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Unanständig

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Baden-Württembergs CDU-geführte Landesregierungen waren immer stolz auf ihre Pionierarbeit in der Analyse von Umweltdaten. Weil es VerkehrspolitikerInnen aber seit Jahren am Mut zur Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse mangelt, wird ExpertInnen nun unterstellt, ihre Arbeit nicht gut zu erledigen.

Die Falken geben den Ton an. "Wir dürfen den Öko-Stalinisten nicht das Feld überlassen!", ruft Joachim Pfeiffer, der Waiblinger CDU-Bundestagsabgeordnete, am Samstag auf dem Stuttgarter Schlossplatz in die überschaubare Menge von ein paar hundert ZuhörerInnen. Dabei hatten gleich drei Kreisverbände – federführend die FDP, dazu CDU und Freie Wähler – mobil machen wollen gegen Dieselfahrverbote in der Stadt, natürlich gegen die Grünen und gegen die Deutsche Umwelthilfe. Die ist für Pfeiffer, den strammen Hauptmann der Reserve, wahlweise ein "semikrimineller Abmahnverein", ein "politischer Tendenzbetrieb" oder die "fünfte Kolonne der Grünen".

Pfeiffer, Jahrgang 1967, ist Betriebswirt und hat promoviert über "Die Rechtsformentscheidung der öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger auf dem Gebiet der Abfallentsorgung in Baden-Württemberg". Seit 2002 im Bundestag, ist er mittlerweile aufgestiegen zum wirtschafts- und energiepolitischen Sprecher seiner Fraktion. Ganz persönlich hat er sich eine Agenda 2030 mit zehn Punkten gegeben, Klima- und Umweltpolitik kommt nicht vor. Trotzdem spielt er sich, analog zu den Millionen deutschen Fußballtrainern auf ihren Sofas, zum Schadstofffachmann auf: "Schon wenige Meter neben einer Messstation sind die Werte allerdings häufig bis um die Hälfte niedriger."

Auf einmal sei "jeder, der Luft einatmet, ein Luftexperte", wundert sich Edgar Neumann, der Sprecher im Verkehrsministerium und lobt die eigenen, die echten Experten, zum Beispiel aus der "Abteilung 4 Nachhaltige Mobilität". Mit viel Erfahrung, Wissen und einer großen Portion Gelassenheit quittieren die Mitarbeitenden die immer schrilleren Anwürfe von Leuten, die in Diesel-Fahrverboten eine Art Gottseibeiuns zu sehen scheinen. "Herr, wirf Hirn ran", entfährt es sogar dem Ministerpräsidenten, der die DemonstrantInnen in der CDU und FDP direkt angeht: Da würden Geschichten erzählt, "um eigene Spuren zu verwischen".

Fakten werden absichtlich verdreht

Besonders ehrenrührige Plakate hat die FDP am Samstag auf den Schlossplatz mitgebracht: "Lieber nicht messen, als falsch". Falsch ist nicht nur das Komma in dem schrägen Appell, sich besser mit schlechter Luft abzufinden als Diesel-BesitzerInnen seit Jahren diskutierte Fahrbeschränkungen zuzumuten. Absichtlich werden Fakten verdreht, Informationen durch Verkürzung entstellt. "Der Trumpismus geht um", bedauert ein Mitarbeiter der Karlsruher Landesanstalt für Umwelt und Messungen (LUBW). Die wurde, damals bundesweit einmalig, Mitte der Siebzigerjahre gegründet. Inzwischen untersuchen dort 550 Fachleute mit einem Jahresbudget von 65 Millionen Euro "Umweltprobleme unabhängig und neutral, stellen Daten und Informationen zeitnah und in hoher Qualität zur Verfügung und liefern wichtige Entscheidungshilfen für Politik und Verwaltung".

Die von ihnen erhobenen Werte zur Luft sind seit 2008 umfassend dokumentiert und jederzeit abrufbar. Und niemand muss Mathe, Physik oder Chemie studiert haben, um die Gründe für die derzeit so umstrittene Aufstellung der Messstellen zu verstehen: Der Abstand zum Straßenrand und zum Gehweg ist jeweils exakt ausgewiesen, die Höhe, der Winkel, die sogenannten Passivsammler sind gerade am Neckartor 22, wie es offiziell heißt, leicht ausfindig zu machen. Etwa die drei Sammler an den Gebäuden Neckartor 20 und 18 sowie an einem Baum, allesamt 239 Zentimeter hoch und unübersehbar. Jede Messstelle muss von Rechts wegen eine Aussagekraft für 100 Meter Umgebung haben. Alle technischen und rechtlichen Vorgaben sind an allen Orten im Land erfüllt. Selbst Fahrverbotskritiker mit Fachwissen, wie Thomas Koch, Professor am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), halten es für töricht, sich an den Standorten und Stationen abzuarbeiten, namentlich an der am Stuttgarter Neckartor.

Kaum war Steffen Bilger (CDU) Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium, zweifelte er öffentlich die Fähigkeit der zuständigen Profis im Land an, europäische Vorgaben korrekt umzusetzen. Bei "einigen Standorten" müsse das "kritisch hinterfragt" werden, verkündete er über die natürlich dankbare "Bild"-Zeitung. Und auch er unterstellte den zuständigen Mitarbeitern vorsätzlich falsches Messen mit der Forderung, neue Stationen sollten "objektive Werte ermitteln und nicht die schlechtestmöglichen".

Echte Fachleute sind skeptisch

Die dreisten Diskreditierungsversuche haben System. Schließlich begegnen sich ExpertInnen und PolitikerInnen beim Thema Fahrverbote unentwegt bei den verschiedensten Anlässen. Eben erst fand im Umweltausschuss des Bundestags eine Anhörung zu den Plänen der Bundesregierung statt, per Bundes-Immissionsschutzgesetz den Grenzwert für die Stickstoffdioxid-Belastung von EU-Wert 40 auf 50 Mikrogramm anzuheben. Da hätte auch FDP-Generalsekretärin Judith Skudelny hören können – und müssen –, wie skeptisch die zehn geladenen Fachleute den Versuch bewerten, an europarechtlichen Vorgaben herumzuschrauben, um weitere Fahrverbote zu vermeiden. Besonders hart urteilte Professor Remo Klinger, der die DHU vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig vertreten hatte: "Der Gesetzentwurf ist eine Totgeburt." Irreführend sei es unter anderem, den Bürgern den Eindruck zu vermitteln, dass es unterhalb einer Belastung von 50 Mikrogramm pro Kubikmeter nie zu Fahrverboten kommen könne.

Indessen zählt Skudelny mit zu denen, für die Fakten nur noch wenig bedeuten. "Tatsächlich sind wir als Partei und ich als Person schon lange gegen die Fahrverbote aktiv", posaunt sie nach der Demo am Samstag per Facebook. Und weiter: "Ich hab' neulich sogar mal etwas in den Archiven gegraben und Beschlüsse der Partei aus 2013 (!) gegen Feinstaub gefunden. Damals gab es das Thema NOX in der heutigen Form noch gar nicht." Und zur Lage in Stuttgart schreibt die Juristin: "Keine Umgehungstraßen, keine intelligente Verkehrsführung, keine alternativen Standorte für die Messstellen, hundsmiserable Prozessführung, keine Berufung."

Noch ärgerlicher ist, wenn Politiker, die selber lehren, nicht auf ExpertInnen hören. CDU-Fraktionschef Wolfgang Reinhart trägt den Professor im Namen und ist seit mehr als 30 Jahren an der Hochschule Heilbronn tätig. Ungezählte Diskussionen zum Thema Dieselfahrverbote hat er geführt, vielen Fachleuten hat er zugehört. Zum Beispiel im vergangenen November auf der Delegiertenversammlung des Verbandes des Kraftfahrzeuggewerbes, als Udo Weese aus der "Abteilung 4 Nachhaltige Mobilität" im Verkehrsministerium viele Details zur Herangehensweise vorstellte. Darunter, wie die EU-Richtlinie in Zusammenarbeit mit der Weltgesundheitsorganisation tatsächlich überarbeitet werden könnte: allein, um die Grenzwerte zu senken, zum Beispiel den für Stickstoffdioxid von 40 auf 20 Mikrogramm. Professor Reinhart sieht sich deshalb aber noch lange nicht gehindert, nach einem Moratorium zu rufen: Der Bund möge sich auf europäischer Ebene dafür einsetzen, dass Grenzwerte vorläufig außer Kraft gesetzt werden, "bis eindeutige wissenschaftliche Fakten vorliegen". Damit nicht, so Chef der CDU-Landtagsfraktion, mit weiteren Fahrverboten weitere Fakten geschaffen werden. Denn: Neue EU-Grenzwerte würden auch neue Debatten auslösen.

Verkehrsminister Scheuer wird spöttisch belächelt

Stimmt, twittert Umweltkommissar Karmenu Vella. Nur die Konsequenzen sind entgegengesetzt: "Unsere letztes Jahr gestartete Überprüfung klärt, ob die Werte streng genug sind, um die Ziele unserer Politik zu erreichen (...) Die Grenzwerte, wenn verändert, würden nur STRENGER." Und der wichtigste Deutsche, der sich in Brüssel gerade für eine Überprüfung einsetzt, Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU), muss sich unter EU-ExpertInnen derzeit milde bis spöttisch belächeln lassen: Sein Haus hat es nicht mal geschafft, den offiziellen Vorstoß an den zuständigen Kommissar zu adressieren.

Für Stuttgart hat Innenminister Thomas Strobl (CDU) jetzt erst einmal die Aufstellung von 50 neuen Messstellen durchgesetzt. Im März soll es so weit sein, im Juni könnten die gesammelten Werte vorliegen. Wahrscheinlich wollen Pfeiffer oder Skudelny, Bilger oder Reinhart dann sogar mit ins Labor, um sicher zu stellen, dass die SpezialistInnen auch richtig analysieren. Wirkliche Fachleute im Verkehrsministerium und bei der LUBW erwarten keine großen Überraschungen. Schon allein deshalb, weil eine Modellrechnung, die auf Basis der Daten aus dem Jahr 2015 erstellt worden war, sich bisher als bemerkenswert zielgenau erwiesen hat. Das Zwischenfazit: Die Luft in der Neckarmetropole wird besser, aber eben nicht gut genug. Die Länge der belasteten Straßen schrumpft im nächsten Jahr von 87 auf 16 Kilometer, davon befinden sich gut die Hälfte im Talkessel.

Dass weniger Verkehr die größten Erfolge bringt, ist unter allen Kundigen unumstritten. Und viele der Maßnahmen, für die Reinhart und der wirtschaftspolitische Sprecher der CDU-Fraktion Claus Paal beharrlich werben – möglichst immer mit Seitenhieben auf den grünen Verkehrsminister Winfried Hermann –, sind alte Bekannte. "Es wurde sehr viel getestet", sagt Weese, zum Teil schon vor Jahren. In Holland gab es beispielsweise schon vor zehn Jahren in einem immerhin 20 Millionen Euro teuren Projekt die fotokatalytische Beschichtung von Wänden. Im Labor wurden Wirkungen gemessen, die aber im Straßentest ausblieben, weil "die Schadstoffe die Wand einfach nicht erreichen". Oder in München die NO2-Minderungseffekt durch titanhaltige Oberflächen. Auch da blieb ungeklärt, "ob die Stickoxide aufgrund der Turbulenzen, die insbesondere bei stark befahrenen Straßen einen dominanten Effekt ausüben, überhaupt in ausreichendem Maß die behandelten Oberflächen erreichen und dort chemisch reagieren können". Trotzdem läuft in Stuttgart derzeit ein weiterer Versuch.

Überhaupt wird in der neuen IMA, der zweiten interministeriellen Arbeitsgruppe, die der ersten, seit Monaten intensiv arbeitetenden, zur Seite gestellt wurde, Grund gemacht zum Stand aller Bemühungen, zu den Ideen und Vorschlägen. Die erste Sitzung am vergangenen Montag hatte Volkshochschulcharakter – selbst im Staatsministerium mussten sich die Verantwortlichen eingestehen, dass das Verkehrsministerium korrekter arbeitet, als die CDU immerfort behauptet. Ob die Erkenntnis, dass von Verschleppung oder Verzögerung im Hause Hermann beim Diesel-Thema keine Rede sein kann, Thomas Strobl erreicht, bezweifeln selbst Mitarbeiter im eigenen Innenministerium.

Auch der, immerhin stellvertretender Vorsitzender der Bundes-CDU, will sich mit Details und Feinheiten beim populären Fahrverbotebashing nur selten aufhalten und kritisiert viel lieber aus der Hüfte. So gesehen darf er sich von Kretschmanns väterlichem Rat, vor allem an die CDU-Demonstranten, an Pfeiffer und den Stuttgarter Kreisvorsitzenden Stefan Kaufmann, durchaus mitangesprochen fühlen: "Man denkt mit dem Hirn und nicht mit dem Bauch." Mehr Anstand wünscht sich der Grüne und mehr Vernunft. Aber Politik, zumal in der Koalition mit den Schwarzen, ist eben nicht nur kein Ponyhof, sondern erst recht kein Wunschkonzert.


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1 Kommentar verfügbar

  • Jue.So Jürgen Sojka
    am 13.02.2019
    Antworten
    Unanständig! Die Behauptung, dass die CDU B-W stolz auf ihre Pionierleistung in der Analyse von Umweltdaten sein kann. Das eigene FEHLVERHALTEN schön reden, nennt sich das.

    Das genaue Gegenteil ist Tatsache!!! – Die Verantwortlichen in dieser Partei, ihre Anhänger und Sympathisanten waren zu keinem…
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