höher einzustufen als den Frieden in der von Kretschmann einst so genannten grün-schwarzen "Komplementärkoalition". Und zumindest den Einstieg in eine breitere Gebührenbefreiung zu prüfen. Lieber ließ der Ministerpräsident aber die Dinge laufen – durchaus nicht ohne Absicht, wie er zu allem Überfluss auch noch selber einräumt. Das hat zu tun mit einer gewachsenen Skepsis im staatspolitischen Denken des einstigen Anhängers maoistischer Revolutionsideen: Wegen seines Zuspruchs zu Populismus und Nationalismus ist ihm das Volk nicht mehr ganz geheuer. Allerdings nimmt das Argument 85 Prozent der baden-württembergischen Wählerschaft in Geiselhaft für 15 Prozent AfD-AnhängerInnen. Und wie mit extrem verzerrten Darstellungen ("Fertigbauen statt Weiterärgern") umzugehen ist, hätte sich dem Grünen im und nach dem Stuttgart-21-Abstimmungskampf auf Dauer einprägen sollen.

Stattdessen steht die Spitze starr vor einem gewaltigen Problem, das irgendwann, wenn Corona als alles beherrschendes Thema in den Hintergrund getreten sein wird, auch von der gehörtwerdenwollenden Bürgerschaft in den Blick kommen wird. Spätestens dann, wenn "Mehr Demokratie" den bereits angedachten Plan umsetzt, ein Volksbegehren auf den Weg zu bringen, das einer weiteren Verfassungsänderung und damit mehr Volksbegehren zum Durchbruch verhilft. Geworben werden könnte mit Sätzen fürs Geschichtsbuch: "In der direkten Demokratie wird man als Politiker plötzlich auf Dinge verpflichtet, die man überhaupt nicht will." Oder noch ein O-Ton Kretschmann aus dem Jahr 2011: "Das wichtigste Projekt dieser Landesregierung ist die Bürgerbeteiligung (…) und ich merke immer wieder, dass ich daran gemessen werde, ob ich dieses Versprechen einlöse."


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1 Kommentar verfügbar

  • Dani
    am 03.06.2020
    Antworten
    Tja, der Hörr Kretschmann steht tatsächlich vor einigen dicken Problemen, zu deren Lösung er nicht nur nix beiträgt, sondern die er tapfer weiter verschärft.
    Allerdings baut seine Herausforderin Eisenmann mindestens genauso viel Mist.
    Mein persönlicher Verdacht ist, dass Kretschmann die Dame bis…
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