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Quo vadis, Stuttgart?

Quo vadis, Stuttgart?
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Stuttgart braucht einen Leitfaden, wohin sich die Stadt entwickeln soll. Das fordert die Architektenkammer und mit ihr weitere Verbände, Initiativen und Hochschulen. Nicht von oben herab soll dieses Konzept entwickelt werden, sondern im Dialog mit den BürgerInnen.

Die meisten Städte haben inzwischen ein Stadtentwicklungskonzept, sagt Thomas Herrmann, Sprecher der fünf Stuttgarter Kammergruppen der Architektenkammer. Es sei sogar eigentlich Voraussetzung, um von der Städtebauförderung des Bundes zu profitieren. Stuttgart hat zwar ein solches Konzept, nur ist es mittlerweile 13 Jahre alt und kein Mensch weiß, was darin steht. Da es vom Gemeinderat nie verabschiedet, nur zur Kenntnis genommen wurde, hat es auch keinerlei Verbindlichkeit. Und was noch schlimmer ist: Einige der wesentlichen Grundannahmen sind falsch.

Als das Konzept 2006 entwickelt wurde, gingen die Stadtplaner von einem Bevölkerungsrückgang aus. Wohnungsbau hielten sie für unnötig. Nun wächst die Stadt und die Wohnungen fehlen. Dass sich die Verkehrsprobleme anders lösen ließen als durch den Bau immer neuer Straßen, konnten sich 2006 nur die Wenigsten vorstellen. Zwar waren die EU-Feinstaubgrenzwerte bereits in Kraft. Jedoch ließen sich Stadt, Land und Regierungspräsidium erst durch Gerichtsurteile zum Handeln bewegen oder besser gesagt: zwingen.

Nach so langer Zeit will die Stadtbevölkerung nicht länger warten. Das zeigt die enorme Resonanz, die der Verein Aufbruch Stuttgart mit seinen Veranstaltungen "für eine Zukunft mit mehr Urbanität, Lebensqualität und Strahlkraft" ausgelöst hat, wie er sein Anliegen auf der eigenen Website beschreibt: "Unser Ziel ist es, die Stadtentwicklung und Stadtgestaltung durch unsere Mitwirkung, durch eigene Ideen und Impulse voranzubringen. Dazu gehört insbesondere die Beseitigung der trennenden Barriere Konrad-Adenauer-Straße." Dem würden wohl viele StuttgarterInnen zustimmen. 

"Aufbruch Stuttgart" gehört auch zu den Unterzeichnern eines Positionspapiers der Architektenkammer. Während sich der Verein aber zunehmend an der Oper festgebissen hat, geht es in dem Papier um das große Ganze. Wozu braucht man ein Stadtentwicklungskonzept? Um Kriterien zu haben, damit nicht einfach hier ein Grundstück an den nächstbesten, meistbietenden Investor verscherbelt wird oder dort derjenige ein Konzerthaus bekommt, der den Mund am weitesten aufreißt. Das Gemeinwohl der Stadt sollte am Ende vor Einzelinteressen stehen. 

Nachdenken über Stuttgart in der Philosophie-Kantine 

"Stuttgart weiterdenken!" So ist das Positionspapier der Kammer überschrieben. An der Initiative Stadtentwicklungsdialog sind so ziemlich alle beteiligt, die sich in Stuttgart mit dem Thema auskennen: der Bund Deutscher Architekten (BDA), alle drei Hochschulen, an denen Architektur gelehrt wird, die Stuttgarter Gruppe des Deutschen Werkbunds, das Klima- und Umweltbündnis und noch weitere Verbände und Initiativen. "In Stuttgart haben Projekte und Initiativen wie 'Stuttgart 21', 'Kultur im Dialog' oder 'Aufbruch Stuttgart' stadtweite Aufmerksamkeit erregt", heißt es in dem Aufruf, "und Menschen auf die Straße und in die Säle gebracht. Dieses große Interesse an der Stadt und der Stadtentwicklung gilt es seitens der Stadtplanung zu begleiten und zu unterstützen. Ein dauerhafter Dialog mit der Stadtgesellschaft ... über die Stadtentwicklung und anzustrebende Entwicklungsziele in Stuttgart ist somit nicht nur wünschenswert, sondern unerlässlich." 

Schon die Architekten der Französischen Revolution beschäftigten sich mit der Frage, wie die Demokratie baulich zu bewerkstelligen sei. Étienne-Louis Boullée entwarf ein gigantisches "Palais Municipal" als "Haus für alle", in dem alle Bürger von Paris ihre Anliegen vortragen können sollten. Das Gebäude blieb auf dem Papier, ebenso wie ein noch größeres "Palais National". Sie hätten auch nicht die Frage beantworten können, in welcher Form die Citoyens zu Gehör kommen sollten: auf symbolischer Ebene, durch gewählte Repräsentanten? Oder doch ganz direkt? Paris war damals ungefähr so groß wie heute Stuttgart. Weder baulich noch organisatorisch hätte Boullées Idee funktionieren können - wobei ein Frauenwahlrecht damals noch nicht einmal vorgesehen war. 

Heute gibt es dagegen Verfahren, wie sich der Wille einer Stadtgemeinschaft ermitteln und ein Konsens herstellen lässt. Voraussetzung ist eine aktive Zivilgesellschaft, die es in Stuttgart zweifelsfrei gibt. Sie hat bereits vor vier Jahren selbst einen Vorstoß unternommen: mit einem <link https: www.kontextwochenzeitung.de http: www.architektinnen-fuer-k21.de fileadmin user_upload doku_tagung_stand_20.5.2015.pdf external-link-new-window>Symposium im Rathaus unter dem Titel "Stuttgart für alle". Aus der Ankündigung: "Es wird höchste Zeit für eine öffentliche, breite Diskussion, wohin sich unsere Stadt entwickeln soll." 

Das fordern nun auch die ArchitektInnen - und sie werden noch ein bisschen konkreter. In einer ersten öffentlichen Veranstaltung Ende März in der Uni-Mensa, unter dem mild ironischen Titel "Philosophierkantine", haben sie gezeigt, wie ein Dialog, der die ganze Stadt einbezieht, funktionieren kann. Es müssen nicht alle 600 000 EinwohnerInnen kommen und mitreden, wie sich dies Boullée vor 200 Jahren vorgestellt hat. Aber alle, die etwas zu sagen haben, sollten Gehör finden. In den Worten des Positionspapiers: bürgerschaftliche Initiativen, Stakeholder und Institutionen. 

Stadtentwicklung muss ständig angepasst werden 

Und sie sollten nicht nur einmal Gelegenheit haben, sich einzubringen, wie Anna Bernegg vom Berliner Büro Urban Catalyst Studio betont: also in einem Beteiligungsverfahren, das irgendwann abgeschlossen ist und dann von den Architekten und Fachplanern umgesetzt wird. Städte wandeln sich, die Bewohnerschaft fluktuiert, ständig gibt es neue Entwicklungen, die nicht immer vorhersehbar sind. Wichtig sei, unterstreicht Bernegg, dass die Beteiligung niemals aufhört, dass ein Konzept immer wieder angepasst werden kann. 

Als Fallbeispiel nennt sie Darmstadt, in manchem mit Stuttgart vergleichbar: Die Stadt wächst. Sie ist attraktiv, hat aber ein Verkehrsproblem und will den Flächenverbrauch in Grenzen halten. Die Kernbotschaft, die das Büro aus dem Stadtentwicklungsdialog herauskristallisiert hat, lautete also: Darmstadt wächst klug. Der Weg dorthin führt unter anderem über eine engere Durchmischung von Wohnen und Arbeiten sowie eine bessere Vernetzung der Grünzonen. Wichtig seien auch die Quartiere, so Bernegg, die Teilhabe sichern. Denn hier funktioniert die Beteiligung am besten. 

Ähnliche Erfahrungen hat auch Oliver Seidel gemacht. Sein Berliner Büro Cityförster hat den Perspektivplan Freiburg 2030 und die Raumperspektive Würzburg entwickelt. In Freiburg, das ebenfalls stark wächst und als Universitätsstadt ohnehin ein Wohnproblem hat, sei die vorherrschende Haltung: Bauen ja, aber nicht bei mir. Wie lässt sich mit diesem Problem umgehen? Man müsse die Befürchtungen der Menschen ernst nehmen, dass bestehende Qualität zerstört werden könnte, meint Seidel. Ein Blick aufs Ganze kann dennoch Abhilfe schaffen: Für eine Aufwertung und eine bessere Verbindung der Grün- und Freiräume sind auch die FreiburgerInnen bereit, eine höhere Verdichtung in Kauf zu nehmen. 

Architekten, die Prozesse bauen 

Eine Politik des Gehörtwerdens hatte sich Winfried Kretschmann zu Beginn seiner ersten Amtsperiode auf die Fahnen geschrieben. Das hört sich gut an, geht aber nicht von allein, wie insbesondere Anna Berneggs Ausführungen deutlich machten. Immer wieder müssen widerstrebende Interessen unter einen Hut gebracht werden. Es gebe überhaupt nur sechs Büros in Deutschland, die in der Lage seien, solche Prozesse zu moderieren, erklärt Thomas Herrmann, darunter Cityförster und Urban Catalyst Studio. "Wir sind Architekten, die keine Häuser bauen, sondern Prozesse und Strukturen", sagt Bernegg. 

Nicht die ganze Stadt war zur Philosophierkantine gekommen, eher wieder ArchitektInnen und PlanerInnen. Zwischen den Vorträgen bei Suppe und Wein diskutierten sie weiter und erhielten damit zugleich praktischen Anschauungsunterricht, wie Beteiligung funktioniert. Die vielen guten Ideen, die erfolgreichen Praxisbeispiele, auch der engagierte Vortrag von Elke aus dem Moore, der Direktorin der Solitude-Akademie, die eine autofreie Stadt forderte, schienen weitreichende Veränderungen in greifbare Nähe zu rücken. So verließen viele Anwesende am Ende geradezu euphorisiert den Saal. 

Wie ein Rückfall ins alltägliche Klein-Klein wirkte dagegen die nächste Veranstaltung anlässlich der bevorstehenden Kommunalwahl. Erschienen waren zumeist die Fraktionsvorsitzenden von sieben Stuttgarter Gemeinderatsfraktionen. Alexander Kotz (CDU) schätzt an Stuttgart die topografische Lage, Martin Körner (SPD) die Stadtteile. Beate Schiener (Grüne) will das Verkehrsproblem im Stadtteil Vaihingen mit einer Seilbahn lösen. Und alle betonten die Notwendigkeit des Wohnungsbaus. Doch dann kamen die altbekannten Antworten: Neue Wohngebiete müssten ausgewiesen werden. Die privaten Vermieter – oder je nach Couleur die Genossenschaften – würden es schon richten. 

Alle befanden sich im Wahlkampf-Modus, Moderator Christian Holl mühte sich vergebens, sie ans Thema Stadtentwicklung zu erinnern. Eins wurde klar: Der Anstoß zu einer Debatte, wie sich Stuttgart entwickeln soll, muss von unten kommen: aus der Stadtgesellschaft, moderiert von ExpertInnen. 


Im Rahmen der Initiative Stadtentwicklungsdialog kommt am 15. Mai um 19.30 Uhr Baubürgermeister Peter Pätzold in Haus der Architekten (Danneckerstraße 54).


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3 Kommentare verfügbar

  • Jue.So Jürgen Sojka
    am 21.06.2023
    Antworten
    „Nach so langer Zeit will die Stadtbevölkerung nicht länger warten. Das zeigt die enorme Resonanz, …“
    Nun sind seit April 2019 wieder mehr als vier Jahre in STUTTGART vergangen, und "das Gesicht wahren" ist nach wie vor Bestandteil im Ausbremsen von menschengerechten Entwicklungen in unserer…
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