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Vorauseilende Räumung

Vorauseilende Räumung
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Vor seiner Wahl wollte Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn das öffentliche Interesse vor die Interessen von Großinvestoren stellen. Auch beim Wohnungsbau. Seit seinem Amtsantritt geschieht im grün geführten Rathaus konsequent das Gegenteil.

Nüchtern betrachtet, ist folgendes passiert: 18 Tage lang war die Forststraße 140 besetzt und belebt. Seit dem vergangenen Donnerstag, 28. März, steht das Gebäude im Stuttgarter Westen wieder leer, alle fünf Stockwerke mit ihren mehr als 20 Zimmern sind geräumt. Veranlasst hat es das städtische Ordnungsamt, ausgeführt eine Hundertschaft der Polizei. In den Briefkästen hatten die Hausbesetzer Post gefunden, die noch aus D-Mark-Zeiten stammt. Eine Ausgabe der Werbezeitschrift "West-Blättle" ist auf den Juli 1998 datiert.

Obwohl das Haus jahrelang leer gestanden hat, lag für Ordnungsbürgermeister Martin Schairer (CDU) "keine unerlaubte Zweckentfremdung vor". Ein geplanter Umbau des Gebäudes sei schon 2017 genehmigt worden und dann habe der Eigentümer gewechselt, ließ er wissen. Zudem liege hier ein "rechtswidriger Zustand" vor, nämlich Hausfriedensbruch, "der nicht mehr geduldet werden" könne. Vorausgegangen war ein Versuch der Stadt, zwischen den Anwälten der Eigentümer (die nicht erschienen waren) und den Besetzern zu vermitteln, wobei es nicht gelungen sei, sich auf "einvernehmliches Ende der Besetzung" zu einigen. Schairer gab den Besetzern noch die Botschaft mit auf den Weg, dass die Stadt "mit Hochdruck" an der Schaffung von neuem bezahlbaren Wohnraum arbeite. Keine 48 Stunden später begann die Räumung.

Achtung Achtung, die Hausbesetzer könnten sich festsetzen!

Und das offenbar in vorauseilendem Tatendrang: Die Eigentümer der Immobilie hatten nach Informationen von Kontext zwar eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch gegen die Besetzer erstattet, aber kein Gericht hat bisher darüber entschieden. Stattdessen hat die Stadt eigenmächtig eine Verfügung erlassen, um eine "Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit" abzuwenden, wie Stefan Praegert vom städtischen Ordnungsamt erläutert. Konkret bestehe die Gefahr darin, dass sich "durch das dauerhafte Tolerieren einer Straftat ein Zustand verfestigen könnte, der sich anschließend schwieriger beseitigen lässt".

Polizeisprecher Stefan Keilbach wiederum legt Wert auf die Feststellung, dass diese Einschätzung von der Stadt stammt. "Die Polizei ist heute nur dafür zuständig, die Verfügung durchzusetzen", betont Keilbach während der Räumung, an der mehr als 100 Einsatzkräfte beteiligt waren.

Ein weitreichender Beschluss in der Anonymität einer Behörde? Der Ordnungsvertreter Praegert jedenfalls betont, es habe weder von Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) noch von Schairer eine Anweisung gegeben. "Die Hausspitze des Ordnungsamts hat das intern beraten und ist dann eigenständig zu dieser Einschätzung gelangt", sagt er. Wer Kuhn und seine Neigung kennt, alles kontrollieren zu müssen, dürfte daran zumindest Zweifel haben.

Sapperlot: 2400 Euro Bußgeld für zwei Zweckentfremdungen

Wie sich die Zeiten ändern: Vor seinem Amtsantritt 2013 hatte Kuhn noch angekündigt, "bei der Bauplanung das öffentliche Interesse vor die Interessen von Großinvestoren" zu stellen. Gegen den Leerstand in einer Stadt, in der Menschen verzweifelt nach finanzierbarem Wohnraum suchen, wollte er entschieden vorgehen. Seit 2016 gibt es in der Stadt ein Zweckentfremdungsverbot, das allerdings nicht rückwirkend gilt: Immobilien, die schon vor dem Stichtag unbewohnt waren, können damit nicht herangezogen werden. Allen anderen droht, sofern sie ihren Wohnraum ohne plausible Begründung leer stehen lassen, ein Bußgeld von bis zu 50 000 Euro. Die Betonung liegt auf "bis zu", denn die bisher verhängten Strafzahlungen (zwei an der Zahl) haben der Stadt die stolze Summe von insgesamt 2400 Euro eingebracht.

Noch im Oktober 2015 hatte der grüne Oberbürgermeister vorgerechnet, dass allein durch das Zweckentfremdungsverbot bis zu 3100 leerstehende Wohnungen wieder dem Markt zugeführt werden könnten. Im Juli 2018 zieht der damalige Finanzbürgermeister Michael Föll (CDU) eine positive Zwischenbilanz und bezeichnet das Verbot als "erfolgreich". Heute, im April 2019, teilt die Stadt nun auf Anfrage mit, dank der Satzung gegen Zweckentfremdung sind "über 60 Wohnungen wieder auf den Markt gekommen".

Dabei ist der Stadt gar nicht bekannt, wie viele Häuser in Stuttgart tatsächlich leer stehen. Laut dem Zensus 2011 sind beziehungsweise waren es 11 000 Wohneinheiten. Eine Zahl, die das Rathaus als veraltet zurückweist. "Experten schätzen, dass rund 1 Prozent der Wohnungen leer steht", teilt ein Sprecher zum Stand 2019 mit. Das entspräche etwa 3000 Wohneinheiten. Belastbar ist das jedoch nicht, denn es handelt sich nur um eine Schätzung und nicht um eine statistische Erfassung: Genau weiß es niemand, heißt es aus dem Rathaus. Inzwischen wird sogar eine Trendumkehr behauptet Seit der "Generaldebatte Wohnen", die vor einem Jahr im Stuttgarter Gemeinderat geführt wurde, ist zu vernehmen, beim sozialen Wohnungsbau sei die "Trendumkehr geschafft" (Föll). Darunter ist jedoch nicht zu verstehen, dass es in Stuttgart bald mehr günstigen Wohnraum als bisher geben wird. Es heißt lediglich, dass der vorhandene nicht mehr ganz so schnell verschwindet wie in den vergangenen Jahren. Das Saldo der Sozialwohnungen ist auch nach jüngeren Prognosen noch langfristig negativ: Ihre Zahl sank von etwa 22 000 in den 90er Jahren auf 14 443 im Jahr 2017. Bis 2024 sollen es nach den Berechnungen der Stadt noch 14 137 sein. Dagegen wären laut ihrem Wohnberechtigungsschein etwa 100 000 Haushalte in Stuttgart berechtigt, eine mit öffentlichen Mitteln geförderte Wohnung zu beziehen.

Innenentwicklung ist längst nicht ausgeschöpft

Auch das Stuttgarter Innenentwicklungsmodell (SIM) bleibt bislang hinter den eigenen Ansprüchen zurück. Danach sollten bei größeren Bauprojekten mindestens ein Fünftel der entstehenden Wohnungen zu Sozialmieten zu haben sein. Von den insgesamt 6500 Wohneinheiten, die zwischen März 2011 und Anfang 2018 entstanden sind, trifft das allerdings nur auf 151 zu. Also gut zwei Prozent statt der beabsichtigten 20 Prozent. Von 1300 Sozialwohnungen, die für das Jahr 2015 geplant waren, sind laut einem Bericht der "Stuttgarter Nachrichten" <link https: www.stuttgarter-nachrichten.de inhalt.wohnungsnot-in-stuttgart-staedtischer-wohnbau-statt-1300-nur-21-sozialwohnungen.0ac72462-034d-4700-950e-a691267a91bf.html _blank external-link-new-window>nur 21 auch tatsächlich fertiggestellt worden. Bundesweite Beachtung fand die erste Hausbesetzung in Stuttgart seit den 90ern im vergangenen Sommer: Eine junge Familie und eine Alleinerziehende mit Kind wollten auf die brutale Wohnungsnot aufmerksam machen und zogen in die Wilhelm-Raabe-Straße 4 ein. "Nicht legal, aber legitim", wie sie sagten.

Diesen Mittwoch beginnt nun die Verhandlung gegen sie wegen Hausfriedensbruch. Gegen einen Strafbefehl, den das Stuttgarter Amtsgericht ohne Anhörung der Beteiligten erließ, legten sie Einspruch ein. Demnach sollten sie eine Strafe von insgesamt 4300 Euro zahlen – beinahe doppelt so viel, wie die Stadt in knapp 2,5 Jahren durch ihr Zweckentfremdungsverbot eingenommen hat.

Die ehemals besetzten Wohnungen in der Wilhelm-Raabe-Straße wurden Ende Mai 2018 durch den Staat geräumt und stehen seitdem leer. Auch zehn Monate danach haben die Sanierungen, die die Eigentümer angekündigt hatten und schnell durchführen wollten, noch nicht einmal angefangen. Ein Bußgeld wegen Zweckentfremdung hat die Stadt bislang nicht verhängt. Die Arbeiten seien inzwischen beauftragt, teilt ein Sprecher mit. Sie sollen "demnächst" beginnen.


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4 Kommentare verfügbar

  • Karl Heinz Siber
    am 04.04.2019
    Antworten
    Fritz Kuhn wird wohl in die Stuttgarter Stadtgeschichte eingehen als der OB, der den Fernsehturm sperren ließ. Von sonstigen überliefernswerten Leistungen dieses Stadtoberhaupts ist nichts bekannt.
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