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S 21 – wie es so weit kommen konnte

S 21 – wie es so weit kommen konnte
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Am 2. Februar jährt sich der Baubeginn von Stuttgart 21 zum zehnten Mal. Arno Luik hat in seinem Buch "Schaden in der Oberleitung" das komplette Desaster der Bahn nicht nur rund um S 21 auf den Punkt gebracht. Ein Kommentar.

Rückblende: Stuttgart 2010

Ein warmer Frühsommertag, in der Eingangshalle des Stuttgarter Rathauses steht ein grauer, hagerer Mann. Er will Stuttgart 21 – koste es, was es wolle, darin liege die Zukunft der Stadt, des Landes, und deshalb wippt Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU) jetzt immer wieder mit den Knien. Denn er steht auf einem riesigen Foto von Stuttgart, der Blick geht vom Bahnhof auf die große Gleisanlage, es ist ein Wackelbild, und wenn man in die Knie geht, kippt das Foto, man sieht plötzlich die Zukunft der Stadt, so wie Schuster sie haben möchte: Der alte Bahnhof, der viele Jahrzehnte lang das Wahrzeichen der Stadt war, ist nur noch ein Torso. Die Gleisanlagen sind verschwunden. Man sieht etwas Grün, alles ist sauber, quadratisch, steril, über den ehemaligen Gleisanlagen wuchtige, klobige Gebäudekomplexe aus Glas, Beton, Stahl. Als der OB meinen erschreckten Blick auf diese Bauklötze bemerkt, sagt er schnell: "Das sind nur Modelle. Das wird viel schöner."

Wenn man den Bürgermeister über seiner Stadt so wippen sieht, wird klar, um was es ihm bei S 21 vor allem geht: Da ist die Freude, ganz große Dinge tun zu dürfen. Er freut sich sehr, dass er Spuren legen kann, die keiner verwischt, Spuren für die Nachwelt. Seine Worte: Die größte Baustelle Europas, eine neue Stadt gestalten, das ist eine Jahrhundertchance – wie ein Kind freut er sich, am ganz, ganz großen Rad drehen zu können.

S 21 – das ist viel faszinierender, als eine Kita oder ein Altersheim einzuweihen. S 21 ist großer Auftritt, große Bühne, ist Tagesschau, nicht Landesschau. Ist Pyramide, nicht Einfamilienhaus.

Ein paar Stunden später an diesem Frühsommertag traf ich den damaligen S-21-Projektsprecher Wolfgang Drexler in seinem S-21-Büro im sechsten Stock eines hässlichen Betonbaus oberhalb des Bahnhofs. Blick über die Stadt, Blick auf den Bahnhof. Mit großer Geste zeigte Drexler, der damals nebenher auch noch stellvertretender Landtagspräsident war, auf das riesige Gleisfeld, er packte mich am Ärmel: "Mensch, des muss man doch einseha, des muss ma doch macha, des isch a Chance, mir kriaged viel Geld dafür, mir wäred ja blöd, wenn mir des Geld ned nehma däded, jahrelang hend mir en der Länderfinanzausgleich eibezahld!"

Der SPD-Genosse war völlig euphorisiert. Seine Worte waren wie Schusters Worte und wie die von Bahnchef Grube im fernen Berlin, sie waren wie die Slogans aus den S-21-Werbeprospekten: Zukunft. Magistrale. Anschluss an Europa. Stuttgart – das neue Herz Europas!

"Kerle, des isch a Riesaschas!"

Lust am Machtausüben

Ich habe in meinem Leben als Journalist viele Politiker getroffen, aber in Sachen S 21 bin ich auf Politiker und Manager gestoßen wie sonst nie: Menschen, die total angefixt sind von dem, was sie durchsetzen wollen und durchsetzen können. Macht ausüben. Etwas bewegen. Großes schaffen. Gestalten. Geradezu berauscht waren sie. Wie auf Droge. S-21-Junkies. Talibans der Moderne. Unerreichbar für Argumente. Eiferer – frei von Zweifel.

Und dieses Keinen-Zweifel-Haben macht sie außerordentlich stark. Es macht sie so stark, dass sie es schafften, ihre Parteien, ihre Kommunen, ja, ein ganzes Land in Geiselhaft zu nehmen und eine rationalere Verkehrspolitik zu verhindern.

Keine Zweifel, die stark machen – das mag merkwürdig klingen, aber das habe ich bei meinen Recherchen in Stuttgart und Berlin gelernt: Die Verantwortlichen haben wenig Ahnung von den Details, den Problemen und Schwierigkeiten von S 21, es interessiert sie einfach nicht, was für potenzielle Risiken ein Bau von wahrhaft pharaonischen Ausmaßen haben könnte.

Stuttgarts Bürgermeister Wolfgang Schuster wusste beispielsweise nichts über das gefährliche Gefälle des Bahnsteigs, wusste nichts über die vielen Ausnahme- und Sondergenehmigungen, die für S 21 nötig sind, die zu engen Tunnel, den fehlenden Brandschutz, er sagte nur: "Die Bahn hat schon mehrere Bahnhöfe gebaut, das wird klappen".

Auch Bahnchef Rüdiger Grube kannte wohl wichtige, kritische S-21-Gutachten nicht, und wenn er mit ihnen konfrontiert wurde, sagte er nur: "Ich hab Vertrauen in meine Ingenieure."

Egogetriebene Manager

Ich lernte bei meinen Gesprächen mit den Machern und Verantwortlichen von Stuttgart 21 auch Dinge, die ich gar nicht lernen wollte: Ich, und auch Sie vermutlich, denke länger über den Kauf und den Preis von ein paar Schuhen nach: Passen sie, muss ich sie unbedingt haben, sind sie wirklich bequem? Wir denken länger und sorgfältiger über so relativ kleine Ausgaben nach als die Politiker, die zig Milliarden Euro vergraben.

S 21: Überehrgeizige Politiker und egogetriebene Manager setzen sich für enorm viel Geld ein Denkmal – allerdings ohne die Kosten ehrlich aufzuzeigen. Der Bürger muss überall sparen, Agenda 2010, Hartz IV, Schulbäder werden geschlossen, der Bildungsetat wird gestutzt, aber da wird geklotzt. Milliarden für einen katastrophalen Kellerbahnhof. S 21 – kann man also auch sehen als ein Symbol für die zunehmende soziale Ungleichheit im Land.

Vielleicht würde kein Mensch mehr über S 21 reden, wenn da nicht Kanzlerin Angela Merkel wäre. Sie ist die wichtigste Figur in dieser traurigen S-21-Geschichte, was nicht auffällt, weil sie so ruhig und zurückhaltend ist, und sie hat in der S-21-Sache ja bisher nur wenige Sätze gesagt.

Dabei hat S 21 Streit in ihre Familie gebracht. Ihr Vater war dagegen, ihr Bruder ist dagegen, ihre Cousine in Stuttgart kämpfte lange bei den Parkschützern, die seit vielen Jahren den Widerstand gegen S 21 mitorganisieren. Streit in der Familie, Streit überall.

Mitte September 2010 erklärte die Kanzlerin in ihrer Regierungserklärung, Stuttgart 21 müsse unbedingt gebaut werden, sonst sei Deutschland unregierbar, man brauche S 21 unbedingt, an dem unterirdischen Bahnhof entscheide sich "die Zukunftsfähigkeit des Landes". Bei einer Rede vor dem Bundesverband der Deutschen Industrie legte sie nach: "Wenn dieses Projekt nicht realisiert würde, würde das dazu führen, dass wir nicht mehr als verlässlich gelten. Wenn ich als Bundeskanzlerin auf europäischer Ebene sage: ‚Weil bei uns so viel protestiert wurde, können wir leider das, was wir versprochen haben, nicht mehr einhalten‘, dann kommt morgen mein griechischer Kollege und sagt: ‚Weil bei uns so viel protestiert wird, kann ich die Stabilitätskultur nicht mehr einhalten.‘"

Und so wird geklotzt, Bedenken werden ausgeblendet, stattdessen heißt es apodiktisch: Das muss sein. Wenn es nicht kommt, dann verliert die Stadt, die Region, dann verlieren wir den Anschluss an Europa. Wir werden abgehängt von der Moderne! Mit solchen Parolen wurde und wird S 21 verkauft.

Der Arm von Daimler-Benz

1994 fragen die Bahn und ihre Berater bei einem der größten Bankhäuser der Republik um Kredite für S 21 nach. Ihr Pech: Sie kamen an einen Finanzmanager, der sich die S-21-Unterlagen genau anschaute. Der Befund des Bankiers, der hier nicht genannt werden möchte, damals: "Das ist eine Mogelpackung, die Sie uns hier präsentieren. Sie rechnen sich wirtschaftliche und verkehrliche Vorteile aus, die es nicht geben wird, das funktioniert so nicht. Ich sagte denen überaus deutlich, weil mich das Projekt so aufgeregt hat, was ich von dem Ganzen hielt: Das ist einfach Unsinn!"

Der Spitzenbanker bekam damals, wie er im Blick zurück sagt, "einen tierischen Einlauf von meinen Oberen". Der Grund: einerseits sage man in diesen Kreisen so etwas Negatives nicht offen und direkt zu potenziellen Kunden. Anderseits habe er "den langen Arm der Daimler-Benz AG unterschätzt". Daimler verfolgte damals das Konzept des "integrierten Konzerns", kaufte sich in alle möglichen Industriesparten ein, stieg kurzfristig – heute fast vergessen – zum weltweit größten Anbieter von Schienenverkehrstechnik auf.

Daimler war ein sehr wichtiger Partner für die Bahn, nicht bloß bei S 21, und verfolgte auch stets seine eigenen strategischen Interessen als Automobilkonzern. Der Bankier erinnert sich an einen Satz eines führenden Daimler-Managers: "Wir spielen hier mit, aber wenn die Bahn wirklich richtige Marktanteile gewinnen sollte, dann werden wir schon aktiv werden, um dies zu verhindern."

Ist S 21 also ein wichtiges Element in einem ganz üblen Spiel in diesem autoverrückten Land? Einerseits verdient man selbst als Autokonzern an der Bahn wahnsinnig viel Geld, anderseits sorgt man subtil dafür, dass diese Bahn nicht wirklich wettbewerbsfähig wird. Verrückt – dieser Gedanke?

Verschweigen, vertuschen, lügen – nach US-Vorbild

So etwas hat es schon mal gegeben – in einer ganz rabiaten Variante. Vergessen ist heute, dass Los Angeles in den 1920er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein hervorragendes, ein riesiges S-Bahn-Netz hatte, dass es damals – ganz anders als heute – in 45 Großstädten der USA optimal funktionierenden öffentlichen Nahverkehr gegeben hat. Zigtausend Schienenkilometer wurden dann nach und nach durch die Autofirmen systematisch zerstört. Als Großer Amerikanischer Straßenbahnskandal (General Motors Streetcar Conspiracy) ist das in die Verkehrsgeschichte eingegangen: Zwischen 1930 und 1956 kauften die US-amerikanischen Autofirmen unter Führung von General Motors (die hatten dafür sogar eine spezielle Abteilung) Bahn- und Straßenverkehrsunternehmen im ganzen Land auf, um den Schienenverkehr stillzulegen, ihn durch Autos, Busse, Lastwagen zu ersetzen. Der Plan ging auf. Die Zahl der Straßenbahnfahrzeuge verringerte sich in der Zeit von 37.000 auf 5.300.

Passiert so etwas Ähnliches in Deutschland? Schaut man etwa auf S 21, fällt auf, dass dieses Unterfangen den Schienenverkehr massiv behindert und einschränkt. Eine Tatsache, die die S-21-Befürworter bis vor Kurzem geleugnet und bestritten haben: Stuttgart 21 ist von Anfang an eine Geschichte der Schummelei und Geheimniskrämerei gegenüber den Bürgern, aber auch den Abgeordneten. Kritische Studien wurden ignoriert, Expertenwissen übergangen, unliebsame Dossiers für unwichtig erklärt oder gleich kassiert: etwa 2008 bei einer von der Landesregierung selbst in Auftrag gegebenen Studie von Schweizer Verkehrsexperten. Die sagte: S 21 ist verkehrspolitischer Unsinn, der genau das verhindert, was ihr mit S 21 angeblich wollt: mehr Verkehr auf der Schiene. Auch eine Studie des Umweltbundesamtes, das die Aussage der Schweizer bestätigte, wurde hinweggewischt.

Selbst interne Analysen, wie etwa das sogenannte "121 Risiken-Papier" des damaligen S-21-Projektleiters Hany Azer, das ich im Frühjahr 2011 an die Öffentlichkeit brachte, wurden ignoriert: Azer hatte darin detailliert aufgelistet, dass seine Ingenieure die Sache nicht im Griff haben, dass alles unglaublich teuer wird und der Zeitplan nicht einzuhalten ist. Es war der Notruf: Stoppt das Ding! Kein Verantwortlicher wollte das aber hören. Stattdessen musste Azer, der kundige Kritiker, gehen.


Der Text ist ein Auszug aus Arno Luiks Buch "Schaden in der Oberleitung. Das geplante Desaster der Deutschen Bahn" (296 Seiten, 20 Euro, Westend Verlag).


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6 Kommentare verfügbar

  • Helmut Strenger
    am 02.02.2020
    Antworten
    „Der SPD-Genosse war völlig euphorisiert ....“ so Arno Luik.
    Das habe ich in der Manufaktur in Schorndorf vom Genossen Birzele auch erlebt:
    Ein glühender Verehrer von etwas was er für fortschrittlich und für eine „Zukunftshoffnung“
    hält. Also eine Begeisterung eines SPD-Genossen für S 21…
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