KONTEXT:Wochenzeitung
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Nischenprogramm Europa

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Die EU steckt in einer tiefen Krise. Das hat viele Gründe, darunter Gleichgültigkeit und Unwissen in der Bevölkerung. Grün-Schwarz will dem mit einem neuen europapolitischen Leitbild begegnen, erarbeitet in Fachforen und dank des Engagements zufällig ausgewählter BürgerInnen.

Fast ein Jahr lang wurde debattiert, <link https: europadialog.baden-wuerttemberg.de external-link-new-window>eine Internetseite ist geschaltet, alle Beratungen, Dialoge und Erörterungen sind umfangreich protokolliert. Promis wie EU-Kommissar Günther Oettinger waren vor Ort, um sich der Kritik zu stellen, und Jean-Claude Juncker gab zum 1000. Europadialog der EU Freiburg die Ehre. Es sei ernsthaft an der Zeit, die Zukunft des Kontinents gemeinsam in die Hand zu nehmen. Das sagt er vier Jahrzehnte nach der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments und mit Blick auf den Urnengang im Mai. Allerdings verhallen solche Appelle seit langer Zeit.

An Erklärungen mangelt es nicht: vom falschen, weil zu unattraktiven und daheim schon ausgemusterten politischen Personal in Straßburg und Brüssel über viel zu hohen Erwartungen bis hin zum demokratischen Konstruktionsfehler, weil das Parlament keine Regierung wählt. Und ganz allgemein herrschen, wie die "Zeit" sie nennt, eine "weit verbreitete EU-Bürokratie-Allergie" und abenteuerliche Vorstellungen von einem maßlos aufgeblähten Apparat. Dabei sind die rund 70 000 Beschäftigten in der Verwaltung gerade mal das Doppelte des Mitarbeiterstabs einer einzigen deutschen Großstadt wie beispielsweise München.

Von der Aushöhlung der Demokratie und Hinterzimmerkungelei reden die einen, von Effizienz die anderen, und Dritte wissen wenig bis gar nichts von solchen Mechanismen oder der Verteilung der Macht. Um da Licht ins Dunkel zu bringen und Fehleinschätzungen entgegenzuwirken, hat Baden-Württemberg unter Vorsitz von Guido Wolf (CDU), Justiz- und Europa-Minister, seit Juni 2018 an einem "Leitbild Europa" gearbeitet. Anfang der Woche wurde es in Brüssel übergeben. Experten haben in Fachforen über Jugend, Innovationen, Kommunen und Sicherheit diskutiert, außerdem wurde in vier Bürgerdialogen (Rastatt, Bad Mergentheim, Tuttlingen und Ravensburg) mit jeweils bis zu 60 zufällig ausgewählten BürgerInnen Fragen rund um Europa diskutiert. Immer wieder ging es auch in den BürgerInnen-Dialogen um als abgehoben empfundene EurokratInnnen, um fehlende Nähe und Informationen. "Mehr Berichterstattung in den Medien über die EU" verlangt das Protokoll der Stuttgarter Beratungen im vergangenen Oktober. Und noch eine Kernbotschaft formulierten die BürgerInnenräte: "Mehr Europa in den Unterricht."

Der Nachholbedarf in den Schulen ist beträchtlich

Die bildungspolitischen Passagen im neuen Leitbild sind denn auch der Lackmus-Test dafür, wie ernst es Grün-Schwarz wirklich mit dem neuen europäischen Aufbruch ist. Anders als in anderen Bereichen kann die Landesregierung in eigener Zuständigkeit handeln, um "die Auseinandersetzung mit Europafragen im Rahmen der Demokratiebildung an seinen Schulen weiter zu stärken". In Zusammenarbeit der Schulen mit Partnereinrichtungen "soll ein tieferes Verständnis der Geschichte der EU und der Funktionsweise ihrer Institutionen vermittelt werden, auch könnte beim Geschichtsunterricht ein Wechsel der historischen Perspektive mit dem Blick der Nachbarn hilfreich sein".

Soll? Könnte? Warme Worte mit klaren Vorgaben zu füllen, sieht anders aus. Dabei ist der Nachholbedarf beträchtlich. "Bildung für Europa beginnt im Klassenzimmer", schreibt Kultusministerin Susanne Eisenmann im "Praxishandbuch Go Europe", das in der mageren Auflage von gerade mal 1 000 Stück produziert wurde. Angepriesen werden die unterschiedlichen Möglichkeiten der Zusammenarbeit, gemeinsame Projekte und Programme, von "Comenius" bis zu "Erasmus+". Pikant, dass der Text selber gängige Klischees nährt: "Schulen, die noch keine Erfahrung mit europäischen Bildungsprogrammen gemacht haben, sollten sich von einer manchmal bürokratisch anmutenden Antragstellung nicht abschrecken lassen."

Natürlich sind die deutsch-französische Aussöhnung, die Römischen Verträge, die EWG, die EU, der Vertrag von Maastricht oder der Schengen-Raum Teil heutiger Bildungspläne – für Gymnasien, Real- und Hauptschulen. Belastbare Erkenntnisse, wie es um das tatsächliche Wissen in der Schülerschaft steht, gibt es allerdings keine. Noch nie sind die für die inzwischen so zahlreichen Vergleichsstudien zuständigen ExpertInnen auf die Idee gekommen, neben Deutsch und Englisch, Mathe und den Naturwissenschaften mal Geschichte oder Gemeinschaftskunde oder den Politikunterricht in den Blick zu nehmen.

Und die Zahl der Schulpartnerschaften unterstreicht erst recht, dass Europa bestenfalls ein Nischenprogramm ist. Laut einer Antwort Eisenmanns auf eine SPD-Anfrage sind aus dem mit fast 15 Milliarden Euro gefüllten Brüsseler "Erasmus +"-Topf gerade mal an 52 Gymnasien im Land Gelder geflossen, außerdem an nur eine einzige Haupt-, eine einzige Werkreal- sowie 15 Realschulen. Der Austausch von Schülergruppen etwa mit Polen stagniert bei unter 300, der mit Frankeich ging signifikant zurück auf 222.

Im Leitbild fordert die Landesregierung Hilfe von Kommission und EU-Parlament für Reisen von SchülerInnen – finanziell wie organisatorisch. Dabei gibt es längst entsprechende und zudem umfangreiche Programme. Das Spannungsfeld zwischen Bemühen und Verständlichkeit, darum, Interesse zu wecken, und der Gefahr, sich im Unverbindlichen zu verlieren, wird sichtbar in den vielen Bekenntnissen des Leitbilds: zu einer EU, "die ihre gemeinsamen Werte lebt", die "von unten aufgebaut ist" sowie "handlungsfähig, rechtsstaatlich und demokratisch", die "Wohlstand und soziale Sicherheit bringt" oder "die Schöpfung und die natürlichen Lebensgrundlagen bewahrt".

Dass Bring- und Holschuld zwei Seiten einer Medaille sind, unterstreicht beispielsweise der Hinweis auf die Bedeutung einer europäischen Öffentlichkeit und insbesondere auf eine tiefere und breitere Auseinandersetzung mit der EU in den Medien. Dabei werden nicht nur alle Plenardebatten im Netz übertragen, sondern zudem sämtliche Ausschusssitzungen. Sogar Pressekonferenzen sind ohne jede Barriere live zu sehen und jederzeit in der Mediathek abrufbar. Von allen umfassend dokumentierten Grün- oder Weißbüchern und den zwar ausbaufähigen, aber immerhin vorhandenen Transparenzregistern ganz zu schweigen.

Und schließlich gibt es <link http: www.europe-direct-stuttgart.de external-link-new-window>"Europe direct"-Büros in Ulm und Karlsruhe, in Freiburg oder Stuttgart mit diversen Angeboten, Links und Möglichkeiten für Praktika. Wer Publikationen anklickt, wird weitergeleitet zum Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union und darf sich die Augen reiben, wie viele Studien, Statistiken und Infos vorgehalten werden. Es gibt dort sogar eine "Kinder-Ecke", und auch eine Bestseller-Liste wird ständig aktualisiert. "Die EU und ich" ist besonders beliebt oder "Europa in 12 Lektionen".

Der Brexit müsste mahnendes Beispiel sein

Aber wie sind damit die vielen Nichtinteressierten zu erreichen, die Gleichgültigen oder die Grollenden, die mit Europa nichts am Hut haben und haben wollen? Immer wieder kamen die BürgerInnendialoge des Landes auf das Thema Jugend zu sprechen, die gerade im Wahljahr stärker für die EU interessiert werden müsse, speziell die ErstwählerInnen.

Denn spätestens seit der Volksabstimmung zum Brexit muss ein großes Thema sein, wohin es führt, wenn entscheidende Teile des Publikums zu bequem, zu passiv, zu wenig informiert sind, um ihr Wahlrecht wahrzunehmen. "Weit über 70 Prozent der Unter-30-Jährigen waren für den Verbleib Großbritanniens in der Union, aber nur 30 Prozent sind zur Wahl gegangen", beklagte Martin Schulz <link https: www.kontextwochenzeitung.de kultur die-herkunft-der-busfahrer-5651.html _blank external-link>kürzlich bei einer Veranstaltung im Stuttgarter Literaturhaus.

Gerade das Thema ErstwählerInnen ist für Baden-Württemberg nicht neu: Schon vor fast zwei Jahrzehnten hatte der damalige CDU-Ministerpräsident Erwin Teufel eine Diskussion zum Thema "Jung, dynamisch, Nichtwähler?" veranstaltet, bei der unter anderem "der Niedergang einer als verbindlich betrachteten Wahlnorm" beklagt wurde. Taten folgten den Worten nicht. Erst recht nicht, als sich die dramatisch niedrige baden-württembergische Wahlbeteiligung von knapp 41 Prozent 1999 bei der fünften Europawahl 2004 wieder leicht erholte auf 54.

Eine Strategie, das Interesse zu beleben, könnte mehr direkte Demokratie sein. "Für eine europäische Öffentlichkeit sind auch Formen der Bürgerbeteiligung wichtig", heißt es im Leitbild der Landesregierung. Und dazu, nicht nur aus Sicht von Stuttgart-21-GegnerInnen einigermaßen schöngefärbt: "Baden-Württemberg hat gute Erfahrungen mit Bürgerbeteiligungen gemacht, insbesondere mit dem Verfahren, für Dialogformate Zufallsbürgerinnen und -bürger auszuwählen." Die Hoffnung, dass im Mai 2019 die Kombination mit den Kommunalwahlen einen weiteren Anstieg bewirkt, ist allerdings reichlich optimistisch. Schon bei der Wahl der Gemeinde- und KreisrätInnen 2014 blieb erstmals mehr als die Hälfte der Berechtigten dem Wahllokal lieber fern.

Winfried Kretschmann nennt 2019 jedenfalls ein Schicksalsjahr und warnt vor dem erstarkenden Nationalismus. Im Bemühen um Volksnähe und Verständlichkeit findet er einen ebenso drastischen wie schrägen Vergleich: Die Probleme mit Nationalismus kurieren zu wollen, das sei so schlau, wie ein gebrochenes Bein mit konzentrierter Schwefelsäure zu behandeln: "Der Bruch wäre anschließend verschwunden, aber das Bein auch." Europaminister Wolf verspricht sogar, dem Leitbild das Schicksal von Zehntausenden anderen Broschüren zum Nutzen der EU zu ersparen: "Das ist kein Papier für die Schubladen", sagt er. Fast genau vier Monate bleiben noch bis zur Europawahl, aus den vielen schönen Vorsätzen ständige Alltagspraxis zu machen.


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6 Kommentare verfügbar

  • Charlotte Rath
    am 25.01.2019
    Antworten
    „Die Gleichgültigkeit und Unwissenheit der Bevölkerung“ trifft laut der Subheadline dieses Artikels eine Mitschuld an der EU-Krise. :o) Helau - Ajoo!

    Wenn ich weiß, dass die EU-Landwirtschaftskommission es fertig bringt, zugleich die Erschließung neuer Märkte zu subventionieren (weshalb die…
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