KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Gegen Windmühlen

Gegen Windmühlen
|

Datum:

Pro-europäische Aktivitäten schießen derzeit aus dem Boden wie Spargel. Dass NationalistInnen am 26. Mai dennoch ein sattes Plus erwarten können, liegt auch an den unzähligen Falschinformationen, die über die EU verbreitet wurden. Und an den vielen, die sie ahnungslos nachplappern.

Oliver Schmidt stutzt kurz, bevor er antwortet auf die Frage, ob er in seiner gerade zu Ende gehenden Schulzeit ausreichend informiert wurde über die Europäische Union. "In keiner Weise", sagt der 18-Jährige dann aus voller Überzeugung. Und er kann erläutern, wieso: Weil der Gemeinschaftskundeunterricht im Fächerranking ziemlich weit unten stand, weil Naturwissenschaften als viel wichtiger erachtet werden, weil die EU im Geschichtsunterricht nicht vorkommt. Seine eigenen Konsequenzen hat er gezogen: Schmidt engagiert sich in der bereits 1955 gegründeten und überparteilichen Vereinigung der "Jungen Europäischen Föderalisten" (JEF) im Kreisverband in Stuttgart. Aktuell unter anderem um ErstwählerInnen zu motivieren und zu informieren.

Eigentlich müsste allen EU-Fans das Herz aufgehen, denn die Terminkalender quellen über. "Europa spricht" wird am 11. Mai unionsweit Menschen unterschiedlicher Meinung "zum größten direkten Austausch von Positionen zusammenbringen", so die Eigenwerbung, "den es je auf dem Kontinent gegeben hat." Tausende haben sich registrieren lassen in Deutschland und Frankreich, in Estland, Polen, Österreich oder Dänemark. "Europa machen" will die JEF mit Veranstaltungen, etwa dem KandidatInnen-Blind-Date am 7. Mai im Stuttgarter Merlin, oder mit der Forderung nach einem Duell der Spitzenkandidaten zur Prime-Time im öffentlichen-rechtlichen Rundfunk. "Pulse of Europe" nutzt, unter vielem anderen, Spiele der Fußball-Bundesliga, um für den Urnengang zu werben. Am 5. und am 12. Mai finden weitere Info-Veranstaltungen am Stuttgarter Karlsplatz statt. "Was immer Du wählst, wähl' Europa", heißt einer der einprägsamen Slogans, "weil Frieden kein Naturgesetz ist."

Fast im Tagestakt werden zudem neue Untersuchungen und Studien präsentiert. Nur wenige verheißen Gutes. Denn alle Errungenschaften sind eingepreist. Auch Schmidt weiß aus seinen vielen Gesprächen, nicht nur jetzt in den Wochen vor der Wahl, wie die großen Vorteile der Gemeinschaft als selbstverständlich wahrgenommen werden, zum Beispiel "der große Wert kultureller Kommunikation über die offenen Grenzen hinweg". Eben erst hat die Bertelsmann-Stiftung analysiert, wie sehr da Parteien im Vorteil sind, die gegen die Europäische Union Stimmung machen. Viel zu viele Menschen lassen sich bei ihrer Wahlentscheidung nicht mehr von positiven, sondern von negativen Faktoren leiten. Konjunktur hat eine gefährliche Devise: Wir wählen die Partei, die uns den "sichersten Schutz vor den Parteien zu versprechen scheint, die am stärksten ablehnen werden und deren Wahlerfolg es auf jeden Fall zu verhindern gilt". Auf diese Weise hätten es "populistische Parteien in relativ kurzer Zeit geschafft, sich eine stabile Stammwählerbasis zu schaffen", heißt es weiter.

Europäische Klospülungen zu harmonisieren, muss nicht absurd sein

Für Europa ist dieses gefühlte Schutzbedürfnis fatal, weil es mit Erwartungen der Renationalisierung einhergeht. Die wird von Teilen der Rechten und vor allem von den Rechtsaußenparteien in Aussicht gestellt und mit Sicherheitsverheißungen verbunden. Sicherheit vor allem vor einem "Bevölkerungsaustausch", wie Österreichs Vizekanzler Hans-Christian Strache (FPÖ) erst am Wochenende ganz ungeniert eine Vokabel der Identitären Bewegung verwendete. Italiens Innenminister Matteo Salvini, der Schmied einer nationalistischen Allianz, die "in Brüssel aufräumen wird", hat ein Sicherheitsdekret erlassen, das Flüchtlinge von Arbeitsmarkt und Schulbesuch ausschließt und ihre Gesundheitsversorgung erschwert. Die spanische "Vox", die bei den Parlamentswahlen vom Sonntag mit zehn Prozent der Stimmen deutlich unter ihren Erwartungen blieb, will jetzt erst recht, wenn sie könnte, Gebühren für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk abschaffen und mit dem gesparten Geld Mauern bauen, um "den Menschen ihre Sicherheit zurückzugeben".

Parolen, die doppelt ziehen, weil auch andere mit dem gefährlichen Thema operieren, zum Beispiel EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber (CSU), der die Union mit "zwölf konkreten Zusagen" an die rund 507 Millionen EU-BürgerInnen "sicher, smart und menschlich" gestalten will. Die Formulierung "Sicherer und menschlicher" hätte den nationalistischen EU-Verächtern weniger in die Karten gespielt. Hinzu kommen die vielen falschen, aber unausrottbaren Klischees vom regulierten Traktorsitz, von der Gurkenkrümmung bis zum aufgeblähten, teuren Beamtenapparat und den Übergriffen auf den persönlichen Alltag. "Zu meinen großen Lebensleistungen gehört, dass ich verhindert habe, dass die Kommission europäische Toilettenspülungen harmonisiert", scherzte Jean-Claude Juncker kürzlich im Stuttgarter Landtag. Dabei weiß er genau, wie er hinzufügte, dass eine Regulierung durchaus sinnvoll gewesen wäre als Maßnahme gegen Wasserverschwendung. 

Das Beispiel steht für fehlende Aufrichtigkeit in den Nationalstaaten. Ebenso die Glühbirne. Denn natürlich war es der Rat der zuständigen MinisterInnen und RegierungschefInnen, die mehr gegen die Erderwärmung tun wollten. Schon Anfang der Neunziger Jahre war beschlossen worden, ein "gemeinschaftliches System" zu etablieren, um "Produkte, die während ihrer gesamten Lebensdauer geringere Umweltauswirkungen haben, zu fördern und den Verbrauchern genaue, nicht irreführende und wissenschaftlich fundierte Informationen über die Umweltauswirkungen der Produkte zur Verfügung zu stellen". Noch deutlicher sind gut zehn Jahre später die Vorgaben zur "umweltgerechten Gestaltung von Produkten" als "wesentlicher Bestandteil der Gemeinschaftsstrategie zur integrierten Produktpolitik". 

Was sind schon Tatsachen gegen Zynismus? 

Als dann mit dem üblichen zeitlichen Verzug 2009 das Ende der konventionellen Glühbirne kam, wurden massenhaft Gerüchte gestreut. Von 3000 Arbeitsplätzen, die in Gefahr seien, war ebenso die Rede wie vom Niedergang deutscher Industriekultur. Die Abschaffung der Glühbirne sei "bestes Beispiel für die Bürgerferne der EU", so die damalige FDP-Spitzenkandidatin für die Europawahl Silvana Koch-Mehrin. Zwar hatte die Stiftung Warentest da gerade für eine dreiköpfige Familie durch den Umstieg auf Energiesparlampen 150 Euro Stromkosten weniger pro Jahr errechnet und 60 Euro für einen Singlehaushalt - aber was können Tatsachen schon ausrichten gegen die Zyniker des Boulevard und schenkelklopfende Stammtisch-Strategen, die begierig nach allem greifen, was die EU als vertrotteltes Monster zu entlarven scheint? 

Gerade in der föderalen Bundesrepublik haben die Länder mit ihrer Bildungshoheit ein gerüttelt Maß an Schuld daran, dass der Humus so fruchtbar ist, in dem Falschmeldungen und Vorurteile gedeihen. "Baden-Württemberg hat sich zum Ziel gesetzt, die Auseinandersetzung mit Europafragen im Rahmen der Demokratiebildung an seinen Schulen weiter zu stärken", schreibt die Landesregierung in ihrem Europaleitbild. Und weiter: "In Zusammenarbeit der Schulen mit Partnereinrichtungen soll ein tieferes Verständnis der Geschichte der EU und der Funktionsweise ihrer Institutionen vermittelt werden." Der Nachholbedarf ist riesig. In beiden Bildungsplanreformen von 2004 und 2016 ist das Thema "Europa in der Schule" ein Stiefkind. Ein Praxishandbuch wurde in einer Auflage von gerade mal tausend Stück gedruckt. Üppig erwähnt werden von der EU mitfinanzierte Programme von Kennenlernen und Austausch, kaum einmal kommt aber die Union in ihrer Funktions- und Wirkungsweise vor. 

Oliver Schmidt hat durch eine einwöchige Simulation der Arbeit im Europaparlament nicht nur zur EU gefunden, sondern er ist auch zur Überzeugung gekommen, dass Wissen und Werbung immens wichtig sind. "Europa spricht" macht gerade die Erfahrungen, wie der Kampf gegen die Windmühlen der Europafeinde zu gewinnen wäre: mit Fakten und der Bereitschaft, zu argumentieren. Allen Registrierten, die am 11. Mai trefflich streiten wollen, wurden verschiedene Fragen vorgelegt. Die Antworten haben es in sich, weil sie sich eklatant von Mehrheitsmeinungen in den jeweiligen Ländern unterscheiden. So würden 88,6 Prozent der ItalienerInnen, die sich gerade auf den Meinungsaustausch mit Andersdenkenden vorbereiten, ihren nationalen gegen einen europäischen Pass eintauschen, 81 Prozent der BritInnen wären mit einer höheren Benzinsteuer zur Finanzierung von Klimaschutz einverstanden, und hundert Prozent der RumänInnen sind der Meinung, dass die EU ihr Leben verbessert. Würden PolitikerInnen ähnlich über die Gemeinschaft und ihre Errungenschaften reden, wäre eines sicher: Die rechten Ultras hätten am 26. Mai keine oder kaum eine Chance.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


4 Kommentare verfügbar

  • Peter Meisel
    am 03.05.2019
    Antworten
    Es ist in einer Republik nicht wichtig ob man informiert wurde. "Oliver Schmidt stutzt kurz, bevor er antwortet auf die Frage, ob er in seiner gerade zu Ende gehenden Schulzeit ausreichend informiert wurde über die Europäische Union."
    Als Souverän hat er sich selbst zu informieren (res publika) bzw.…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!