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NSU-Daten von Vernichtung bedroht

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Zehntausende Seiten zum NSU und darüber hinaus wurden vom Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) eingescannt und aufbereitet. Das hat die Präsidentin des LfV, Beate Bube, vor den Untersuchungsausschüssen geschildert. Jetzt sind diese digitalen Bestände von Löschung bedroht.

107 Seiten stark ist der Bericht, den der erste NSU-Untersuchungsausschuss 2016 von der damals neuen grün-schwarzen Landesregierung verlangte, weil er wissen wollte, was aus seinen Empfehlungen geworden war. Im Kapitel elf findet sich ein brisanter Satz: "Nach Abschluss der Arbeiten der Untersuchungsausschüsse wird der eingescannte Aktenbestand aus dem Phänomenbereich Rechtsextremismus gelöscht werden." Seit bald einem Jahr ist die Arbeit abgeschlossen, alle MitarbeiterInnen mussten alle Dokumente löschen oder schreddern. Der Gesamtbestand lagert in der Königstraße. Der größte Teil in einem besonderen, ein kleiner Teil in einem ganz besonderen Raum. Denn alles, was als vertrauliche Verschlusssache eingestuft ist, bleibt grundsätzlich unzugänglich.

Für diese Bestände gelten die Regelungen aus der Vor-www-Zeit. Denn von jedem Untersuchungsausschuss seit Gründung des Südweststaats ist ein gesamter Satz vorrätig im Hauptstaatsarchiv. Mit allen NSU-Akten in Papierform wird ebenso umgegangen werden. Ein Zeitpunkt der Überstellung ist allerdings noch nicht festgelegt. Ebenfalls noch offen ist der Umgang mit den elektronischen Vorräten. Das Innenministerium verweist auf die Anfang des Jahres 2020 vorgesehene Veröffentlichung des Berichtes der Landesregierung zum zweiten Untersuchungsausschuss. Darin würden "die wesentlichen Abläufe (…) nochmals im Detail" nachzulesen sein.

Das Problem ist, dass sich zwei rechtsstaatlich sinnvolle und notwendige Erfordernisse gegenüberstehen, die einander ausschließen: Es geht ums Recht auf Vergessen und zugleich um möglicherweise künftige Ermittlungen. Immer wieder machte der Vorsitzende beider Ausschüsse, der frühere SPD-Fraktionsvorsitzende Wolfgang Drexler, auf die Bedeutung dieses Themas aufmerksam. So zum Beispiel als es um die Verbindungen von Florian Heilig zu Rechtsextremen ging – es gab ein Foto, auf dem er den rechten Arm hob. Ohne Schredder-Verbot wäre das Bild vernichtet worden.

Rückkehr zu gesetzlichen Löschfristen unwahrscheinlich

Bube berichtete, wie sie in ihrem Haus darauf bestanden habe, alle einschlägigen Akten zu behalten. Zugleich musste sie sich verteidigen, weil sie die entsprechende Anordnung erst im Sommer 2012 erlassen hatte. Es habe sich eben um eine "sehr weiträumige Maßnahme" gehandelt. In reichlich wolkigen Sätzen beschrieb sie das Vorgehen in den Wochen zuvor: "Es hat keine Vernichtungen gegeben, die hier tatsächlich nur annähernd eine Relevanz haben können, und insoweit würde ich das mit einem gewissen Unsicherheitsfaktor definitiv ausschließen."

Auch Andere wissen um die Problematik, vor allem im Umgang mit elektronischen Beständen. Sachsen-Anhalts Landesbeauftragter für Datenschutz Harald von Bose greift die komplexe Materie schon 2013 in seinem Tätigkeitsbericht auf. "Natürlich ist man verleitet festzustellen, dass die Aufklärung der Vorkommnisse durch den Untersuchungsausschuss Vorrang haben muss", steht da zu lesen, "die entsprechende Interpretation der bestehenden Rechtslage erscheint aber nicht zwangsläufig." Und von Bose erinnert daran, dass die personenbezogenen Daten grundsätzlich zu löschen seien, "wenn sie zum Zweck der Gewinnung von Erkenntnissen für den Bundestagsuntersuchungsausschuss oder für entsprechende konkrete Anfragen auf Landesebene nicht mehr benötigt werden". Für Sachsen hält der Datenschutzbeauftragte Andreas Schurig zugleich die Rückkehr zu den gesetzlichen Löschfristen für unwahrscheinlich. In Brandenburg und gerade in Thüringen will – nach den vielen Pannen, Fehlern und Ungereimtheiten – niemand ausschließen, dass nicht ein später brisant werdender Hinweis unter ein Vernichtungsgebot fallen könnten. Deshalb werden Entscheidungen immer wieder aufgeschoben.

"Aktion Konfetti" – gezielte Vertuschungsabsicht

In ihrem Abschlussbericht verlangen die Stuttgarter Abgeordneten, die sich im ersten Durchlauf mit den Verbindungen des "Nationalsozialistischen Untergrund" nach Baden-Württemberg befasst hatten, "die Digitalisierung der 'Altakten Rechtsextremismus' beim LfV unverzüglich zu vervollständigen". Störungen dieses Prozesses sollten "soweit möglich vermieden und die digitale Durchsuchbarkeit der Aktenstücke hergestellt werden". Gerade letzteres war allerdings, wie die ExpertInnen im LfV und Landeskriminalamt (LKA) erinnern, in der Zeit vor dem Auffliegen des NSU politisch gar nicht gewünscht. Ausdrücklich gewollt, sagte einer der beteiligten Beamten aus, sei vielmehr gewesen, "dass nicht alle alles sehen".

Mit dem 4. November 2011 musste vieles anders werden, wenn auch unter den geltenden Rahmenbedingungen. Schon die 2013 vom damaligen Innenminister Reinhold Gall (SPD) eingesetzte "Ermittlungsgruppe Umfeld" hatte 4500 Ordner händisch sichten müssen, um nach Verbindungen ins und Spuren im Land zu suchen. 2016 verweist die inzwischen grün-schwarze Landesregierung in ihrem Bericht zu den Empfehlungen des ersten Ausschusses darauf, dass, "sofern die Finanzierung gesichert ist, für die Landesverwaltung ein elektronisches Aktenverwaltungssystem eingeführt wird". Der gesamte Datenbestand zum Thema Rechtsterrorismus könne dann zusammengeführt werden. Oder besser, das, was entsprechend der abgestuften Löschfristen nach dem Polizei- und dem Landesverfassungsschutzgesetz von fünf, zehn oder 15 Jahren davon übrig ist, sollte unter das bislang geltende Moratorium fallen.

Dass das Eis so dünn ist, auf dem sich alle Verantwortlichen einschließlich der Datenschützer in Bund und Ländern bewegen (müssen), hat nicht zuletzt mit dem Verhalten der Ermittlungsbehörden nach dem 4. November 2011 zu tun. Vier Tage später, um 13 Uhr, stellt sich Beate Zschäpe in Jena der Polizei. Und um 15 Uhr beginnt das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) mit dem Aktenschreddern. Mit dem für die "Aktion Konfetti" verantwortlichen Referatsleiter befasst sich der Staats- und Verwaltungsrechtler Martin Kutscha 2018 unter der Überschrift "Der Verfassungsschutz – (nur) ein Sicherheitsrisiko?". Denn der Mann mit dem Decknamen "Lothar Lingen" erklärte 2014 beim Bundeskriminalamt, er habe geahnt, "dass die Öffentlichkeit sich sehr für die Quellenlage des Bundesamtes in Thüringen, also das dichte V-Leute-Netz um die Terrorgruppe, interessieren würde". Und weiter: "Vernichtete Akten könnten aber nicht mehr überprüft werden." Von einzelnen unerklärlichen "'Pannen' der Behörden", so Kutscha, "kann also keine Rede sein, vielmehr steckt eine gezielte Vertuschungsabsicht dahinter".

Baden-Württemberg hat Aktenvernichtung immer wieder verschoben

Erst vor einem Jahr stellte die Kölner Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen den ehemaligen Referatsleiter ein, gegen die Zahlung einer Geldbuße von 3000 Euro: Der Mann habe sich eines sogenannten "Verwahrungsbruchs" schuldig gemacht, hieß es. Außerdem wurde zur Entlastung behauptet, alle Akten hätten rekonstruiert werden können. Ziemlich genau das Gegenteil davon hatte aber der erste Untersuchungsausschuss des Bundestags festgestellt.

Auf dieses Gremium unter Leitung des SPD-Abgeordneten Sebastian Edathy geht auch das Löschmoratorium zurück, dessen verzögertes Inkrafttreten allerdings erst recht die Einschätzung stützt, es sei gezielte Vertuschungsabsicht im Spiel gewesen. Denn die offizielle Anweisung von Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) gab es erst im Sommer 2011, als schon mehrere hundert Ordner vernichtet waren, darunter 94 Personenakten zu Neonazis. Die Aufregung darüber hält zu Recht bis heute an, zum Beispiel unter den NSU-Watchern im Netz ("Aufklären und Einmischen"). Zur Wahrheit gehört andererseits, dass das Vernichten von Akten nach festgelegten Fristen grundsätzlich geboten ist, gerade aus rechtsstaatlicher Sicht.

Wie alle anderen Länder hat Baden-Württemberg ebenfalls Löschungen bisher immer wieder hinausgeschoben. Nach Meinung der Abgeordneten von Grünen, CDU, SPD und FDP im zweiten NSU-Ausschuss ist die Landesregierung in der Pflicht. Sie "möge sicherstellen", heißt es in den Handlungsempfehlungen aller vier Fraktionen, "dass alle Akten erhalten bleiben, die den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen zum NSU vorgelegt wurden". Dies solle gelten, solange die Vorhaltung erforderlich ist, mindestens jedoch bis zum Ende der anhängigen parlamentarischen Untersuchungsausschüsse und justiziellen Verfahren. "Unter Beachtung der Gewaltenteilung muss aus Sicht des Ausschusses geprüft werden", schreiben die ParlamentarierInnen weiter, "ob vor Vernichtung der Akten der Landtag in die Entscheidung miteingebunden werden muss."

Und die größere Regierungsfraktion wirbt für eine noch ganz andere Idee. "Fest steht, dass die Rechtslage komplex ist", sagt ein Sprecher, "und natürlich ist uns das Spannungsfeld zwischen Aufklärungsarbeit und Einhaltung der Datenschutzvorschriften bewusst." Dementsprechend sei auch "die zentrale grüne Handlungsempfehlung" aus dem zweiten Untersuchungsausschuss an die Koalition, ein Forschungszentrum für Rechtsextremismus zu schaffen als "ordentliche Anlaufstelle für die Erforschung und Dokumentation rechtsextremistischer Strukturen, angedockt an einer Hochschule in Baden-Württemberg". Und dort sei dann auch der richtige Ort, um Materialen und Wissen zum Rechtsextremismus zu sammeln, auszuwerten und vor allem bereitzustellen.


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1 Kommentar verfügbar

  • Ruby Tuesday
    am 16.11.2019
    Antworten
    Wie viel Terror schützt der Staat? Im Mai diesen Jahres verbreitete die 25%-Bahlsen-Erbin Verena Bahlsen, im coolen Hipster-Business-Deutsch der Erben Generation, einen Witz auf Kosten von Zwangsarbeitern, der etwa wie folgt endete : „ Das war vor meiner Zeit und wir haben die Zwangsarbeiter genauso…
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