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Wo ein Bagger steht

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Die Sozialdemokraten in Baden-Württemberg hatten gut 15 Jahre Zeit, sich elegant von Stuttgart 21 zu verabschieden. An Gelegenheiten war kein Mangel, sogar während der Koalitionsverhandlungen mit den Grünen 2011. Woran es fehlte, waren Einsicht und der Mut, Irrtümer zu korrigieren.

Die Pläne lagen auf dem Tisch, als SozialdemokratInnen 1992 in die Landesregierung eintreten mussten. Wegen des Einzugs der rechten "Republikaner" in den Landtag war – abgesehen von rechnerischen, aber komplett abwegigen Mehrheiten – nur eine Große Koalition möglich. Die Wahlen waren schlecht gelaufen für die Roten im Südwesten. Mit 29,4 Prozent lag die Partei nicht nur erstmals unter der 30-Prozent-Schwelle, sondern auch zehn Punkte hinter der CDU. "Schon vor der Kampagne waren Dieter Spöri, Hermann Scheer und ich uns darin einig", schreibt Ulrich Mauer ein Vierteljahrhundert danach, "dass die Lethargie und Verlierermentalität, von der die SPD im Südwesten Deutschlands befallen war, vielleicht nur durch die Übernahme von Regierungsverantwortung durchbrochen werden könnte."

Maurer, damals SPD-Fraktionschef im Landtag und inzwischen bekanntlich bei der Linken gelandet, erinnert an die Quälerei schon während der Koalitionsverhandlungen mit Erwin Teufels CDU. Und weil die Mühen der sozialdemokratischen Minister und Ministerinnen – letztere hätten als "fleißige kompetente Lieschen" gegolten – doch nur dem Regierungschef zugute kamen in der Gunst des Publikums, wollte er die Koalition nach der Halbzeit platzen lassen. Interessant sind die "Sollbruchstellen", die Maurer nennt: eine neue Landesbeschäftigungsgesellschaft, die Menschen in Arbeit bringen sollte, statt sie in die Arbeitslosigkeit zu schicken, und der Umstand, dass das Atomkraftwerk in Obrigheim ohne rechtsgültige Genehmigung immer weiter vor sich hinlief.

Von Stuttgart 21 ist in Maurers Rückblick – "Wars das? Ein Nachruf auf die SPD" heißt sein kürzlich bei VSA erschienenes und lesenswertes Buch – keine Rede. Das hat mit der damals noch jungen Geschichte des Projekts zu tun und damit, dass dessen Fans aus Politik und Wirtschaft wenig Wert darauf legten, den ungeliebten Regierungspartner teilhaben zu lassen. Auf der berühmten Pressekonferenz im Landtag am 18. April 1994 war Dieter Spöri, obwohl Wirtschaftsminister, nicht erwünscht. Das Sextett aus Ulf Häusler und Heinz Dürr von der Bahn, OB Manfred Rommel, Teufel und den beiden CDU-Verkehrsministern aus Bund und Land, Matthias Wissmann und Hermann Schaufler, wollte unter sich sein. Sie wollten die Popularität, die sie sich von dem unterirdischen Vorzeigebahnhof, den Aufträgen und den Arbeitsplätzen versprachen, keineswegs mit den Roten teilen.

Mit S 21 "eine Bombe gezündet"

"Das Projekt war etwas für strahlende Sieger", so Schaufler später. Überhaupt nimmt der quirlige Reutlinger, der 1998 über den Vorwurf der Zweckentfremdung von Geldern der landeseigenen Südwestdeutschen Verkehrs AG stolpert, für sich in Anspruch, das Milliardending aufs Gleis gesetzt zu haben. In einer Fraktionssitzung der CDU in Freiburg sei noch heiß diskutiert worden. Er habe aber die "einmalige Konstellation" zusammengebracht, zuerst zum Hubschrauber-Flug und dann zu jener Pressekonferenz, auf der "kein Kanonenschlägle, sondern eine Bombe gezündet wurde", so der damalige Lokalchef der "Stuttgarter Zeitung" Martin Hohnecker.

Näher befassen muss sich die SPD erstmals mit dem Thema vor den Landtagswahlen 1996 und über den Umweg NRW. Weil die rot-grüne Landesregierung in Düsseldorf in immer neue Probleme kommt, fühlen sich Spöri und Maurer bemüßigt zu erklären, dass im Fall des Falles in Baden-Württemberg alles ganz anders wäre. Die einen und die anderen streuen sich gegenseitig Rosen. Der SPD-Wirtschaftsminister und stellvertretende Ministerpräsident, der so gerne Regierungschef werden wollte, lobt die Grünen als pragmatischer als anderswo in der Republik angesichts der längsten Parlamentserfahrung. "Die SPD im Südwesten ist wesentlich stärker ökologisch orientiert", gibt Grünen-Landeschef Winfried Hermann höflich zurück. Und Fraktionschef Fritz Kuhn nennt die GenossInnen "weniger stur" als jene in NRW.

Der Beweis musste nie angetreten werden. Bei SPD-Ergebnissen von deutlich über 30 Prozent hätten die gut zwölf Prozent, die die wachsenden Grünen bei den Wahlen 1996 auf die Waagschale bringen konnten, vielleicht noch gereicht für einen Regierungswechsel. Inzwischen hielt die Sozialdemokratie im Südwesten allerdings nurmehr 25 Prozent. Ohnehin wären auch damals die Koalitionsverhandlungen eine Quälerei jedenfalls in puncto S 21 geworden. Denn Kuhn und die Seinen wussten ihren Widerstand mittlerweile bestens zu begründen. Mit etlichen parlamentarischen Anträgen hatten sie versucht, Planungsvarianten ins Spiel zu bringen.

Bagger, Arbeitsplätze und Bauaufträge

Als im Januar 1995 die sogenannte Machbarkeitsstudie veröffentlicht wird, warnt Fraktionschef Kuhn vor der "verfrühten Euphorie" und nennt es "in Anbetracht des drohenden Verkehrskollapses im Stuttgarter Raum völlig unzureichend, sich ausschließlich auf den Stuttgarter Tunnelbahnhof für den Fernverkehr zu konzentrieren". Es brauche vielmehr ein neues Gesamtkonzept. Im April 1995 präsentiert eine grüne "Arbeitsgruppe Stuttgart 21/Entwicklungskonzept Filder" ihre Ideen. "Wer heute das 21.Jahrhundert planerisch angeht, muss tragfähige Antworten anbieten können", heißt es. Unter anderem auf die eine Frage, die vor dem Hintergrund heutiger Debatten von beträchtlichem Weitblick der AutorInnen zeugt: "Wie kann die Belastung durch den automobilen Verkehr mit den bekannten Folgen für das Klima deutlich reduziert und Mobilität auf ökologische und sozial verträgliche Art organisiert werden?"

Dass es gerade wegen Stuttgart 21 im Jahr 1996 nie zu einer rot-grünen Regierung gekommen wäre, legt auch der OB-Wahlkampf im Herbst nahe. Der Rechtsanwalt Rezzo Schlauch, im ganzen Land mit seiner Schwertgosch und seiner Leibesfülle bekannt wie ein bunter Hund, will Rommel-Nachfolger werden. Am Ende gewinnt Wolfgang Schuster (CDU) und damit ein glühender Projektfan gegen den erklärten Gegner Schlauch. Denn mit Rainer Brechtken hatte die SPD ebenfalls einen Befürworter ins Rennen geschickt, der wie die Schwarzen mit Arbeitsplätzen und Aufträgen für die heimische Bauwirtschaft argumentiert.

Dass Brechtken seinen grünen Landtagskollegen im zweiten Wahlgang nicht unterstützen will, wird einer der vielen Sargnägel für das Verhältnis zwischen Roten und Grünen. Zur Wahrheit gehört allerdings ebenfalls, dass die Stuttgarter WählerInnen schon damals – der Bahnhof mit den immensen Risiken, etwa für das Mineralwasser, spielt durchaus eine große Rolle im Wahlkampf – den Argumenten der KritikerInnen mehrheitlich nicht folgen mochten. Auch dieser Faden zieht sich bis zur Volksabstimmung 2011 durch.

SPD haucht schlafendem Projekt wieder Leben ein

Paradox wird die Situation ab 1998. Spöri ist Geschichte, die Bundestagsabgeordnete Ute Vogt neue Chefin der Südwest-SPD und vom neuen Kanzler Gerhard Schröder geadelt als "Führungsnachwuchs" der Partei. Die damals 35-Jährige will renommieren mit ihren guten Berliner Kontakten, und Teufel Paroli bieten. Maurer wiederum, noch immer Landtagsfraktionschef, möchte den Ministerpräsidenten ausgerechnet mit "Stuttgart 21" vor sich hertreiben, beklagt sogar, dass das Projekt "vor dem Aus" stehe. Vogt wird beim Kanzler vorstellig.

Im Februar 2001 kommt es wieder einmal zu einem Spitzengespräch. Mit Kurt Bodewig ist der Bundesverkehrsminister inzwischen ein Genosse, es kommt zum "Durchbruch". Das Ergebnis sei "für die künftige wirtschaftliche Entwicklung des Landes von großer Bedeutung, da Baden-Württemberg nun an die großen europäischen Verkehrsadern angeschlossen wird", jubeln Maurer und Vogt. Der Baubeginn wird für 2004 beschlossen, zur Genugtuung der CDU und der im Land längst wieder die Oppositionsbänke drückenden SPD.

Das alles wird begleitet von regelmäßigen parlamentarischen Anfragen und Anträgen der Grünen, von zahlreichen Plenardebatten und nicht zuletzt von diversen SPD-Landesparteitagen, auf denen das Thema immer wieder auf die Tagesordnung kommt. Dafür sorgt vor allem der langjährige Stuttgarter Bundestagsabgeordnete Peter Conradi, der sich nicht damit abfinden willen, wie seine Partei ins "Bahnhofsverderben" (2001) rennt. In der Mehrheit sind die GegnerInnen allerdings nie. Auch wenn schon mal Tricks angewendet werden – einmal verschwindet aus einem Antrag zum Thema Ehrlichkeit bei Planungen der Begriff "Stuttgart 21" und wird durch "Großprojekte" ersetzt –, bleiben die BefürworterInnen erfolgreich.

Gottes Segen und Schmiedels Beitrag

Sogar 2009, als sich mit Hilde Mattheis im Mitgliederentscheid nicht nur eine Parteilinke, sondern auch eine Kopfbahnhofbefürworterin um den Landesvorsitz bewirbt, gemeinsam mit Nils Schmid und Claus Schmiedel. Letzterer nimmt zugunsten des Tiefbahnhofs gleich von zwei Seiten her die Neinsager in die Zange: Einerseits sieht er <link https: www.kontextwochenzeitung.de politik gottes-segen-haelt-4945.html external-link-new-window>den Segen Gottes auf dem Projekt ruhen, und andererseits bringt er mit dem Merksatz "Wo ein Bagger steht, geht's uns gut" das Mantra vom Parteiwohl durch Jobs auf den Punkt. Dass dieses eher schlichte Kalkül die Frage nach Risiken, Kosten und Sinn des Ganzen unter die Räder kommen lässt, ignoriert der wackere Ex-Lehrer aus Ludwigsburg.

Als Sieger geht Schmid aus dem Basisentscheid, der dann das bisher letzte große Kapitel des Niedergangs schreibt. Gemeinsam mit Spöri greift der neue Landesvorsitzende im Sommer 2010 Erhard Epplers Idee auf, das Volk entscheiden zu lassen, sollte bei den Landtagswahlen im Jahr darauf eine gemeinsame Regierung mit den Grünen möglich werden. Noch eine Chance, endlich aus Fakten Konsequenzen zu ziehen. Stattdessen bleibt die SPD bei ihrem sturen Ja. Schon die grün-roten Koalitionsverhandlungen hängen hier 2011 am ganz dünnen Faden. Und danach suchen viele GenossInnen den Schulterschluss mit CDU und FDP, um den "Abstimmungskampf", wie Winfried Kretschmann sagt, zu gewinnen.

Der Ausgang ist bekannt: Die Befürworter gewinnen, mit Fritz Kuhn zieht wenig später ein Gegner als OB ins Stuttgarter Rathaus ein, ausgegeben wird die Parole von der "kritischen Begleitung", die "Stuttgart 21" wohl oder übel zuteil wird. Zugleich dürfen die Grünen erleben, wie sich Lenkungskreis für Lenkungskreis, DB-Aufsichtsratssitzung für DB-Aufsichtsratssitzung alle ihre Gegenargumente nach und nach bestätigen – ohne jene Chance auf eine parlamentarische Mehrheit zum späten, aber nicht zu späten Ausstieg.

Und die SPD? Die versinkt in der Landeshauptstadt in der Bedeutungslosigkeit und ist im Landtag mittlerweile die zweitkleinste von fünf Parteien. Das hat gewiss viele Ursachen, ganz hoch im Ranking aber steht auf jeden Fall: das Fehlen von Einsicht und der Mut, gravierende Irrtümer zu korrigieren.


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