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Wenn schon legale Einwanderung, dann wenigstens bedarfsgerecht: Diese Vorstellung wird durch die neuen, von der Großen Koalition in Berlin erdachten "Eckpunkte zur Fachkräfteeinwanderung" zusätzlich befeuert. Weil es statt um Menschen vor allem um deren Relevanz für die Volkswirtschaft geht.

1990: Heiner Geißler, damals CDU-Generalsekretär, schreibt im "Spiegel", der "eigentliche Realitätsverlust" bestehe "im Ignorieren der Tatsache, dass die Bundesrepublik Deutschland längst ein Einwanderungsland ist". Und eines bleiben müsse, "denn der Bevölkerungsrückgang und der Altersaufbau machen aus den Deutschen innerhalb weniger Jahrzehnte ein vergreisendes, sterbendes Volk". Und für die SPD verlangt ihr Bundesvorsitzender Hans-Jochen Vogel vehement, endlich Schluss zu machen mit der Lebenslüge, die Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland. Eine internationale Fernsehproduktion unter Federführung der BBC sorgt für Rekord-Einschaltquoten. In "Der Marsch" will der sudanesische Lehrer Isa El-Mahdi eine immer größer werdende Gruppe Verzweifelter in ein menschenwürdiges Leben führen. Auch seine Hoffnung stirbt zuletzt. "Wir glauben", sagt er an die Adresse der Europäer, "wenn ihr uns vor euch seht, werdet ihr uns nicht sterben lassen."

An den Südrand der afrikanischen Sahelzone, etwa auf den Breitengrad der Region, aus der der fiktive El-Mahdi vor 28 Jahren aufgebrochen ist, reist Katrin Schütz in wenigen Wochen. Die Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium begleitet eine jener Markterkundungs-Delegationen aus Baden-Württemberg, die seit Lothar Späths Zeiten in praktische alle Weltgegenden fliegen, nach Ghana und Nigeria. Schütz könnte Sonntagsreden montags Taten folgen lassen, endlich wirklich den Blick auf die Entwicklungspotenziale vor Ort lenken, auf Fluchtursachen und konkret auf das, was die reiche Welt dagegen unternehmen muss.

Statt Fluchtursachen werden mögliche Absatzmärkte identifiziert

Weit gefehlt. In Ghana geht es um einen der "wichtigsten Absatzmärkte von deutschen Produkten" in der Subsahara. Wegen seiner politischen Stabilität in einer sonst eher instabilen Region und seines einfachen Marktzugangs sei das Land "interessant für 'Afrika-Neulinge'". Allein in Accra, der Hauptstadt, wo eine Kooperationsbörse stattfinden und ein Round-Table "Geschäftsmöglichkeiten auf dem ghanaischen Markt" erörtern wird, sind nach Angaben der Welthungerhilfe rund 30 000 Kinder und Jugendliche obdachlos.

Noch deutlicher wird die Orientierungslosigkeit reicher westlicher Staaten im Umgang mit Armut und Flucht, mit Migration und Einwanderung am Beispiel Nigeria. Das westafrikanische Land mit seinen fast 200 Millionen Einwohnern wird den Mitreisenden, – in der Regel viele heimische Mittelständler, vor allem Zulieferer, – als einer der wichtigsten Absatzmärkte dieser Zone angepriesen. Geliefert werden "vorwiegend" Investitionsgüter (Maschinen und Ausrüstungen), "deutsche Exporte verzeichneten im ersten Halbjahr 2017 eine etwa 37-prozentige Steigerung im Vergleich zum Vorjahreszeitraum". Die Hälfte der Bevölkerung lebt nach den Kriterien der Weltbank in "absoluter Armut". Und die BAMF-Zahlen weisen das Land stabil hinter Syrien und dem Irak immer unter den ersten fünf in der Flüchtlingsstatistik aus.

Ursprünglich sollte die neue Ministerin im Staatsministerium, die Grüne Theresa Schopper, mit nach Afrika reisen, um sich mit den Möglichkeiten der Hilfe zur Selbsthilfe zu befassen. Inzwischen steht im Mittelpunkt, "das Potenzial dieser beiden Märkte selbst zu kennen", wie es in den Informationen zum Erkundungstrip heißt. Der Blick über den Tellerrand des Renditekalküls hinaus ist nicht erwünscht. Nicht auf Unternehmerreisen ins Ausland und nicht daheim.

Hoffmeister-Kraut hat die "steigende Kaufkraft" der Afrikaner im Blick

So hat Baden-Württembergs Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) kürzlich zu ihrem Afrika-Gipfel 2018 geladen. Für eine intensive Diskussion über soziale und wirtschaftliche Hilfe vor Ort blieb auch da keine Zeit. Stattdessen empfahl die politische Quereinsteigerin, "Afrika als Zukunftskontinent in den Fokus unserer Außenwirtschaft zu rücken". Die "steigende Kaufkraft einer jungen, wachsenden Bevölkerung", umfangreiche Investitionsprojekte sowie neue digitale Errungenschaften vor allem in den Ländern der Subsahara brächten einen wirtschaftlichen Wandel, von dem hiesige Firmen profitieren könnten. Die Ministerin hat sogar eine Studie zu den Chancen und Risiken in Auftrag erstellen lassen. Der Begriff Fluchtursachen kommt auf den 51 Seiten nicht einmal vor. Kein Wunder, das Autorenteam kommt aus dem Tübinger "Institut für neue Märkte".

Genauso scheinheilig sind die <link https: www.bmas.de shareddocs downloads de thema-arbeitsmarkt _blank external-link-new-window>"Eckpunkte zur Fachkräfteeinwanderung aus Drittstaaten", auf die sich am 2. Oktober die Bundesregierung unter dem Stichwort "Einwanderungsgesetz" geeinigt hat: "Wichtig ist, wir wollen keine Zuwanderung unqualifizierter Drittstaatsangehöriger." Und: "Insgesamt richten wir unsere Bemühungen am Bedarf unserer Volkswirtschaft aus und berücksichtigen die Qualifikation, das Alter, Sprachkenntnisse, den Nachweis eines konkreten Arbeitsplatzangebotes und die Sicherung des Lebensunterhaltes in angemessener Weise." Oder wie Michael Hüther, der Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft in Köln, so schnörkellos in der Tageszeitung "Welt" formuliert: Flüchtlinge kämen nicht, "um unsere Probleme zu lösen" und: "Wir brauchen Arbeitsmigration. Aber wir müssen uns aussuchen, wer kommt".

Entwicklungsbremse: Reiche Länder werben die besten Köpfe Afrikas ab

Die nächste Lebenslüge: Einerseits soll Afrika so schnell und so nachhaltig wie möglich ein selbsttragendes, funktionierendes Wirtschaftsleben aufbauen, und zugleich schreibt sich - nicht allein - Deutschland das Recht zu, die vielbeschriebenen besten Köpfe, nämlich die jungen, mobilen, leistungsfähigen und -bereiten abzuwerben. Seit Jahrzehnten wird geforscht zum Thema "brain drain", zu den Folgen für Entwicklungs- und Schwellenländer, wenn prosperierende Länder Eliten aus verschiedenen Bereichen, von der Arbeiter- bis zur Wissenschaft, abziehen.

"Brain circulation" wird allen dringend angeraten, die ernsthaft an positiven Entwicklungen in den sogenannten Drittstaaten interessiert sind. Mitteleuropa hat während und nach den Kriegen in Jugoslawien einen riesigen Feldversuch hinter sich gebracht. Rund 15 000 Flüchtlinge vom Balkan lebten Mitte der Neunzigerjahre allein in Stuttgart, ein Jahrzehnt danach hatte sich ihre Zahl wegen des hohen Rückkehreranteils mehr als halbiert. Als der Innenausschuss des Landtags 2011 in die Republik Kosovo reist, haben viele der Gesprächspartner in Pristina, Mitrovica oder Pecs Erfahrungen in oder Verbindungen nach Baden-Württemberg vorzuweisen. Und viele Unternehmen wollten nicht bloß verkaufen, sondern unterhielten sinnvolle Projekte zur Unterstützung der wirtschaftlichen Entwicklung vor Ort.

Gegenwärtig spielt die Republik Kosovo eine zentrale Rolle bei der "fairen Arbeitsmigration" in den Südwesten, von der Oberkirchenrat Dieter Kaufmann spricht. Das Diakonische Werk Württemberg ermöglicht legale Einwanderung: Junge Menschen können eine dreijährige Ausbildung zur Altenpflegefachkraft absolvieren und so den Fachkräftemangel lindern. Der erste Jahrgang hat seinen Abschluss in der Tasche, 145 junge Leute sind in Ausbildung, weiter hundert starten 2019.

"Es ist unser biblisch begründeter Auftrag, auch für das Wohl der Pflegekräfte zu sorgen", sagt Kaufmann und kann zugleich von der harten Realität für Arbeitgeber und Interessenten berichten. Eine Zeugnisbeglaubigung dauere aktuell in Stuttgart 14 Monate, die Visumsanerkennung in der deutschen Botschaft in Pristina sogar 16. "Um Deutschland für internationale Fachkräfte attraktiver zu machen, wollen wir die Voraussetzungen schaffen, dass die Gleichwertigkeitsprüfung der beruflichen oder akademischen Qualifikationen möglichst schnell und unkompliziert durchgeführt wird", sagen dazu die Eckpunkte des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes. Nicht viel mehr als Lyrik, denn das Versprechen ist gegeben seit Einführung der "Green Card", die ab 2000 rund 20 000 IT-Fachkräfte für eine begrenzte Zeit ins Land locken sollte. Diese Zahl konnte nie erreicht werden. Die IT-Fachkräfte tauchen nun in dem neu ausgehandelten Eckpunktepapier abermals auf, weil die Wirtschaft sie "dringend benötigt".

Mehr als Entwicklungshilfe: Geldüberweisungen der Angehörigen

Ob Auswahl und Abwerbung, Zuwanderung, Flucht oder das von UNO und den Aufrichtigen in der EU so dringend angemahnte Resettlement, also die legale Neuansiedlung von MigrantInnen (der sich jedoch immer mehr reiche Länder verschließen), eine Gemeinsamkeit eint alle, ganz unabhängig vom Weg ins bessere Leben: Wer erst einmal angekommen ist, überweist Geld in die alte Heimat. Allein in einem einzigen Jahr, 2016, flossen laut Bundesregierung fast 18 Milliarden Euro aus Deutschland zurück in die Herkunftsländer. Weltweit liegt dieser private Geldfluss jährlich bei über 500 Milliarden Euro und übertrifft die Entwicklungshilfezahlungen der reichen Staaten um ein Vielfaches. Für Deutschland mit seiner – allen anderslautenden Gerüchten zum Trotz – vergleichsweise bescheidenen Einwanderungsquote gehen die Statistiken von einer Verdoppelung aus. Übrigens: Die Banken schneiden bei dem Geldtransfer in die ärmeren Länder kräftig und unanständig mit, dank satter Gebühren. Eben erst wurde wieder eine Initiative angestoßen, eine Senkung auf drei Prozent zu erreichen – bis ins Jahr 2030 (!).

"Wenn ihr uns nicht helft, dann können wir nichts mehr tun", sagt der fiktive Isa El-Mahdi vor 28 Jahren. Er kann eine EU-Kommissarin für Afrikas Anliegen interessieren. Sie verhandelt unermüdlich, sucht Länder, die Menschen aufnehmen, und scheitert. Der Film endet nach dem ersten Toten an der spanischen Küste mit ihrem Appell: "Wir brauchen euch, wie ihr uns braucht. Wir können nicht weitermachen wie bisher. Ihr könnt uns helfen, die Zerstörung aufzuhalten, die wir anrichten. Aber wir sind noch nicht bereit für euch, ihr müsst uns noch mehr Zeit geben." Der EU-Ratsvorsitzende Sebastian Kurz (ÖVP) hat dieser Tage und in völliger Verkennung der Realität – mit Blick auf den Außengrenzschutz – Afrika zu "Europas Hoffnung" erklärt.

In Wahrheit ist es viel eher anders herum. Europa müsste die Hoffnung Afrikas sein. Doch tatsächlich wird ausgesiebt und ausgesondert. Ein paar Jahre nach "Der Marsch" hat die BBC eine Dokumentation mit szenischen Sequenzen produziert, der wiederum die (Arbeits-)Migration mit dem inzwischen noch drastischeren Klimawandel verknüpft: Zwei Freunde schaffen es auf ihrer Flucht durch den Kontinent bis ans Mittelmeer und werden dort auseinandergerissen, weil die in ihren tätowierten Barcodes gespeicherten Informationen sie nicht beide ausweisen als für Europa nützlich. Der eine muss zurück, der andere darf nach Frankreich und dort in einer der großen Orangenplantagen schuften, die auf dem Gebiet früherer Weingüter entstanden sind. Fiktion? Oder doch der Blick in eine wenig entfernte Zukunft?


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1 Kommentar verfügbar

  • Schwa be
    am 19.10.2018
    Antworten
    "Wenn schon legale Einwanderung, dann wenigstens bedarfsgerecht: Diese Vorstellung wird durch die neuen, von der Großen Koalition in Berlin erdachten "Eckpunkte zur Fachkräfteeinwanderung" zusätzlich befeuert. Weil es statt um Menschen vor allem um deren Relevanz für die Volkswirtschaft geht."

    Ich…
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