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Sport und Mord

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"Wieviel muss noch geschehen, damit gefährdete Menschen nicht mehr in Versuchung kommen?" Das fragte Bundespräsident Horst Köhler 2010, ein Jahr nach dem Amoklauf von Winnenden mit 16 Toten. Jetzt, nach Hanau, stellt sich diese Frage einmal mehr. Denn dank der Waffenlobby hat sich seit 2009 wenig getan.

25 oder noch mehr Millionen Gewehre, Pistolen und Revolver gibt es in Deutschland. Nur knapp sechs Millionen davon sind registriert und in der Hand von rund einer Million erfassten Personen. Laut Nationalem Waffenregister (NWR) stehen etwa zweieinhalb Millionen der legalen Waffen bei JägerInnen im Schrank, eineinhalb Millionen bei SportschützInnen. Und ohne die Europäische Union (EU) samt der von ihr erlassenen Richtlinien zum Thema, das schon so lange nicht mehr umstritten sein dürfte, gäbe es überhaupt kein Register in Deutschland und schon gar keine strikteren Vorgaben. Diese werden am 1. September 2020 endlich in Kraft treten. "Ein Großteil der Neuregelungen", teilte der Bundesrat kurz vor Weihnachten mit, "geht auf EU-Vorgaben zurück." 

Überlang ist die Liste der Anlässe, nach denen Bund und Länder selber hätten aktiv werden müssen: 1999 vier Tote in Bad Reichenhall, 2002 vier Tote im Landkreis Freising, acht Wochen später 17 Tote am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt, 2006 an einer Schule in Emsdetten 16 Verletzte, 2009 in Winnenden und Wendlingen 16 Tote, 2010 in Lörrach vier Tote und 18 Verletzte, 2016 in München neun Tote, 2020 elf Tote in Hanau. Roman Grafe, der Journalist, der nach dem Blutbad in Winnenden die Initiative "Keine Mordwaffen als Sportwaffen" gründete, hat eine Liste von 250 Toten seit 1990 recherchiert und ins Netz gestellt. 

7.000 Beanstandungen in Baden-Württemberg

Grafe findet deutliche Worte. "Schon nach dem Schulmassaker in Erfurt hatten Bundesregierung und Bundestag ausreichend Zeit, den Besitz von tödlichen Waffen für den Schießsport zu unterbinden", heißt es in einem hundertfach und von vielen Prominenten unterzeichnen Aufruf, "wir brauchen kein halbherzig geändertes Gesetz, wir wollen ein Verbot von Mordwaffen als Sportwaffen – sofort." 2016 prognostiziert er bei einer Anhörung im Bundestag, dass die Mehrheit "wahrscheinlich wieder wirksame Verschärfungen ablehnen" werde. Den Preis "für diese anhaltende Ignoranz gegenüber menschlichem Leid müssen wieder andere zahlen". Und Grafe verweist ebenfalls darauf, wie der Kurs der EU in der Bundesrepublik regelmäßig unterlaufen wird.

Gerade die Debatte in Baden-Württemberg unterstreicht die Kräfteverhältnisse – seit Jahrzehnten. Manche Einlassungen sind gedankenlos, andere zynisch. Nur vier Wochen, nachdem der 19-Jährige Robert Steinhäuser in Erfurt, Mitglied im Schützenverein "Domblick", mit einer Glock und einer Pumpgun Lehrkräfte, Mitschüler, eine Sekretärin und einen Polizeibeamten ermordet hatte, hofft der Südbadische Sportschützenverband bereits "auf Normalität", so der damalige Vorsitzende Peter Bleich. Die seinerzeit diskutierten Beschränkungen, etwa für den Kauf und die Lagerung von Munition und die Anhebung der Altersgrenze für kleine Kaliberbereiche von 18 auf 21 Jahre, wurden mit einem geradezu irren Argument abgetan: In 50 Jahren hätten Mitglieder aus den Reihen des Verbandes fünf Weltmeister- und vier Europameistertitel errungen. Solche Erfolge würden bei weiteren Verschärfungen verunmöglicht. Die unterblieben dann aber ohnehin. 

2009 wurde die Altersgrenze für den sportlichen Umgang mit Großkaliberwaffen von 14 auf 18 Jahre angehoben. Im gleichen Jahr beklagten Lobbyisten das, was nach dem Amoklauf an der Winnender Albertville-Realschule auf den Weg gebracht wurde, als "rigide". Der Vater des Schützen Tim K. hatte Tatwaffe und Munition unverschlossen im Schlafzimmer liegen –  bei Verstößen gegen die Aufbewahrungsvorschriften drohen seither bis zu drei Jahre  Gefängnis. Unangekündigte Kontrollen wurden eingeführt. Deren Frequenz lässt allerdings zu wünschen übrig: Erst Ende 2017, also acht Jahre später, waren 94 Prozent der BesitzerInnen im Bundesland Baden-Württemberg kontrolliert. Sechs Prozent waren dabei  auffällig geworden. Das klingt nach wenig, ist aber mit 7.000 Beanstandungen in absoluten Zahlen bedrohlich. 

FDP-Mann Goll findet Vorgaben moralingetränkt

In zwölf Sitzungen befasste sich ein Sonderausschuss des Landtags mit den notwendigen Konsequenzen. Die Forderung der Hinterbliebenen-VertreterInnen, die Aufbewahrung von Schusswaffen in Privaträumen zu verbieten, schaffte es nur als Minderheitenvotum in den  Abschlussbericht von SPD und Grünen. Dabei hatte eine Emnid-Umfrage ermittelt, dass 78 Prozent der Deutschen sich genau dafür aussprachen. Sabine Kurtz (CDU) erläuterte die Zurückhaltung ihrer Fraktion natürlich nicht mit der Nähe zu JägerInnen oder zu Schützenvereinen, sondern damit, dass der Zugang zu Waffen nicht "allein ursächlich für Amoktaten ist". Hagen Kluck (FDP) nannte Verbote sogar "die am stärksten überschätzte Stellschraube, die Millionen erwachsener Menschen in ihrer Freiheit ungerechtfertigt einschränken würde". Und er ließ die Öffentlichkeit wissen, dass "man mit Gesetzesverschärfungen etwas suggerieren würde, was es nicht gibt, nämlich einfache Erklärungen für solch unfassbare Gewalttaten an Schulen". 

An dieser Geisteshaltung hat sich bei den Liberalen bis heute wenig geändert. "Wenn wir uns im Land umschauen, dann finden wir in den Dörfern – aber nicht nur dort – die Schützenhäuser, die wie das Rathaus, die Schule und die Kirche zur Infrastruktur dieses Landes gehören", sagte der frühere FDP-Justizminister Ulrich Goll im vergangenen Herbst bei einer Landtagsdebatte über die von der Großen Koalition in Berlin geplanten Gesetzesnovellen. Weitere Veränderungen brächten keinen Sicherheitsgewinn, meinte er zu wissen. Und fügte noch eine besonders schräge These hinzu: Mit einer Regelanfrage beim Verfassungsschutz werde "Schützen und Jägern eine generell erhöhte Bereitschaft attestiert, verfassungsfeindliche Aktivitäten zu begehen". Die neuen Vorgaben seien für ihn "ein Ausdruck einer besserwisserischen, manchmal auch moralingetränkten und meist auch verstandesabstinenten politischen Kultur".

Viel Beifall gab’s für diese Einlassungen von der AfD-Fraktion und Zustimmung von CDU-Abgeordneten. Gerade in Schützenvereinen werde "sehr gute Arbeit geleistet", findet  Thomas Blenke. Denn, so der CDU-Abgeordnete aus Calw, junge Menschen lernen, "verantwortungsbewusst mit gefährlichen Gegenständen wie einer Waffe umzugehen". Eine zustimmende Mitverantwortung für die Verschärfungen mochte er, trotz der Zuständigkeiten der Länder, eher nicht mittragen: "Dieser Gesetzentwurf der Bundesregierung dient zuvorderst der Umsetzung der EU-Feuerwaffenrichtlinie vom Mai 2017." 

CDU-Strobl liebt die Schützen

Kein Geringerer als Baden-Württembergs Innenminister argumentiert allerdings anders. "Wir stehen zum Brauchtum, wir stehen zu den Schützen in unserem Land, wir stehen zum Sport, denn dabei handelt es sich ganz, ganz, ganz überwiegend um rechtschaffene und gesetzestreue Bürger, und in unserer Liebe und Hingabe zu ihnen lassen wir uns von niemandem übertreffen", betont Thomas Strobl (CDU). Allerdings verteidigte er eine Verkürzungen der Kontrollfristen auf fünf Jahre, die Ausweitung von Bedürfnisprüfungen oder die Einführung der Regelanfrage beim Verfassungsschutz in der  einschlägigen Landtags-Debatte leidenschaftlich gegen KritikerInnen aus den eigenen Reihen: "Meine sehr verehrten Damen und Herren, Waffen sind keine Spielgeräte, auch legal erworbene nicht." Er empfehle "einen Ausflug nach Winnenden, und zwar anlässlich des entsprechenden Jahrestags, um dort mit den Betroffenen zu reden". 

Wie richtig und notwendig, die Umsetzung der nach den Anschlägen von Paris und Brüssel erlassene EU-Richtlinie ist, beweist nicht zuletzt die Reaktion auf Lobby-Seiten im Netz. "Man muss von nicht weniger reden als dem ‚absoluten Super-GAU‘, der sich für alle Legalbesitzer durch den Kompromiss der Großen Koalition ergibt", heißt es bei all4shooters.com. Problematisiert wird neben den neuen Kontrollen und der Ausweitung des Nationalen Registers, das Verbot von Magazinen mit über zwanzig Schuss für die von Kurz- und über zehn Schuss für die von Langwaffen. "Uns hängt die Beratungsresistenz der Politiker bei dem Punkt zum Hals heraus", schreibt Matthias Recktenwald, Chefredakteur des Magazins "Visier". Dennoch wolle er noch einmal deutlichen machen: "Magazine sind für Schützen Verbrauchsmaterial, die Dinger gehen, gerade bei intensivem Gebrauch, schon mal kaputt, also bevorratet jeder, der viel schießt." 

In Winnenden und Wendlingen werden 113 Hülsen und 172 ungenutzte Patronen gefunden. Aus den Gerichtsakten geht hervor, dass der Schüler wenige Wochen vor der Tat tausend Schuss in einem Laden in Stuttgart kaufte. Und eine Erklärung für die hohe Zahl hatte er auch parat: Es handle sich um ein Geburtstagsgeschenk für seinen Vater. 

Empfehlungen ohne Folgen

Zwei NSU-Untersuchungsausschüsse des baden-württembergischen Landtags haben Dutzende Empfehlungen an die Landesregierung ausgesprochen: von der verstärkten Prävention gegen die Gefahren rechtsextremer Musik an Schulen bis zur gezielteren Zusammenarbeit der Behörden mit Blick auf rechtsextreme Tendenzen, von der Sensibilisierung der Einsatzkräfte bis zur Intensivierung der Forschung. Letztere war festgeschrieben im Punkt 25 des im Dezember 2018 präsentierten Abschlussberichts des zweiten Ausschusses: "Die Landesregierung möge prüfen, eine ordentliche Anlaufstelle für die Erforschung und Dokumentation rechtsextremistischer Strukturen zu schaffen. Diese sollte an einer Hochschule in Baden-Württemberg angesiedelt sein. Aufgabe wäre ebenfalls die Sammlung, Auswertung und Zurverfügungstellung von Materialien und Wissen zum Thema Rechtsextremismus sowie die begleitende wissenschaftliche Erforschung von Entwicklungen und Prävention in diesem Bereich."

Dass nichts folgte, ist symptomatisch für den Umgang mit vielen Empfehlungen. Jetzt musste die SPD-Fraktion im Landtag Innenminister Thomas Strobl (CDU) daran erinnern. "Ein universitäres Institut zur Erforschung und Einordnung rechtsextremistischer Strukturen", so der SPD-Innenexperte Boris Weirauch, "könnte mit Hilfe Künstlicher Intelligenz Algorithmen entwickeln, um rechtsradikale Gefährder frühzeitig zu identifizieren". Menschen, die bereits wochen- oder auch monatelang im Netz aktiv seien "und auf mögliche Taten direkt oder indirekt hinweisen, könnten festgesetzt werden, bevor sie zur Tat schreiten können". Es sei bekannt, dass Strobl die Trennung von Verfassungsschutz und Forschung nicht wolle: "Von diesem Denkmuster muss er sich aber spätestens nach dem Terroranschlag in Hanau verabschieden, um eine bestmögliche frühzeitige Gefahrenbekämpfung gewährleisten zu können." Eine Kontext-Anfrage zum Stand der Dinge möge man ans Wissenschaftsministerium stellen, empfahl die Strobl-Behörde.  (jhw)


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3 Kommentare verfügbar

  • Julian K.
    am 27.02.2020
    Antworten
    Ernsthaft? Eine vom "Verein für ganzheitlichen Journalismus" herausgegebene Zeitung betrachtet das Thema schwerer Gewalttaten ausschließlich aus dem Blickwinkel der dafür verwendeten Waffen und stellt sich dann in der Abwägung Freiheit vs Sicherheit zu 100% auf die Seite der Sicherheit. Bravo, sehr…
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