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Prellböcke auf Kriegsfuß

Prellböcke auf Kriegsfuß
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Stadt- und Straßenbahnen erleben derzeit eine Renaissance in Deutschland. Dennoch wehrt sich die Stadt Ludwigsburg, 30 Kilometer nördlich von Stuttgart, vehement gegen einen Anschluss ans Stuttgarter Stadtbahnnetz. Oberbürgermeister und Landrat streiten um Oberleitungen und Hochbahnsteige.

Rossbollen pflasterten ihren Weg: Am 28. Juli 1868, machte sich die erste Pferdebahn von der Stuttgarter Innenstadt nach Bad Berg am Ufer des Neckars auf. 150 Jahre später absolvieren die Busse und Bahnen des städtischen Verkehrsbetriebs rund 180 Millionen Fahrten, jeden Tag fahren knapp 620 000 Menschen mit der SSB. Tendenz steigend. Rein rechnerisch nutzt jeder Stuttgarter einmal am Tag das Verkehrsangebot – vor allem die "gelben Blitze", wie die mehr als 200 Stadtbahnen vom Typ DT-8 im SSB-Fuhrpark genannt werden.

Aktuell umfasst das Netz 19 Linien, die auf insgesamt 273 Kilometern Gleise fahren. Viele enden nicht an Stuttgarts Stadtgrenzen, sondern binden auch die Nachbarstädte an das Schienennetz der Landeshauptstadt an. Derzeit verlängert die SSB die Hochbahnsteige auf der wichtigen Talquerlinie U 1, und erst vor wenigen Tagen wurde der Baustart für die Verlängerung der Linie U 6 gefeiert: Für 100 Millionen Euro werden über drei Kilometer Gleise vom Stadtteil Fasanenhof bis zum Flughafen und zur Landesmesse verlegt. Ende 2021 sollen die ersten Doppeltriebwagen im Zehn-Minuten-Takt Richtung Airport rollen.

Aber die gelben Triebwagen der SSB sind nicht überall willkommen. Fast wie das kleine gallische Dorf in der französischen Comicserie leistet die Barockstadt Ludwigsburg, rund 20 Kilometer nördlich von Stuttgart gelegen, heftigen Widerstand gegen einen Stadtbahnanschluss.

Schienen? Undenkbar!

Die einstige Residenzstadt der württembergischen Herzöge ist bereits seit 1846 ans Eisenbahnnetz angebunden. Die Königlich Württembergischen Staatseisenbahnen erbauten damals die Zentralbahn, deren nördlicher Ast von Stuttgart kommend in Ludwigsburg endete. Heute halten am Bahnhof der 93 000 Einwohner zählenden Kreisstadt täglich über hundert Regionalzüge und S-Bahnen.

Für den parteilosen Oberbürgermeister Werner Spec und seinen Dezernatschef, Baubürgermeister Michael Ilk, ist es undenkbar, dass zusätzliche Schienen für die Stuttgarter Stadtbahnen durch die einstige Garnisonsstadt gelegt werden. Beide haben das Wahrzeichen der Stadt, das zwischen 1704 und 1733 von Herzog Eberhard Ludwig errichteten Residenzschloss mit seiner Parkanlage, und die herrschaftlichen Quartiere drumherum zur stadtbahnfreien Zone erklärt.

Für sie gleicht es einer Horrorvorstellung, würden in den schattigen Alleen 80 Meter lange Stadtbahnzüge an wuchtigen Hochbahnsteigen halten, über die sich Oberleitungen spannen. "Unverträglich mit unserem Stadtbild", nennt OB Spec als Grund, warum man die SSB-"Hochflur"-Bahnen aussperren will. Mit technischen Nachteilen, etwa zu weiten Gleisradien, unterfüttern sie ihre Weigerung, die der Ludwigsburger Gemeinderat fraktionsübergreifend unterstützt.

Mit dieser Prellbock-Haltung stehen Spec und Ilk allerdings auf Kriegsfuß mit derm Ludwigsburger Landrat Rainer Haas, in dessen Zuständigkeit das kreisweiten Nahverkehrsangebot fällt. Haas will mehr Autofahrer zum Umsteigen bewegen, um Fahrverbote wegen zu hoher Stickoxidwerte zu verhindern. Als bestens dafür geeignet sieht er die SSB-Stadtbahnen, weil diese bereits bis nach Remseck im östlichen Kreisgebiet fahren. Von dort könnten sie auf einer verlängerten Trasse über Ludwigsburg weiter in die Nachbargemeinden Möglingen und Markgröningen und bis nach Ditzingen fahren, wo bald ebenfalls eine Linie aus Stuttgart enden soll. Für den Landrat ist dieser Ringschluss "ein zukunftsträchtiges Mobilitätsprojekt": "Aus unserer Sicht ist die Hochflurvariante deshalb am überzeugendsten", betonte er bislang bei jeder Gelegenheit unter dem Applaus von sechs Bürgermeistern aus Nachbargemeinden. "Der Ringschluss ist eine tolle Sache. An der SSB kommt man einfach nicht vorbei", begeistert sich etwa Markgröningens Bürgermeister Rudolf Kürner.

Neueste Idee: "Projekt Doppelstrategie"

Doch weder Argumente noch Appelle verfingen im Ludwigsburger Rathaus. Stattdessen präsentierte OB Spec im Frühjahr das "Projekt Doppelstrategie". Es beinhaltet die Reaktivierung einer stillgelegten Bahnstrecke nach Markgröningen, auf der 2003 der letzte Regionalzug fuhr. Daneben will Spec ein BRT-Netz zwischen Ludwigsburg, Remseck und Kornwestheim spinnen. "BRT steht für ein Schnellbussystem (englisch "Bus Rapid Transit")", erklärt das städtische Projektportal. Nur als "langfristige Option" sieht Spec eine Stadtbahn, allerdings als Niederflurvariante mit ebenerdigem Zustieg. "Mit unserer Doppelstrategie haben wir einen idealen Weg gefunden, den ÖPNV zeitnah, stadtverträglich und kostengünstig zu verbessern", lobt sich Spec selbst. "Eine Niederflurbahn wäre eine Insellösung", kritisierte dagegen Möglingens Bürgermeisterin Rebecca Schwaderer. Landrat Haas argwöhnt sogar, dass eine Stadtbahn durch Ludwigsburg, sollten die Schnellbusse erst einmal fahren, nur ein Phantom bleibt.

Freuen über Specs Doppelstrategie dürfte sich der Daimler-Konzern. "Mercedes-Benz engagiert sich weltweit für den Ausbau von BRT-Systemen", heißt es auf dessen Internetportal. BRT-Systeme zeichneten sich durch eigene Trassen mit separaten und barrierefreien Haltestellen, eigene Ampelschaltungen sowie spezielle Ticketsystemen aus. Als klassische BRT-Region gilt Südamerika, dessen rasant wachsende Metropolen mit Schnellbussystemen erschlossen werden. Rio de Janeiro etwa besitzt ein BRT-System aus drei Korridoren mit zusammen 150 Kilometern Länge. Auf dem zuerst eröffneten "TransOeste" fahren 90 Gelenkbusse von Mercedes-Benz. 500 Busse mit Stern bedienen auch die Istanbuler Metrobüs-Strecke 34, die in extrem dichter Folge befahren wird und 750 000 Fahrgäste täglich befördert.

Die Vorliebe der Ludwigsburger Politik für Schnellbusse steht in Kontrast zu einer Renaissance, die Stadt- und Straßenbahnen derzeit insbesondere in Deutschland erleben. Neue Straßenbahnnetze entstanden etwa in Oberhausen, Saarbrücken und Heilbronn. Bestehende Netze wurden in Karlsruhe und Freiburg massiv erweitert. Ende Juni erst beschloss der Regensburger Gemeinderat den Neubau einer Stadtbahn. An einer "grenzüberschreitenden" Citybahn planen aktuell die Landeshauptstädte Mainz (Rheinland-Pfalz) und Wiesbaden (Hessen).

Während es in Mainz bereits fünf Straßenbahnlinien gibt, betreten die Wiesbadener Schienenneuland. Dort regt sich auch Widerstand gegen die Citybahn. Während CDU, SPD und Grüne das Projekt befürworten, sagt die FDP nein. Eine Bürgerinitiative läuft regelrecht Sturm dagegen. "Die Citybahn ist unnötiger Luxus, sie wird nicht gebraucht", sagt deren Sprecher Stefan Wolter. Der Nutzen stünde in keinem Verhältnis zu den Kosten und den Unwägbarkeiten der Zukunft. Schienen müssten erst für viel Geld verlegt werden, Fahrspuren für Autos würden entfallen. Ob die Leute die Bahn annähmen, stehe in den Sternen. Stattdessen favorisiert die BI Elektrobusse. Zudem gehöre die Zukunft ohnehin ganz neuen Verkehrssystemen, nennt Wolter das Stichwort "Autonomes Fahren". Ein unflexibles Schienenverkehrssystem sei deshalb längst überholt.

In den USA war die Auto-Lobby am Werk

Die Einwände der Wiesbadener BI ähneln den Slogans der amerikanischen Lobbyorganisation "Americans for Prosperity" (AfP), die derzeit in den USA gegen Nahverkehrsprojekte zu Felde zieht. Im Frühjahr endete eine Abstimmung über die Zukunft des Nahverkehrs in Nashville/Tennessee in ihrem Sinne: Die Wähler votierten mit Zweidrittelmehrheit gegen das <link http: letsmovenashville.com external-link-new-window>Projekt "Lets move Nashville", das fünf Stadtbahn-Korridore und Trassen für Schnellbusse vorsah, um dem Verkehrschaos in der Metropole Herr zu werden. 

AfP-Aktivisten hatten an 6000 Türen geklopft und 40 000 Telefonate geführt, um die Wähler zu einem Nein zu bewegen. "Das Projekt war von Anfang an eine gigantische Geldverschwendung und hätte dauerhaft Fahrspuren vernichtet", <link https: americansforprosperity.org win-of-the-week-tennessee-voters-overwhelmingly-reject-nashville-transit-plan external-link-new-window>jubelte die Organisation auf ihrer Homepage nach der "überwältigenden Ablehnung".

Was weder Homepage noch Aktivisten offenbarten: Hinter den "Amerikanern für Wohlstand" stehen die Milliardäre David und Charles Koch, Eigentümer von Koch Industries. Zu den größten Unternehmen des Koch-Konglomerats gehören Firmen, die Benzin und Asphalt, Sicherheitsgurte, Reifen und andere Automobilteile produzieren, wie die <link https: www.nytimes.com climate koch-brothers-public-transit.html external-link-new-window>"New York Times" in einem Bericht über das Nashville-Votum schildert.

Zurück ins Schwabenland. Dort lud das Verkehrsministerium die Streithähne Mitte Juli sogar zu einem Versöhnungsgespräch. Vergangene Woche dann unterbreitete Landrat Haas überraschend ein Kompromissangebot an seinen Kontrahenten: Kreis und Nachbarkommunen würden eine Planung für eine Niederflurbahn unterstützen, wenn die Stadt Ludwigsburg sich im Gegenzug rechtlich verbindlich für diese Planung ausspricht. "Eine unverbindliche Absichtserklärung reicht uns nicht", betonte Haas. Der Verzicht auf Stuttgarts Hochflurbahnen kam gut an. "Das begrüßen wir sehr", erklärte OB Spec via Pressemitteilung – und entschwand in den Sommerurlaub. Sollte sich Spec danach nicht verbindlicher äußern, dann "müssen wir andere Wege finden, um ohne die Zustimmung der Stadt eine Stadtbahn zu planen", drohte Landrat Haas vorsorglich. Der Streit um Oberleitungen und Hochbahnsteige könnte nach der Sommerpause weitergehen.


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14 Kommentare verfügbar

  • Evlin Titz
    am 21.08.2018
    Antworten
    Ein wenig mehr Aufgeschlossenheit für das schienenlose BRT-System täte gut. Es hat tatsächlich eine ganze Reihe von Vorteilen gegenüber einer Niederflurbahn und der Hochflur-SSB-Bahn sowieso. Der Vergleich Ludwigsburgs mit dem kleinen gallischen Dorf wiederum ist so schlecht nicht. Wohnen dort doch…
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Ausgabe 459 / Grüne Anfänge mit braunen Splittern / Udo Baumann / vor 1 Tag 10 Stunden
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