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In der Elf-Prozent-Falle

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Seit 35 Jahren versucht die Südwest-SPD, immer neue Tiefststände bei Wahlen oder in Umfragen als "Talsohle" zu interpretieren. Mittlerweile aber sitzt sie weit unten in der Schlucht fest und schnuppert an der Einstelligkeit. Ein Besuch bei der LandesvertreterInnenversammlung.

Gabi Rolland müht sich redlich. Die stellvertretende Vorsitzende der Südwest-SPD lobt die Pläne, die ihre Partei gerade in der Bundesregierung in die Tat umsetzt. Und das sind keine Kleinigkeiten: Das Rentenniveau ist stabilisiert, das Kita-Gesetz auf den Weg gebracht, die Parität in der Krankenversicherung wird wiederhergestellt und der Topf für den sozialen Wohnungsbau mit 2,5 Milliarden Euro gefüllt. Und worüber wird geredet bei der LandesvertreterInnenversammlung am vergangenen Samstag in der Tuttlinger Stadthalle unter den Delegierten, die die Europawahl im kommenden Mai vorbereiten? Darüber jedenfalls nicht, sondern über Hans-Georg Maaßen natürlich, über Horst Seehofer und darüber, dass die Südwest-SPD nicht mehr vorkomme in der öffentlichen Wahrnehmung.

Nach den neuesten Forsa-Zahlen sehen noch vier Prozent der Baden-WürttembergerInnen die SPD vorne im Ranking der Problemlösungskompetenz. Wobei es deutschlandweit auch nur noch fünf Prozent sind. Der Niedergang der Sozialdemokratie lässt sich im Südwesten wie unter einem Brennglas betrachten. Seit mittlerweile 35 Jahren scheitern alle Versuche, immer neue Tiefststände bei Wahlen und in Umfragen als "Talsohle" zu interpretieren. Stattdessen: Schlimmer geht immer. "Jetzt drohen Ergebnisse unter zehn Prozent", sagt ein altgedienter Genosse, der inzwischen ungern durch die eigene Stadt geht. Früher sei wenigstens diskutiert worden, heute schlage Sozialdemokraten "vor allem Mitleid entgegen". Aus diesem Motiv sei eine Partei aber noch nie gewählt worden.

Keine Rezepte zur Profilstärkung

Erst recht nicht dafür, frühere Fehler zu reparieren. In diesen turbulenten Monaten rückt, unter vielem anderen, mit dem versuchten Schwenk in der Wohnungsbaupolitik die Ära Kohl wieder ins Blickfeld. Zahllose Einschnitte, die direkt in die heutigen Armutsstatistiken münden, wurzeln in den Jahren ab 1983: vom Total-Ausstieg aus dem sozialen Wohnungsbau bis zur Abschaffung der Vermögenssteuer. Der Kündigungsschutz wurde eingeschränkt, die Frühverrentung auf Kosten der BeitragszahlerInnen gefördert, die Mehrwertsteuer mehrfach erhöht und so weiter und so fort. Die Liste ist überlang. Allerdings brachte Rot-Grün weder die Kraft noch den Willen auf, das zu korrigieren, was selbst ein Helmut Schmidt als "Abwendung vom Sozialstaat hin zur Ellenbogengesellschaft" missbilligt hat. Ganz im Gegenteil. In den Hartz-IV-Gesetzen gipfelte unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer ein fataler Prozess der Entsozialdemokratisierung der Sozialdemokratie.

Der Südwesten ist zudem geprägt von der immerwährenden Bereitschaft zur Selbstzerfleischung. Statt die Vorsitzende Leni Breymaier zu unterstützen, machten in Tuttlingen Schuldzuweisungen die Runde. Noch immer kann die traditionell im Landesverband starke Gruppe der berühmt-berüchtigten "Netzwerker" ihren Einflussverlust nicht verwinden. Als die ungeliebte Generalsekretärin Luisa Boos ihre Europarede mit dem traditionellen "Hoch die internationale Solidarität!" beendet, können sich zu viele im Saal nicht zum Applaus aufraffen, auch nicht in den Reihen der Jusos, die in Baden-Württemberg seit geraumer Zeit und anders als anderswo eher den rechten Flügel stärken. Ende November steht die Wiederwahl von Breymaier und Boos an. "Mangels Alternative", heißt es unter Landtagsabgeordneten wenig freundlich, würden beide wiedergewählt. Allerdings hat die vom früheren Kultusminister Andreas Stoch geführte Fraktion selber keine Rezepte zur Profilstärkung zu bieten.

Stattdessen mäkelt der Heidenheimer Rechtsanwalt gemeinsam mit der neuen Juso-Landesvorsitzenden Stephanie Bernickel am Duo Breymaier/Boos herum. Früher wären O-Töne wie diese unter die Kategorie "parteischädigendes Verhalten" gefallen. "Statt endlich mit fruchtbaren Debatten um unsere grundsätzliche Positionierung zu Wohnungsbau, Bildungspolitik oder Klimaschutz Wähler zu gewinnen, hält sich die Spitze der Landes-SPD zu oft an Detailfragen der parteiinternen Organisation und Struktur auf", ätzt Bernickel und lässt das Publikum teilhaben an der seltsamen Erkenntnis, die Partei müsse sich "nicht in Berlin, sondern in Baden-Württemberg ein klares Profil erarbeiten". Stoch kritisiert, dass eine "gewisse Meinungsvielfalt nicht gewährleistet" sei. Und er redet sogar die Erfolge klein, die in der vergangenen Legislaturperiode mit den Grünen erzielt wurden, in der unstillbaren und unrealistischen Hoffnung, damit Winfried Kretschmann und den Seinen am Zeug zu flicken. Wozu das gut sein soll, dürften die wenigsten wissen. Rund 70 Prozent der SPD-AnhängerInnen wünschen jedenfalls eine dritte Amtszeit des inzwischen 70-jährigen Regierungschefs.

Eine "Pasokifizierung" beklagen mehrere Genossen in Tuttlingen, während sie am Stand der altehrwürdigen Friedrich-Ebert-Stiftung in umfangreichen Materialien zum Niedergang der Sozialdemokratie in Europa blättern. Bei den Parlamentswahlen 2009 in Griechenland erreichte die Panhellenische Sozialistische Bewegung PASOK noch fast 44 Prozent, nach der Finanzkrise 2015 waren es unter fünf. In Frankreich rollte bei der Präsidentschaftswahl ebenfalls eine Zerstörungswelle über die Sozialistische Partei von Staatschef François Hollande hinweg und drückte sie auf unter sieben Prozent.

Auch ein Campaign-Camp wird nicht helfen

In Baden-Württemberg drohen bei den Kommunal- und den Europawahlen 2019 ähnliche Verhältnisse. Gegenwärtig macht unter Stuttgarter GenossInnen ein Mitgliederbrief zur Vorbereitung die Runde, in dem "mit solidarischen Grüßen" acht Arbeitsgruppen angekündigt werden, von denen sich bisher keine einzige mit Inhalten befasst oder gar mit der schwierigen Ausgangslage. Vielmehr geht es im ödesten Marketing-Jargon um die "Vorbereitung von Konzepten zum Campaign-Camp", um die "Redaktionsplanung für alle Internetpräsenzen (Website, Facebook, Instagram)" oder darum, eine "Bildsprache und visuelle Kampagnensprache zu entwickeln, beides baut das Narrativ auf".

Dabei steht nichts so fest wie das Narrativ. Denn das kann sich auch im 155. Jahr SPD-Geschichte nur aus dem inzwischen achten, dem derzeit geltenden "Hamburger Programm" ergeben. Darin will sich die SPD weiterhin als "Stimme der Vernunft" verstehen und präsentieren – mit einer politischen Zuständigkeit weit über den eigenen Markenkern hinaus. Und sie will "dafür sorgen, dass nicht zur bloßen Ware wird, was nicht zur Ware werden darf: Recht, Sicherheit, Bildung, Gesundheit, Kultur, natürliche Umwelt." Ein Genosse aus dem Landesvorstand zieht daraus den zwingenden Schluss, dass die SPD mithin "ein Vollsortimenter bleiben muss".

Also steuert die Partei, wenn nicht noch eine Art Wunder geschieht, auf neue herbe Niederlagen zu. Martin Schulz hatte 2014, als Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten, 27,3 Prozent bundesweit und 23 Prozent in Baden-Württemberg geholt, und die sind aus heutiger Sicht unerreichbar. Laut Infratest-dimap-Trend vom 12. September fällt die SPD im Südwesten auf elf Prozent. Auch deshalb guckten manche bereits Kevin Kühnert als Zugpferd aus, den Offensivspieler und Juso-Chef, den viele für einen Hoffnungsträger halten und der JungwählerInnen für Europa hätte begeistern können. Aber der, heißt es in Tuttlingen, habe abgewinkt. Und wie so oft in der SPD werden als Gründe wenig schmeichelhafte Karriereabsichten unterstellt: Denn der Kevin wolle sich noch "aufheben" und statt in Brüssel und Straßburg ganz woanders antreten, in Berlin und an der Seite von Franziska Giffey, die derzeit Bundesfamilienministerin ist und womöglich an die Spitze der Berliner Stadtregierung strebt. In der Hauptstadt liegt die SPD in aktuellen Umfragen auch nicht gut, aber noch immer deutlich besser als hierzulande: bei wenigstens 18 Prozent.


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9 Kommentare verfügbar

  • Jue.So Jürgen Sojka
    am 28.09.2018
    Antworten
    Wer andern eine Grube gräbt, … – Juristen: Allerorten ermangelt es _ihnen_ an grundlegenden Kenntnissen; besonders den Juristen/-innen in unseren Parlamenten!!!

    Zu diesem Kommentar • Martin Erz Vor 2 Tagen 3 Stunden – Auszug:
    Warum hat Nahles nicht den Sarrazin rausgeworfen? Mit ihm wurde rechtes…
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