Oliver Schmidt stutzt kurz, bevor er antwortet auf die Frage, ob er in seiner gerade zu Ende gehenden Schulzeit ausreichend informiert wurde über die Europäische Union. "In keiner Weise", sagt der 18-Jährige dann aus voller Überzeugung. Und er kann erläutern, wieso: Weil der Gemeinschaftskundeunterricht im Fächerranking ziemlich weit unten stand, weil Naturwissenschaften als viel wichtiger erachtet werden, weil die EU im Geschichtsunterricht nicht vorkommt. Seine eigenen Konsequenzen hat er gezogen: Schmidt engagiert sich in der bereits 1955 gegründeten und überparteilichen Vereinigung der "Jungen Europäischen Föderalisten" (JEF) im Kreisverband in Stuttgart. Aktuell unter anderem um ErstwählerInnen zu motivieren und zu informieren.
Eigentlich müsste allen EU-Fans das Herz aufgehen, denn die Terminkalender quellen über. "Europa spricht" wird am 11. Mai unionsweit Menschen unterschiedlicher Meinung "zum größten direkten Austausch von Positionen zusammenbringen", so die Eigenwerbung, "den es je auf dem Kontinent gegeben hat." Tausende haben sich registrieren lassen in Deutschland und Frankreich, in Estland, Polen, Österreich oder Dänemark. "Europa machen" will die JEF mit Veranstaltungen, etwa dem KandidatInnen-Blind-Date am 7. Mai im Stuttgarter Merlin, oder mit der Forderung nach einem Duell der Spitzenkandidaten zur Prime-Time im öffentlichen-rechtlichen Rundfunk. "Pulse of Europe" nutzt, unter vielem anderen, Spiele der Fußball-Bundesliga, um für den Urnengang zu werben. Am 5. und am 12. Mai finden weitere Info-Veranstaltungen am Stuttgarter Karlsplatz statt. "Was immer Du wählst, wähl' Europa", heißt einer der einprägsamen Slogans, "weil Frieden kein Naturgesetz ist."
Fast im Tagestakt werden zudem neue Untersuchungen und Studien präsentiert. Nur wenige verheißen Gutes. Denn alle Errungenschaften sind eingepreist. Auch Schmidt weiß aus seinen vielen Gesprächen, nicht nur jetzt in den Wochen vor der Wahl, wie die großen Vorteile der Gemeinschaft als selbstverständlich wahrgenommen werden, zum Beispiel "der große Wert kultureller Kommunikation über die offenen Grenzen hinweg". Eben erst hat die Bertelsmann-Stiftung analysiert, wie sehr da Parteien im Vorteil sind, die gegen die Europäische Union Stimmung machen. Viel zu viele Menschen lassen sich bei ihrer Wahlentscheidung nicht mehr von positiven, sondern von negativen Faktoren leiten. Konjunktur hat eine gefährliche Devise: Wir wählen die Partei, die uns den "sichersten Schutz vor den Parteien zu versprechen scheint, die am stärksten ablehnen werden und deren Wahlerfolg es auf jeden Fall zu verhindern gilt". Auf diese Weise hätten es "populistische Parteien in relativ kurzer Zeit geschafft, sich eine stabile Stammwählerbasis zu schaffen", heißt es weiter.
Europäische Klospülungen zu harmonisieren, muss nicht absurd sein
Für Europa ist dieses gefühlte Schutzbedürfnis fatal, weil es mit Erwartungen der Renationalisierung einhergeht. Die wird von Teilen der Rechten und vor allem von den Rechtsaußenparteien in Aussicht gestellt und mit Sicherheitsverheißungen verbunden. Sicherheit vor allem vor einem "Bevölkerungsaustausch", wie Österreichs Vizekanzler Hans-Christian Strache (FPÖ) erst am Wochenende ganz ungeniert eine Vokabel der Identitären Bewegung verwendete. Italiens Innenminister Matteo Salvini, der Schmied einer nationalistischen Allianz, die "in Brüssel aufräumen wird", hat ein Sicherheitsdekret erlassen, das Flüchtlinge von Arbeitsmarkt und Schulbesuch ausschließt und ihre Gesundheitsversorgung erschwert. Die spanische "Vox", die bei den Parlamentswahlen vom Sonntag mit zehn Prozent der Stimmen deutlich unter ihren Erwartungen blieb, will jetzt erst recht, wenn sie könnte, Gebühren für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk abschaffen und mit dem gesparten Geld Mauern bauen, um "den Menschen ihre Sicherheit zurückzugeben".
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Peter Meisel
am 03.05.2019Als Souverän hat er sich selbst zu informieren (res publika) bzw.…