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Porzellanladen Europa

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Sehr viele EuropäerInnen haben am 26. Mai für ein modernes demokratisches Europa gestimmt. Und tatsächlich kommen die vereinigten RechtsnationalistInnen über 73 von 751 Abgeordneten im neuen EU-Parlament nicht hinaus. Aber anstatt das zu nutzen und die EU nun herauszuputzen, führen selbstverliebte Regierungschefs die Gemeinschaft in die Krise.

Wir haben verstanden, sollte bei den Europawahlen vor fünf Jahren die Botschaft lauten. Die großen Parteienfamilien verständigten sich auf das sogenannte Spitzenkandidatenprinzip, wollten damit gerade heikle Personalentscheidungen transparenter machen und der Wählerschaft erstmals Mitsprache bei der Besetzung des wichtigsten EU-Amts einräumen. Das sollte der bekommen, der von der stimmenstärksten Gruppierung aufgeboten worden war, mit Zustimmung des zweiten Siegers. Nach einigem Zaudern und Zögern kamen die beiden Spitzenkandidaten gemeinsam zum Zug: Der bürgerliche Luxemburger Jean-Claude Juncker wurde Kommissions- und Sozialdemokrat Martin Schulz Parlamentspräsident, gewählt mit der Mehrheit der Europaabgeordneten aus den beiden Traditionsblöcken.

2019 ist vieles anders. Die großen Lager sind geschrumpft, mit "En Marche" aus Frankreich gibt es einen neuen Machtfaktor, die Grünen sind gewachsen und sogar größer als die vereinigten Ultras von rechts. Die Briten sind zwar noch da, wollen aber nicht mehr richtig dazugehören, viele versprengte Einzelgänger haben noch keinen Anschluss an eine der etablierten Fraktionen gefunden. Und der ganzen Welt bietet die europäische Politik momentan den ebenso hässlichen wie frustrierenden Anblick eines Porzellanladens, in dem sich 28 Streithansel um die Top-Jobs zanken und dabei Teile des Inventars zertrümmern, seltsam unbekümmert um den ohnehin nicht so guten Ruf der Union. Der Fairness halber ist hinzuzufügen, dass die wichtigsten Leute bei diesem Postengeschacher unter brutalem Druck stehen, sowohl aus ihren jeweiligen Parteien als auch der heimischen Öffentlichkeit: Sie müssen Trophäen mitbringen, sonst gibt es ganz schlechte Noten.

Macron spielt eine fatale Rolle

Hinzu kommt, dass etliche Akteure, siehe Italiens starker, aber in Brüssel abwesender Mann Matteo Salvini, es genau darauf angelegt haben, dass Europa sich urbi et orbi als Verein darstellt, der nicht oder nur nach elendem Tauziehen zu Potte kommt. Ein Verein, der jedenfalls nicht wirklich funktioniert. Eine fatale Rolle spielt aber auch einer, der als entschiedener Pro-Europäer gilt und zugleich mit seinem Hang zum Ego-Trip zusätzlichen Schaden stiftet.  Auch wenn viele FranzösInnen das schon aus Nationalstolz nicht wahrhaben wollen: Er heißt Emmanuel Macron. 

Der französische Präsident hat von Anfang nichts gehalten von der vergleichsweise bürgernahen und einleuchtenden Idee, dass Politiker, die mit der Legitimation ihrer Parteienfamilien als Zugpferde den Parlamentswahlkampf bestreiten, dann auch die wichtigsten Posten besetzen sollen. Nicht nur in Brüssel meinen manche sein Motiv zu kennen: Macron würde damit an Einfluss verlieren. Seine Ablehnung ging jedenfalls so weit, dass die Dänin Magarete Vestager, die seit dem Wahltag als erste weibliche Kommissionspräsidentin im Spiel ist, keinesfalls förmlich zur Spitzenkandidatin der von ihm gezimmerten Allianz gekürt werden durfte. Die heißt inzwischen "Renew Europe" (RE) und ist eine ziemlich bunte Truppe.

Macron, der sich 2017 mit seinem Pro-EU-Wahlkampf gegen Marine Le Pen Verdienste erwarb,  weiß ganz genau, wer nicht das Zeug zum Kommissionspräsidenten hat: EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber (CSU), dem er seit Monaten Zugriffsrecht und Befähigung abspricht, was den Schlamassel noch vergrößert. Deutlich weniger meinungsstark ist er, wenn es um seine eigenen Partner geht, allen voran den tschechischen Premier Andrej Babiš. Von dem Milliardär, gegen den eben erst eine Viertel Million Menschen in seiner Heimat demonstrierten, heißt es in diesen Tagen, er sei umstritten wegen gewisser Interessenkonflikte. Das ist schöngefärbt. Tatsächlich hat Inge Gräßle, die von ihrer Südwest-CDU abgemeierte Vorsitzende des Haushaltskontrollausschusses des EU-Parlaments, dem sie nun nicht mehr angehört, über Jahre darauf gedrängt, EU-Milliarden nachzuspüren, mit denen der Tscheche irgendwie in Berührung gekommen ist. Seit Anfang Juni liegt ein Rechnungsprüfungsbericht vor, der laut Gräßle "eindrucksvoll" zeigt, wie Babiš "seine Stellung als Politiker eindeutig genutzt hat, um daraus wirtschaftliche Vorteile für sich zu ziehen".

One man, one vote. Natürlich hat Babiš als tschechischer Regierungschef, der gerade auch noch ein Misstrauensvotum im Parlament mit Bravour überstand, Mitspracherecht. Genauso wie der Fan gelenkter Demokratie Viktor Orbán aus Ungarn. Dasselbe gilt für den Polen Jarosław Kaczyński, der einen "Ibiza"-Skandal im Kleinformat am Hals hat. Wie der Polit-Rabauke Salvini, dem die Süddeutsche Zeitung eben erst bescheinigte, er prahle mit seiner Menschenverachtung, sitzt auch der Pole in Brüssel nicht mit am Tisch. Beide üben aber großen Einfluss aus auf den Gang der europäischen Dinge.

Eigentlich müssten ganz andere das Sagen haben

Besonders angetan hat es ihnen der zweite Spitzenkandidat, Frans Timmermanns. Der belgische Sozialist ist den Rechtsautoritären ein dunkelrotes Tuch. In seiner Eigenschaft als Kommissionsvizepräsent kämpft er – im Auftrag der ganzen Kommission, versteht sich – für Solidarität in der Flüchtlingspolitik und gegen alle Bestrebungen, die die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn oder Polen verletzen. Das adelt ihn unter den Anständigen, macht ihn aber inakzeptabel für nationalistische Populisten auf Regierungssesseln. Besonders absurd und ihren defizitären demokratischen Reifegrad unterstreichend ist der Vorwurf der polnischen PIS, Timmermans habe im Europawahlkampf im Land die Opposition unterstützt. 

Macron wiederum könnte zwar mit Timmermans leben, erkennbar Einfluss nehmen mochte er aber auf seinen RE-Freund Babiš nicht. So steht der Mann aus Prag nach dem Brüsseler Verhandlungsmarathon lässig in die Sonne blinzelnd vor JournalistInnen und kündigt an, weiterhin hart zu bleiben beim Personal, während der Franzose ein paar Kameras und Mikrofonständer weiter den Dieb gibt, der "Haltet den Dieb" schreit: "Das ist ein Tag, an dem wir versagt haben", klagt er. Europa habe "einen sehr schlechten Eindruck hinterlassen", und das liege "ganz klar an persönlichen Ambitionen von einigen". Monsieur le Président kommt in Fahrt: Der Sondergipfel sei schlecht vorbereitet gewesen und viel zu lang, man habe "Stunden im Palaver" verbracht und er ohnehin genug: "Wir sind ein Club von 28, der sich trifft, ohne jemals zu entscheiden." Noch einer also, der nicht mehr mitspielen mag, "bevor unsere institutionellen Funktionen einer gründlichen Reform unterzogen werden". Konstruktives Miteinander sieht anders aus, erst recht, nachdem Angela Merkel ja gerade ihm mit seinem kompromisslosen Weber-Veto eine goldene Brücke zu Timmermans gebaut hat.

Ohnehin müssten eigentlich ganz andere das Sagen haben. Denn zur Wahrheit gehört auch, dass Macron als einziger überhaupt im EU-Konzert den Rechtsnationalisten bei der Europa-Wahl in Frankreich Platz eins überlassen musste. Schon allein deshalb wären er aufgerufen, kleinere Brötchen zu backen. Dagegen müsste andere ins Rampenlicht, Politiker, die neuerdings gezeigt haben, dass ein Linkskurs erstens in der Sache und zweitens auch beim Wahlvolk erfolgreich sein kann. So einer ist Portugals António Costa.

In der EU-Wahlzusammenfassung, die von links nach rechts alle Parteien in allen Ländern aufführt, sind für Portugal Leerstellen oder eine Null dort eingetragen, wo der rechte Rand beginnt. Aus Schweden sitzt niemand in der neuen "Identität und Demokratie", wie Salivinis Allianz inzwischen heißt, auch aus Spanien nicht. Frankreich hingegen ist mit 20 Abgeordneten dabei, Deutschland mit elf von der AfD und Italien selber mit 28. Die EU-ZerstörerInnen, die bekanntlich das Parlament abschaffen wollen, wären ohne diese drei Staaten kaum mehr als eine Splittergruppe.

Übers Hickhack darf nicht untergehen, dass es sich auch um eine entscheidende politische Weichenstellung handelt. Natürlich steht Timmermans für eine andere Programmatik als Weber, als Vestager oder gar Ursula von der Leyen, die kurz vor Kontext-Redaktionsschluss auf den Schild gehievt wurde. Wird der Niederländer, trotz des anhaltenden Widerstands der Sozialdemokraten, geopfert, gehen europäische Werte mit über die Wupper. Gleich doppelt: Denn dann ist das Spitzenkandidaten-Prinzip tot, wichtige Fragen sind doch wieder der Mitentscheidung der Wählerschaft entrissen und Abgeordnete werden zu AbnickerInnen. Vor allem aber durfte dann einer nicht Kommissionspräsident werden, der zum Symbol europäischer Werte wurde. Das wirft die EU weit zurück. Es hätte vieles gut werden können nach dem 26. Mai,. Hätte, hätte, Fahrradkette.


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5 Kommentare verfügbar

  • Dr. Uwe Prutscher
    am 05.07.2019
    Antworten
    Das neoliberale Konstrukt EU wird als Selbstbedienungsladen so genannter Eliten scheitern, weil MENSCHEN darin nur als Wahlpöbel geduldet und dann termingerecht abserviert werden - bis zum nächsten Großbetrug in 5 Jahren!
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