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Klassenkampf

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Baden-Württemberg ist auf Zeitreise in die bildungspolitische Vergangenheit. Die Liberalen, viele Lehrkräfte und verunsicherte Eltern träumen von einfachen Lösungen. Und Kultusministerin Susanne Eisenmann wirft frühere Überzeugungen über Bord – aus machttaktischen Gründen.

Die Zukunftsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen steht auf dem Spiel. Wenn es stimmt, dass Schule für das Leben 4.0 vorbereiten muss und damit für lebenslanges Lernen. Es geht ums große Ganze, die Entwicklung von Fähigkeiten, die heute Skills heißen, auf Veränderungen richtig zu reagieren. Es geht um gesellschaftspolitisches Handwerkszeug, soziale Kompetenzen und Streitkultur. Da kann es nur absurd sein, nach der Rückkehr zu Verhältnissen zu rufen, in denen für noch mehr Kinder schon mit zehn Jahren die entscheidenden Weichen für die weitere Laufbahn gestellt werden.

Schule ist ohnehin kein kleines Thema in vielen Familien und aktuell ein großes unter ViertklässlerInnen. In diesen Tagen wird die Halbjahresinformation ausgeteilt, früher Zeugnis genannt, und damit die unverbindliche Grundschulempfehlung. Mit ihr sind entweder alle Beteiligten zufrieden und die Kinder gehen an die Schule ihrer Wahl. Oder es bleibt Eltern vier Tage Zeit, das "Besondere Beratungsverfahren" zu beantragen. Die Hürde wirkt abschreckend, und das soll sie auch. Die ganze Prozedur ist aufstiegshemmend, weil Mütter und Väter aus bildungsferneren Schichten seltener darum kämpfen, dass trotz oder nach dieser besonderen Beratung, wie es in den Merkblättern so schön heißt, "die Entscheidung über die Schulwahl allein Ihnen überlassen bleibt".

Seit 2000 und der ersten PISA-Studie ändert sich nichts an der viel zu großen Abhängigkeit der Schulkarriere von der Herkunft der Eltern. Baden-Württemberg akzeptiert die rote Laterne in zahlreichen Vergleichen. Zuerst haben CDU und FDP herumgedoktert am System und viele Millionen Euro verbrannt in Förderungsprogrammen oder zur Rettung der Hauptschule. Dann wagten Grüne und SPD den lange überfälligen Schnitt. "Vielfalt macht schlauer", hieß einer der griffigen Slogans, gegen den die RealitätsverweigerInnen Sturm liefen. Eisenmann gehörte ausdrücklich nicht dazu, bekannte sich zur neuen Gemeinschaftsschule und argumentierte, dass "mit den Füßen abgestimmt wird". Sie sehe ja, sagte die Stuttgarter Schulbürgermeisterin noch 2016 zum Amtsantritt als Kultusministerin, dass Eltern ihre Kinder "lieber an Gemeinschafts- als an Werkrealschulen schicken".

Es geht um Macht-, weniger um Schulpolitik

Neue Zeiten in der ideologieüberladenen Bildungsdebatte schienen überm Horizont heraufzuziehen. Weg von der frühen Selektion und hin zur Förderung. Zumal sich nicht nur die Bundes-CDU, sondern sogar der Landesfachausschuss Bildung und der Parteivorstand im Südwesten "mittelfristig" auf "ein Schulsystem mit dem Gymnasium einerseits und einer Schule mit Haupt- und Realschulabschluss und weiteren Anschlussmöglichkeiten andererseits" verständigt hatten. Aber der Wind drehte sich. Für Baden-Württemberg wurde die vorsichtige programmatische Öffnung Makulatur, weil Eisenmann schnell erkannte, dass sie ohne die Hardliner in der Landtagsfraktion ihre Ambitionen auf eine Spitzenkandidatur 2021 einpacken kann. "Es geht nicht um Schul-, es geht nur noch um Machtpolitik", sagt Ulrike Felger vom Verein für Gemeinschaftsschulen.

Also wird die Schraube weiter zurückgedreht. Seit vergangenem Jahr muss die Grundschulempfehlung wieder vorgelegt werden in der neuen Schule. Die Grünen nickten die entsprechende Gesetzesänderung ab. Inzwischen drängt Eisenmann zu noch strikteren Regelungen. Landauf, landab gefragt als Rednerin bei CDU-Neujahresempfängen, lässt die Ministerin keine Gelegenheit aus, um alte Stereotype zu bedienen. Immer gut macht es sich, Bayern als Vorbild zu erwähnen, weil nur Fachleute wissen, was es bedeuten würde, sich wirklich am aufwändigen Modell der dortigen "Laufbahnempfehlung" zu orientieren.

Die FDP stilisiert die Rückkehr zur vollen Verbindlichkeit sogar zur Koalitionsvoraussetzung und verlangt ein "vielgliedriges, differenziertes Schulsystem". Ganz unverhohlen erfüllt sie die Interessen ihrer konkret gar nicht so liberalen Klientel mit dem Ruf nach der Bildung homogener Klassen "aus Schülern mit vergleichbaren Begabungen und Leistungsvoraussetzungen". Im Klartext: Tatsächlich oder nur vermeintlich schwächere SchülerInnen, also auch solche mit migrantischem Hintergrund oder wenig ambitionierten Elternhäusern, von Kinder mit Beeinträchtigungen ganz zu schweigen, haben an weiterführenden Schulen von Anfang an beschränkten Zugang. Als zählten nicht Heterogenität und das Bemühen, ihre mannigfaltigen Vorzüge zu nutzen, zu den großen Herausforderungen der Zukunft.

Konservative mögen's homogen

Und wenn schon homogen, müssen sich alle AnhängerInnen des Roll-Back fragen lassen, warum dann eigentlich nicht richtig: Warum diskutiert niemand über die Abkehr von der Koedukation? Studien stapeln sich dazu, dass hehre Ziele verfehlt wurden und beispielsweise Geschlechterrollen nicht aufgebrochen wurden. Oder wie Mädchen zu wenig profitieren von besseren Leistungen und höheren sozialen Kompetenzen. Oder zur Verunsicherung von Jungen, weil sie sich nur oder allzu vielen Lehrerinnen gegenübersehen. Dennoch wären alle Forderungen nach einer Rückkehr zur Monoedukation chancenlos, weil die Entwicklung einfach darüber hinweggegangen ist.

Über mehrgliedrige Schulsysteme ebenso. Aber die haben eine unermüdliche Lobby. Für die Arbeitsgemeinschaft der Realschulrektoren im Land leistet ihr Vorsitzender Holger Gutwald-Rondot regelrecht den Offenbarungseid, wenn er sagt, dass "jeder zehnte Realschüler definitiv" nicht dorthin gehöre. Obendrein habe etwa ein Viertel der Kinder in den Realschulen nicht die passende Empfehlung. Wer rechnen kann, ist im Vorteil und begreift, dass der größere Teil der Viertklässler vom Wegfall der Schubladisierung profitiert und sehr wohl bessere Abschlüsse erreichen kann als am Ende der Grundschule gedacht.

Ohnehin zeigen nackte Zahlen, wie fehlgeleitet die ganze Debatte läuft. 2012, vor Aufhebung der Verbindlichkeit, besuchten 89 Prozent der Gymnasialkinder ihre Schule auf Basis der Empfehlung. Sieben Jahren später und ohne Verbindlichkeit sind es 88,5 Prozent. Nur ein einziges kleines Prozent der Eltern von Schülern und Schülerinnen mit Haupt- oder Werkrealschulempfehlung wagt den Sprung ins Gymnasium. Und der Bildungsaufstieg in Gemeinschaftsschulen funktioniert so: Nach den Zahlen von anno 2018 sind 47 Prozent der Absolventen in der Fünften mit einer Hauptschul-, 37 Prozent mit einer Realschul- und 16 Prozent mit einer Gymnasialempfehlung gekommen. Tatsächlich machten exakt zwei Drittel der erfassten Jugendlichen ihren Realschulabschluss. "Überzeugend" nennt das die Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Bildung (GEW) Doro Moritz. Anstatt dafür aber "offensiv zu werben", wolle Eisenmann zurück in eine längst überholte Bildungslandschaft und Heterogenität "unbedingt vermeiden".

Dank Vielfalt klüger werden

Dabei kommen SchülerInnen aus vier Jahren großer Heterogenität, weil die Grundschule gar nicht anders kann als in Vielfalt schlauer zu machen. Und sie werden in noch größere Heterogenität entlassen, wenn sie ihren Weg durchs Studium oder in die Arbeitswelt suchen. In einer Analyse für die Bundeszentrale für politische Bildung befasst sich der Flensburger Professor Jürgen Budde mit der Bedeutung der Heterogenität, mit den Chancen und Möglichkeiten sogar von jahrgangs- und fächerübergreifendem Unterricht. Der bedürfe "besonderer didaktischer und sozialer Kompetenzen der Lehrpersonen, die allerdings in der Lehrerbildung noch wenig gefördert werden."

Gerade da hakt es aber gewaltig unter der Ägide der CDU. Vor fast drei Jahren stellte Eisenmann ihr neues Qualitätskonzept vor, dessen einer Eckpfeiler das Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) ist. Das sei zum 1. März 2019 eingerichtet, heißt es auf der Internetseite des Kultusministeriums lakonisch. Das Gesetz zur Umsetzung des Qualitätskonzepts ist in Kraft, Papier aber geduldig und die Materie komplex. Vor allem die Weiterbildung hängt fest in der Umstrukturierung nach äußeren Malaisen – ein Wasserschaden und Legionellen – aber eben auch, weil es viel schwieriger als angekündigt ist, eine neue Behörde zum Laufen zu bringen. In der Öffentlichkeit verfangen unverändert einfache Botschaften und "der imposante Tatkraft simulierende Aktionismus der Ministerin", so Rektor Matthias Wagner-Uhl, der auch Vorsitzender des Vereins der Gemeinschaftsschulen ist.

Besonders schlägt zudem zu Buche, dass es traditionell eine Vielzahl von Baustellen gibt, darunter der notorische Unterrichtsausfall. Weil Ressourcen so knapp sind, entwickeln die Eltern jener Kinder, die ordentlich mitkommen, in der Regel wenig Elan, sich für die Unterstützung schwächerer MitschülerInnen stark zu machen. Statt deren Solidarität einzufordern, ermuntern viel zu viele Bildungsexperten von CDU und FDP dazu, die Ellenbogen auszufahren, nach dem alten naiv-neoliberalen Motto: "Wenn alle an sich denken, ist an alle gedacht." Zukunfts- und schlussendlich demokratiefest geht jedenfalls anders.


Wie Gemeinschaftsschule geht, hat Eisenmanns eigenes Ministerium gut auf den Punkt gebracht – mit einem Erklärvideo, das auch die Ministerin noch einen Deut schlauer machen könnte:


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2 Kommentare verfügbar

  • Markus Ludwig
    am 08.02.2020
    Antworten
    Ein sehr treffender Artikel, der das Elend der derzeitigen Schulpolitik auf den Punkt bringt. So manches könnte noch ergänzt werden - von der unsinnigen "Stärkung" der Realschulen (wofür braucht es die eigentlich noch?) bis hin zum gesellschaftlichen Skandal, dass die Gymnasien sich als (zahlenmäßig…
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