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Die Meister-Bürger

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Sie sind jung, sie sind im Netz und sie haben einen Traum: Bürger meistern ihre Stadt. Die Stuttgarter Initiative Meisterbürger sucht via Internet einen männlichen oder weiblichen OB-Kandidaten für die Landeshauptstadt. Fern von großen Namen. Fern von Parteigeschacher. Mitten aus einer selbstbewussten Bürgerschaft, die sich Großes zutraut. Es kommt Bewegung in die Stadt.

Meisterbürger wollen das Stuttgarter Rathaus erobern. Foto: Martin StorzSie sind jung, sie sind im Netz und sie haben einen Traum: Bürger meistern ihre Stadt. Die Stuttgarter Initiative Meisterbürger sucht via Internet einen männlichen oder weiblichen OB-Kandidaten für die Landeshauptstadt. Fern von großen Namen. Fern von Parteigeschacher. Mitten aus einer selbstbewussten Bürgerschaft, die sich Großes zutraut. Es kommt Bewegung in die Stadt.

In bewegten Zeiten hat das Neue eine Chance. Das hat Reykjavik bewiesen. In der isländischen Hauptstadt wurde mitten in der Finanzkrise einer zum Bürgermeister gewählt, den keine Partei auf dem Schirm hatte. Der Komiker, Musiker und ehemalige Punk Jón Gnarr ist als Spaßkandidat angetreten, heute ist der 45-Jährige Chef über 8000 Mitarbeiter und ein Jahresbudget von zwölf Millionen Euro. Er hat in der Verwaltung aufgeräumt, ist nicht an einer Wiederwahl interessiert ist und hat den Spaß bisher nicht verloren. Zum Gay Pride ging der der vierfache Familienvater als Miss Reykjavik, und eine seiner ersten Amtshandlungen war, einen Guten-Tag-Tag einzurichten. Die Isländer sind zufrieden mit ihrem Paradiesvogel. Sie hatten die Nase voll von konservativen und neoliberalen Politikern, die aus Island den Mittelpunkt der Finanzwelt machen wollten und damit gescheitert sind.

Auch in Stuttgart ist die Unzufriedenheit groß. "Die Chancen sind gut für einen eigenen Kandidaten", sagt Katrin Steglich. "Wenn einer wie Gnarr Bürgermeister werden kann, schaffen wir das auch", sagt Wolfram Bernhardt. "Die Bürger selbst können es ändern, dass sie mehr gefragt werden", sagt Christian Maria Mäntele.

Alle sind Meisterbürger

Die drei gehören zu den sechs Initiatoren der Plattform Meisterbürger. Sie verstehen sich als Dienstleister, die Vorschläge für einen Stuttgarter OB-Kandidaten sammeln. Es kann der Mann aus der Nachbarschaft sein, der sich um sein Viertel kümmert, oder die Frau, die im Sportverein die Jugendarbeit vorantreibt. Jeder kann auf <link http: www.meisterbuerger.org _blank external-link-new-window>www.meisterbuerger.org seinen Favoriten nennen. Alle, so die Philosophie, sind Meisterbürger und können mitmachen. Wer es tut, muss nur seinen Namen und seine Adresse angeben, den Kandidaten und drei Gründe nennen, warum dieser Mann oder diese Frau künftig ganz vorne in Stuttgart stehen soll.

Der meisterbürgerliche Optimismus hat Gründe. In Reykjavik hat ein Außenseiter das Rennen gemacht. In Nürtingen hätte es im vergangenen Herbst fast geklappt. Fast wäre Claudia Grau die erste Oberbürgermeisterin aus dem Netz geworden. Eine Internetkampagne hatte die Nürtinger Kulturbürgermeisterin als Gegenkandidatin zum amtierenden Bürgermeister aufgebaut. Die Parteien konnten sich vor der OB-Wahl auf keinen Gegenkandidaten einigen, und manchen Bürgern, die mit ihrem OB unzufrieden waren, platzte der Kragen. Sie warben via E-Mail, Twitter und Facebook für ihre Bürgerkandidatin, und am Ende schrieben 39 Prozent den Namen Claudia Grau auf den Wahlzettel, obwohl die gar nicht offiziell angetreten war. Gefragt hatte sie allerdings auch keiner. Das soll bei den Meisterbürgern anders laufen. Seit gestern ist ihre Plattform freigeschaltet. Und wenn die Vorschläge reinflattern, wird selbstverständlich die Zustimmung der Nominierten eingeholt.

Eigentlich müsste Winfried Kretschmann seine Freude an ihnen haben. Das ist Politik auf Augenhöhe, das ist Bürgerbeiteiligung pur, ganz ohne eine eigens dafür abgestellte Staatsrätin. Alle können mitreden, alle werden gehört. Da ist nur eins: Die Meisterbürger wollen keine Parteien, sie wollen sich selbst organisieren. Community Organizing (CO) heißt ihre Devise, und das bedeutet viel mehr als Bürgerinitiativen. Sie wollen nicht nur protestieren gegen Missstände, sondern eigene Strukturen schaffen, um ihre Stadt positiv zu verändern. CO heißt, dass sich Menschen einmischen, wenn es um ihren Stadtteil, ihre Kommune oder ihre Region geht. Die Prinzipien dieses Bürgernetzwerkes: Transparenz zwischen Staat und Wirtschaft, Gemeinwohl vor Eigennutz, und in Sachfragen entscheidet der Bürger. Das Ganze ohne Parteiengeschacher, ohne Hinterzimmerpolitik, Ochsentour und Intrigen. "Die Zeit ist zu schnell geworden", sagt Katrin Steglich, "alle vier Jahre wählen genügt nicht mehr."

Bei der Bürgermeister-Wahl soll ihre Utopie konkret werden

Freundlich lächelnd erklären die drei Meisterbürger, dass Liquid Democracy, also durchlässigere Mitbestimmung, wirklicher Bürgerbeteiligung viel näher kommt. Munter verkünden sie, dass sie den Parteien nicht den Krieg erklären wollen, aber sie für zu altmodisch, für zu hierarchisch halten, um Bürger wirklich zu beteiligen an der Politik. Sie wollen neue Wege gehen, auch auf die Gefahr hin zu scheitern, und strahlen dabei einen Optimismus und eine Unverkniffenheit aus, den viele Politiker auf ihrem Sisyphusweg durch die Parteien längst verloren haben.

Sie wollten werben für die Werte, die sie als Richtlinien politischen Handelns auf ihrer Plattform verkünden: " Menschlich, offen, transparent, vertrauensvoll, stark, mutig, mutmachend, freudig, freundlich, einfühlend, engagiert, einfach, direkt, bestimmt, fordernd, glaubwürdig, demokratisch, durchsetzend, klug, Ubuntu." Das mag naiv klingen, utopisch. Doch sie sind zuversichtlich: Bei der Stuttgarter OB-Wahl soll ihre Utopie konkret werden. "Politik soll auch Spaß machen", sagt Wolfram Bernhardt. Die Meisterbürger wollen viel.

Sie schielen nicht nach großen Namen, und sie haben keine Angst vor großen Aufgaben. "Man kann fast jeden Job lernen", sagt Christian Maria Mäntele. Das hat nicht zuletzt der Protest gegen Stuttgart 21 gezeigt. Schnell und effizient haben sich Bürger eingearbeitet in diffizile Themen wie Kurs- und Baupläne, Genehmigungsverfahren, Architektur, Stadtplanung, Artenschutz. "Wir warten nicht auf den Heilsbringer", sagt Wolfram Bernhardt. Die Meisterbürger – das sind alle.

Entstanden ist die Idee im Herbst 2011 im Stuttgart-Salon von Katrin Steglich. Die 40-Jährige, die sich beruflich mit vernetztem Lernen beschäftigt, diskutiert in diesem Salon mit Gleichgesinnten, die aus dem Stuttgarter Aufbruch eine Perspektive für die Zukunft entwickeln wollen. Gemeinsam suchen sie Antworten auf die Fragen: Wer ist Stuttgart? Was bedeutet das für die Menschen, die hier leben? Was bedeutet das für Kinder in der Stadt? Die gebürtige Südafrikanerin will Stadt neu denken und die Zukunft gestalten. Darüber macht sich Christian Maria Mäntele, 42, auf seiner Plattform "Wessen Zukunft – unsere Zukunft" ebenfalls Gedanken. Und auch Wolfram Bernhardt, mit 28 Jahren der Jüngste der Runde, im Brotberuf Unternehmensberater und aus Leidenschaft Mitarbeiter der philosophischen Zeitschrift "Agora 42", will der geballten Bürgerkompetenz ein Forum geben. "Bürger, wie meistern wir unsere Stadt?", fragen sie auf ihrer Plattform. Um Antwort wird gebeten.

Sie suchen nicht den Heilsbringer, sondern den engagierten Bürger

Sie haben Kontakt zu verschiedenen Initiativen in der Stadt aufgenommen. Sie wollen alle ansprechen und sind deshalb ängstlich bemüht, erst Namen zu nennen, wenn deren Mitwirken sicher ist. Sie haben mit Hannes Rockenbauch von SÖS (Stuttgart Ökologisch Sozial) gesprochen und ihre Fühler zu den AnStiftern ausgestreckt. Ob liberal, konservativ oder fortschrittlich – sie wollen am liebsten alle für ihre Idee begeistern. Und sie stehen am Anfang.

Seit vergangenen Herbst treiben sie ihr Projekt voran. Fast jede Minute ihrer Freizeit geben sie hinein. Was treibt diese drei Traumtänzer an? "Mir passt manches nicht", sagt Mutter Katrin Steglich. Etwa, dass kaum einer sich Gedanken über die neue Arbeitswelt macht. "Mir passt nicht, dass die Ökonomie zum Selbstzweck geworden ist und kein Politiker sie versteht", sagt Wolfram Bernhardt, der aus diesem Grund BWL studiert hat. "Mir passt nicht, dass Bürger nur Bittsteller sind", sagt Christian Maria Mäntele, der Politik, Soziologie und Psychologie studiert hat, "um den Einzelnen, die Gruppe und das System zu verstehen." Sie suchen nicht den Heilsbringer, sondern den engagierten Bürger, den stillen Helden. Sie suchen ihn in Stuttgart, weil sie sich im Moment keine spannendere Stadt vorstellen können. Die OB-Wahl ist ihr Zugpferd, um ihr Politikverständnis zu vermitteln und um es zu leben.

Noch kämpfen sie mit der Technik, noch wissen sie nicht, ob sie überhaupt einen Kandidaten finden werden, der sich eignet. Wenn alles klappt, wollen die Meisterbürger ihren Bürgermeister gemeinsam mit den Parteikandidaten von den Bürgern befragen lassen. Und im September, so der Plan, wird sich der Bürgerkandidat der Wahl stellen. In Reykjavik ist der Traum Wirklichkeit geworden. In Nürtingen hat es fast geklappt. Und falls der Stuttgarter Bürgerkandidat gewinnen sollte, muss er oder sie ja nicht alles machen wie Jón Gnarr. Der ließ sich nach der Wahl das Stadtwappen von Reykjavik in den Arm tätowieren.

Drei Meisterbürger:

Katrin Steglich, 40, arbeitet als Selbständige im Bereich Lernen. Die 40-Jährige ist in Südafrika aufgewachsen, hat Software-Entwicklung in Pretoria studiert und lebt seit 16 Jahren mit Kind in Stuttgart. Der Soziologe Frithof Bergmann hat den Nerv der Selbstständigen getroffen, als er die Entwicklung der Arbeit zum Thema machte. Und die eigenen Erfahrungen als Mutter in Stuttgart taten es auch. "Ich sehe in der Politik keine Vorbereitung darauf, was sich in der Welt ändert", sagt Steglich.

Wolfram Bernhardt, 28, hatte schon als Abiturient eine "Idee von einer Welt, in der ich leben will". Er studierte Betriebswirtschaftslehre, um zu verstehen. "Ich wollte kein ökonomischer Analphabet sein", sagt der Mann mit der schwarzen Brille. Er arbeitet freiberuflich als Unternehmensberater und hat während der Finanzkrise die Zeitschrift "Agora 42" mitgegründet, die von dem Philosophen Richard David Precht herausgegeben wird.

Christian Maria Mäntele, 42, hat sieben Vornamen, weil sich seine Mutter nicht entscheiden konnte. Er arbeitet als Unternehmensberater, was den Politologen jahrelang ausschließlich gefordert hat. Mit dem Aufbruch bei Stuttgart 21 wurde sein politisches Interesse wieder wachgekitzelt. Auslöser war der Gesprächskreis "Unsere Zukunft". Seitdem fressen die Meisterbürger jede seiner freien Minuten.


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2 Kommentare verfügbar

  • Notizenmacher
    am 27.02.2012
    Antworten
    Super Initiative, die ich ebenfalls gestartet hätte. Ich halte z.B. E. v. Loeper für einen aussichtsreichen Kandidaten, habe ihn aber noch nicht angesprochen dafür. Den schlage ich vor.
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