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Glückskeks von der SPD

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Obergenossen wollen ihn am liebsten aus der Partei werfen – doch die Stuttgarter Jusos laden Kevin Kühnert in eine Bar mit Discokugel ein. Bei ein paar Bierchen plaudert der Junglinke über Steueroasen in Europa und seinen Plan, nicht zum nächsten Schröder zu werden.

Für einen, der seine Partei "auf höchst diffuse Weise" (Genosse Thierse) mit "grobem Unfug" (Genosse Kahrs) und der "Methode Donald Trump" (Genosse Gabriel) beschädigt haben soll, wirkt der real existierende Kevin Kühnert verblüffend besonnen. Er stampft nicht auf den Boden wie  Rumpelstilzchen und kündigt auch nicht großmäulig an, für welchen Wahnsinn er demnächst die Mexikaner bezahlen lassen will. Im Gegenteil. Der 29-Jährige im grauschwarzen Hoodie wirkt ruhiger, man möchte sagen: reifer als viele seiner Kritiker unter den Altvorderen, die nach Kühnerts Aussagen im Interview der "Zeit" tagelang im Dreieck sprangen.

"Das war ja eine Debattenkultur wie im Kalten Krieg", ärgert sich Colyn Heinze, Jahrgang 1996, "da kam straight der DDR-Vergleich." Der Student (Public Management) kandidiert für die Stuttgarter SPD auf Listenplatz 3 bei den Regionalwahlen am Sonntag. Er teile nicht alle Positionen von Kühnert, sagt er, um auszusprechen, was selbstverständlich sein sollte: "Aber ich kann sie aushalten." So ähnlich sieht das auch Jungsozialistin Jasmin Meergans. "Ausladen wollten wir ihn bestimmt nicht", lacht die 24-Jährige, die ihren Vorsitzenden schon kannte, "bevor er berühmt wurde". Der Termin in Stuttgart war schon seit vergangenem September geplant, nach dem Interview in der "Zeit" hätten sie  aber "noch mehr Lust" gehabt, mit ihm zu diskutieren, erzählt die Lehramtskandidatin, die es bei den bevorstehenden Kommunalwahlen sogar auf einen Spitzenplatz der Stuttgarter Sozialdemokraten geschafft hat.

Ja, Kevin zieht. Es handelt sich, von den Friday-for-Future-Streiks einmal abgesehen, um eine der wenigen politischen Veranstaltungen in der Landeshauptstadt, bei denen das Kopfhaar im Publikum noch nicht größtenteils ergraut ist. Beim Eintritt in die "White Noise"-Bar im Stuttgarter Zentrum bekommt jeder Gast ein Freigetränk spendiert und SPD-nahe Glückskekse, deren Zettelchen an den Sparfuchs im Schwaben adressiert sind ("Nimm Dir noch einen Keks. Die SPD hat's gezahlt"). Meergans, die seit 2013 bei den Stuttgarter Jusos aktiv ist, erkennt etwa ein Viertel der gut 120 Gesichter im Publikum als Genossinnen und Genossen wieder. Damit ist das "White Noise" voll, ein gutes Dutzend Zuschauer muss mit einem Sitzplatz auf dem Boden Vorlieb nehmen. Viele Interessierte kommen nicht aus dem direkten Umfeld der Partei.

Ludwig etwa. Der junge Erstwähler hätte sich noch am Morgen nicht vorstellen können, "jemals eine SPD-Veranstaltung zu besuchen". Dann hat er sich mitschleifen lassen und bereut es nicht. Zum überzeugten SPD-Wähler haben ihn die zwei Stunden nicht gemacht, aber jetzt ist er noch unsicherer, wen er wählen soll: Er schwankt zwischen grün und schwarz. Aber: "Mir hat die Atmosphäre hier super gefallen", sagt er. Sie sei nicht so verkrampft wie bei anderen Politik-Veranstaltungen, die er sich schon angetan hat.

Im "White Noise" hängt eine rotierende Discokugel, im Hintergrund läuft, bevor Kühnerts Vortrag beginnt, ein grooviger Funk mit abgefahrenem Querflötensolo. Niemand traut sich, in diesem Umfeld Anzug zu tragen. Kühnert referiert fast durchgängig mit mindestens einer Hand in der Hosentasche. "Richtig Schwung ist noch nicht in den Wahlkampf gekommen", findet er, "aber Gründe gäbe es eigentlich genügend." Und dann fängt er mit einem sperrigen Thema an, das viele als Rausschmeißer betrachten würden: mit der mangelhaften Regulierung der Finanzmärkte.

Die Krise 2009 habe nicht die Konsequenzen nach sich gezogen, die er als nötig betrachten würde. "Bei Steueroasen denken viele an entlegene Tropenparadiese, wo man sich einen Briefkasten mieten kann", sagt er, "aber wir tolerieren sie mitten in Europa: Luxemburg, Irland, Malta und die Niederlande." Staaten ließen sich Steuereinnahmen in Milliardenhöhe entgehen, die besser dem Allgemeinwohl zugute kämen, meint der Juso-Chef, deshalb "brauchen wir in Europa einen einheitlichen Mindeststeuersatz für Unternehmen." Das Publikum ist nicht eingedöst, viele nicken mit dem Kopf.

Selbstkritik ist möglich

Und dann wird es selbstkritisch. Der Aufstieg der Rechtspopulisten und -radikalen habe viel mit dem Versagen der politischen Linken zu tun, betont der Jungsozialist. Die Rechten hätten das "Talent, soziale Verwerfungen zu benennen, die es ja wirklich gibt." Aber sie seien "komplett blind für deren tatsächliche Ursachen." Ihre einfältige Analyse laute dann: Da kommen Fremde und nehmen uns was weg. Doch schuld am Sozialabbau, am Ausverkauf öffentlichen Eigentums und an einem Niedriglohnsektor mit neun Millionen Beschäftigten in der Bundesrepublik seien sicher nicht Migration oder Flüchtlinge. Bei diesen sozialen Verwerfungen gegenzusteuern, könnte den Populisten aller Länder Wind aus den Segeln nehmen. Kühnert verweist auf Portugal, wo sich seit 2015 eine sozialistische Regierung gegen die neoliberale Austeritätspolitik stemmt und damit Erfolge verbucht. Einer davon ist, dass es im Parlament keine Rechtspopulisten gibt, was mittlerweile einmalig ist in Europa.

Abschaffen oder was?

Da ist Aufmerksamkeit garantiert: "Kevin Kühnert kann sich vorstellen, die Bundeswehr abzuschaffen" überschreibt die "Stuttgarter Zeitung" ihren Vorbericht, für ein Interview mit dem Juso-Chef, das einen Tag später erscheinen sollte. So kurz nach der BMW-Aufregung kommt das gut. Die Überschrift hat nur einen Nachteil – sie stimmt nicht. In dem Gespräch, abgedruckt am 20. Mai, sagt Kühnert unmissverständlich, es sei "keine absurde Vorstellung", eine "speziell deutsche Armee in einer europäischen Armee aufgehen zu lassen." Von abschaffen ist keine Rede.

Im Stuttgarter "White Noise" präsentiert sich Kühnert auch nicht als glühendster Verfechter einer europäischen Armee, aber man könnte ja mal drüber diskutieren. Immerhin ließen sich durch die Maßnahme Doppelstrukturen abgebauen und die Gesamtausgaben des Kontinets für sein Militär könnten sinken. Egal, die Headline macht Wirbel, wird vielfach übernommen, und "Der Westen" schreibt allen Ernstes: "Erst vor kurzem sorgte der Juso-Chef für Schlagzeilen, als er vorschlug, BMW zu kollektivieren. Seine neue Idee ist fast noch radikaler." Was nicht dabei steht: Eine europäische Armee bewirbt auch, und das viel offensiver, der Revoluzzer Manfred Weber, Spitzenkandidat der Union bei den Europa-Wahlen. (min)

Kühnert selbst schlägt vor, einen europäischen Mindestlohn einzuführen. Bei 60 Prozent der nationalen Durchschnittseinkommen soll er liegen, in Deutschland entspräche das etwa 12 Euro pro Stunde (eine Forderung, die die Linke schon seit Jahren erhebt). Und er will sich für ein "Bündnis der Humanität" einsetzen. "Wir sollten diejenigen belohnen, die die europäischen Werte mit Leben füllen", meint er. So gäbe es überall in Europa Städte, die sich zu "Sicheren Häfen" für Geflüchtete erklärt hätten. Sie könnten mit einem kommunalen Förderprogramm unterstützt werden, wenn sie freiwillig Geflüchtete aufnehmen, und dann würden womöglich Städte in Ungarn oder Polen eines Tages bei ihren Regierungen nachhaken: Warum profitieren wir eigentlich nicht von diesen Mitteln?

"Kevin, du hast mir grade aus dem Herzen gesprochen", sagt ein vollbärtiger Struwwelpeter, als die Fragerunde eröffnet ist. "Aber am Sonntag kann ich ja nicht Kevin Kühnert wählen, oder die Jusos – sondern die SPD." Ob er nicht aufrufen wolle, die Linke zu wählen, bis seine Parteiführung endlich umschwenkt? Ganz so weit geht der Juso-Chef nicht, vielleicht um den Genossen Scholz und Kahrs den Herzkasper zu ersparen. Er ist aber "niemandem böse, der am 26. demokratisch-links wählt". Allerdings, so Kühnert, sollte sich "keiner der Illusion hingeben, dass in Deutschland oder Europa linke Mehrheiten ohne die Sozialdemokraten möglich sind".

Es ist ein schwieriger Spagat, als SPD-Politiker Zustände zu kritisieren, die die eigene Partei mitverschuldet hat. Trotzdem oder gerade deshalb: Besser sei's, Fehler einzugestehen und Korrekturen vorzunehmen als zu schweigen, findet Kühnert. Mit Arbeitsminister Hubertus Heil arbeite er gerade an einem Konzept, um "endlich aus diesem Hartz-IV-Moloch herauszukommen".

Ein Zuhörer erinnert daran, dass sich auch der Juso-Vorsitzende a.D. Gerhard Schröder einmal als Marxist betrachtete und dann eine bemerkenswerte Wandlung hingelegt hat: "Wie können wir denn sicher sein, dass du nicht den gleichen Weg einschlägst?" Da wird Kühnert etwas emotionaler. "Es gibt keinen Automatismus von links unten nach rechts oben", sagt er ein bisschen lauter, "aber wenn ich doch einmal so werde, schüttet mir bitte ein Glas Wasser ins Gesicht." Das dürfe man sich aufschreiben und sich im Fall der Fälle drauf berufen. Zum Abschluss gibt's 'ne Kampfansage an die Mutterpartei: "Wir versprechen, dass wir nicht zahm sind. Und wir versprechen, dass wir uns in naher Zukunft die wichtigen Listenplätze angeln werden."

Auf Bundesebene gibt's da viel zu tun. Die viel beschworene Erneuerung hat ein paar altbekannte Gesichter auf ihren Posten rotierten lassen, ein früherer Goldman-Sachs-Banker soll als Staatssekretär im SPD-geführten Finanzministerium die Märkte regulieren, was bis jetzt noch nicht so recht gelingen will. Hier könnte der Kontrast zu Kühnerts Ansagen kaum größer sein.

In Stuttgart allerdings – und das ist auch bemerkenswert, weil der Ortsverband nie als besonders links galt – gibt es bei den bevorstehenden Kommunalwahlen tatsächlich jede Menge neue Gesichter. Von den neun amtierenden Gemeinderäten der SPD im Stuttgarter Rathaus treten nur fünf erneut zur Wahl an, teils weit hinten eingereiht. Auf Listenplatz 2 steht Jasmin Meergans, 24 Jahre jung. In der jetzigen Fraktion ist das jüngste Mitglied 44 Jahre alt, der bestplatzierte Juso landete bei der Wahl 2014 auf Listenplatz 11. Nach einer Kampfkandidatur, eigentlich hat ihn die Mutterpartei auf Platz 19 setzen wollen.

Es gibt also zumindest Indizien, dass es mit der Erneuerung ernst gemeint sein könnte. Reibungslos wird sie nicht verlaufen. Manchmal, räumt Meergans ein, ärgert sie sich über ihren Verein. Etwa wenn er mit einer "völlig albernen Marketingstrategie" daher komme, wie die Tolle-Namen-Verordnung die so kreative Erzegnisse wie das "Gute-Kita-Gesetz" oder das "Starke-Familien-Gesetz" hervorgebracht hat. Oder, besonders schlimm, das "Geordnete-Rückkehr-Gesetz", das die Abschiebepraxis in der Bundesrepublik verschärfen soll. "Da fällt es mir manchmal schwer, den Kurs meiner Partei zu ertragen", sagt sie. Sie ist selbst in der Flüchtlingshilfe engagiert. Aber so sei das eben in der Parteiarbeit. Man müsse streiten und aushalten können. 


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5 Kommentare verfügbar

  • Anarchrist
    am 26.05.2019
    Antworten
    Manchmal fände ich es nicht schlecht, wenn es eine Ehrlichkeitsmütze gäbe, die anfängt zu leuchten, wenn der Träger nicht die Wahrheit sagt bzw. die Wirklichkeit wiedergibt.

    Das wäre für Wahlkämpfe eine tolle Sache.

    Ich würde Kevin wählen, wenn er auf unserem Wahlbogen stünde.
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