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Das Veggie-Day-Trauma

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Tote Fische, Hitzerekorde, Dürreschäden: Spätestens im Jahrhundertsommer 2003 war der Klimawandel in Baden-Württemberg angekommen. Und die Grünen in der Opposition wussten ganz genau, wie dringend das Bewusstsein für die Risiken der Zukunft geschärft werden muss. Genau dafür tun sie 15 Jahre später und längst in der Regierung viel zu wenig.

Bis heute wirkt der Veggie-Day aus dem Bundestagswahlkampf 2013 nach. Die vergleichsweise harmlose Idee der Grünen, in öffentlichen Kantinen pro Woche einen fleischlosen Tag einzuführen, löste gewaltige Empörung aus. Oder richtiger: eine kalt kalkulierte Anti-Grünen Kampagne von Medien und politischen MitbewerberInnen. Dabei erklärten sich 60 Prozent der Deutschen bereit, in Zukunft weniger als die durchschnittlich 60 Kilogramm Fleisch pro Kopf und Jahr zu verzehren. Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt verkündete bei jedem Auftritt, zwecks Förderung von Klimaschutz, Tierwohl und Gesundheit solle doch bloß an die Tradition des fleischlosen Freitags angeknüpft werden. Den gibt es schließlich unbeanstandet seit vielen hundert Jahren im (katholischen) Christentum.

Dennoch rollte mitten im Sommerloch, als die Grünen demoskopisch zwischen zwölf und 15 Prozent lagen und eine stabile rot-rot-grüne Mehrheit noch rechnerisch möglich war, eine Protestlawine durchs Land. Am Wahltag landeten die als Verbots- und Bevormundungspartei diskreditierten Ökos bei gerade noch 8,4 Prozent. Geblieben ist ein regelrechtes Trauma. Nie wieder riskieren, in die Ecke der Zwangsbeglücker gerückt zu werden, heißt bis heute die Devise. Selbst die Diesel-Fahrverbote für Stuttgart, die auf seit zehn Jahren geltenden EU-Vorgaben und deutsche Gerichtsentscheidungen zurückgehen, möchte Ministerpräsident Winfried Kretschmann mit der sanfter klingenden Vokabel Verkehrsbeschränkungen belegt sehen.

Wer derart weichgespült agiert, kann die erschreckenden Bilder der zur Steinwüste mutierten Dreisam, der aufgeworfenen Autobahnen oder von Kälbern auf dem Weg zur Notschlachtung aus Futtermangel nutzen: zur politischen Aufklärung darüber, dass extrem dank so vieler großer und kleiner Fehlentscheidungen der vergangenen Jahre jetzt normal ist. "Wir beanspruchen für uns selbst, eine Führungsrolle im globalen Klimaschutz einzunehmen", sagt Franz Untersteller im Mai 2007, als die Grünen-Fraktion ihren Masterplan Klimaschutz 2020 vorlegte. Untertitel: "Baden-Württemberg setzt neue Maßstäbe." Als Präambel diente ein Zitat von Lothar Späth (CDU): "Nichts liegt näher, als dass die Rettung des globalen Klimas von jenen in die Hand genommen wird, welche die meisten Schäden zu verantworten haben, weshalb es ungemein wichtig ist, jetzt einen realistischen Arbeitsplan zu entwickeln, der vernünftig, klar und verbindlich ist."

Auf der Sachebene tun die Grünen viel fürs Klima

An solchen Arbeitsplänen ist kein Mangel. Auch dürfen die Grünen für sich beanspruchen, viele Weichen neu gestellt zu haben seit ihrem Amtsantritt 2011. Beispiele liefern Energie- und Verkehrspolitik, die Landwirtschaft oder die Klimaschutzberatung, in der weltweiten Zusammenarbeit gegen die Erderwärmung auf regionaler Ebene, die gemeinsam mit Kalifornien begründet wurde. Erst kürzlich hat sogar Agrarminister Peter Hauk (CDU), der von 2005 bis 2010 das Amt schon einmal innehatte, frühere Versäumnisse eingeräumt und eine höhere Schlagzahl gefordert, etwa beim Erhalt der Biodiversität. In Baden-Württemberg leben rund 50 000 Tier- und Pflanzenarten. Über 40 Prozent sind vom Aussterben bedroht. Die beiden grüngeführten Landesregierungen, ein Beispiel von Dutzenden, haben deshalb seit 2011 den Naturschutzhaushalt von 30 Millionen Euro aufgestockt auf 90 Millionen Euro bis 2020. Das Insektensterben hat laut Hauk der Koalition "noch einmal vor Augen geführt, wie zwingend erforderlich ein sofortiges, zielgerichtetes und ressortübergreifendes Handeln ist".

Es geht aber nicht allein um Förderprogramme, um neue Schwerpunkte oder Planstellen. Gerade die Grünen müssen sich fragen lassen, ob sie mit ausreichend deutlichen Ansagen unterwegs sind, um die Dramatik der Situation ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Vor zehn Jahren hatte der Weltklimarat (IPCC) in einem Statusbericht zur globalen Lage festgestellt, dass sich die Erwärmung des blauen Planeten – der aktuell ziemlich braun ist, wie die Aufnahmen des Kosmonauten Alexander Gerst zeigen – nicht mehr aufhalten, sondern nur noch begrenzen lasse. Nurmehr bis 2015 sei Zeit, "um durch eine drastische Absenkung der Treibhausgase das anvisierte Zwei-Grad-Ziel noch zu erreichen". Vom Klima im Fieber spricht die Wissenschaft, für den Hamburger Experten Mojib Latif ist es bereits fünf nach zwölf. Neun der 21 heißesten Sommer seit Beginn aller Aufzeichnungen gab es seit der Jahrhundertwende. Nach 2015, 2016 und 2017 dürfte 2018 hinzukommen.

Robert Habeck, der Bundesvorsitzende der Grünen und Noch-Landwirtschaftsminister von Schleswig-Holstein, nimmt die Hitzewelle der vergangenen Wochen zum Anlass, um wenigstens mal mit "radikalen Schnitten" zu drohen. Dem Schriftsteller schwebt eine andere Landwirtschaft vor, die beispielsweise die Tierhaltung drastisch begrenzt. Er wagt sogar eine Zahl: "Etwa zwei Rinder pro Hektar Land." In Baden-Württemberg sind solche Töne verpönt. Kretschmann hält nichts von "Verbotsrhetorik", die Seinen wollen nicht mehr aufrütteln oder gar Schlagzeilen produzieren. Thematisiert wird nicht selbstbewusst das große Ganze, sondern bestenfalls der Reparaturbetrieb, wie die Notfallhilfe für BäuerInnen bei Hitze, Trockenheit, Hagel, Starkregen, Spätfrösten oder Winterstürmen. Selbst Steilvorlagen wie die Präsentation des Statusberichts zum kommunalen Klimaschutz im Land bleiben unverwandelt.

Kaum vorstellbar, dass CDU- oder SPD- und erst recht FDP-MinisterInnen ähnlich zurückhaltend umgehen mit dem ureigensten Markenkern. Auf über 200 Seiten stellt das Papier Programme, Projekte und Bündnisse vor. So verfügen gerade im reichen Südwesten mit seinem großen und so oft beschriebenen Potenzial, dank grüner Ideen schwarze Zahlen zu schreiben, überhaupt nur 131 Städte, 183 Gemeinden und 25 Landkreise über ein integriertes Klimaschutzkonzept – von 1101 Städten und Gemeinden insgesamt. Dabei ist dieses Instrument seit den Neunziger Jahren bekannt, als "Bestandsaufnahme der Energieverbräuche und der CO2-Emissionen, um Einsparpotenziale zu ermitteln und in den verschiedenen Handlungsfeldern geeignete Maßnahmen zur Erreichung der Klimaschutzziele aufzuzeigen", wie die AutorInnen des Statusberichts schreiben. Bundesweit führend ist das Land in Sachen Energetische Stadtsanierung. 96 der 500 deutschen Städte und Gemeinden, die Teil des 1990 ins Leben gerufenen Klimabündnisses mit indigenen Völkern sind, liegen im deutschen Südwesten. Allerdings hat noch keine einzige ihre Einsparziele tatsächlich erreicht. Rund 70 Prozent aller Kommunen im Land betreiben nicht einmal ein Energiemanagement, das einen dauerhaften Überblick über den tatsächlichen Bedarf, den Verbrauch und die Investitionen in Reduzierungsmaßnahmen verschaffen würde.

Die Ökos trauen sich nicht, für Klimaschutz zu kämpfen

Der Aufschrei der Grünen angesichts derartiger Erkenntnisse oder das Lob für Vorreiter bleiben aus. Untersteller, der die Begriffe Klima und Naturschutz neben der Umwelt in seiner offiziellen Minister-Bezeichnung trägt, zieht sich mit ein paar Floskeln aus der Affäre wie "Klimaschutz muss auf der politischen Agenda weiter nach oben rutschen". Oder: "Wir müssen unsere Anstrengungen bei der Realisierung einer erfolgreichen Klimaschutzpolitik auf allen Ebenen verstärken" und "Ich hoffe, dass das dieser Tage auch unserer Bundesregierung klargeworden ist und sie sich endlich ihrer Verantwortung für Mensch und Umwelt stellt". Eine Äußerung, die er sich zu Oppositionszeiten zu Recht verbeten hätte.

Wie breit der Grat ist zwischen einstigem Anspruch und heutiger Wirklichkeit, zeigt sich am urdeutschen Thema Tempolimit. Und an den wochenlangen Querelen um Tempo 130 auf lächerlichen 18 Autobahnkilometern vor Singen. In der mitregierenden CDU meinen manche, punkten zu müssen mit ihrem Widerstand gegen den ungeliebten grünen Verkehrsminister Winfried Hermann. Dabei geraten die Fakten unter die Räder. Auf der A 81 geht es darum, die illegalen Autorennen zu unterbinden. Bundesweit könnte das bisher politisch und bei einer Mehrheit der AutofahrerInnen undurchsetzbare Tempo 130 den Ausstoß von CO2 um fast drei Millionen Tonnen jährlich verringern. "Es deutet viel darauf hin", wusste Untersteller vor zehn Jahren, "dass ein solches Tempolimit Konsequenzen auf die Konstruktion unserer Autos hätte, mit der Folge, dass an unserem Standort kleinere Fahrzeuge mit leichteren Motoren und geringerem Verbrauch produziert würden".

Es kam ganz anders. Und der Bau von Großfahrzeugen in Mode. Alle Hoffnung auf eine Schadstoffreduzierung, die sich in der Klimabilanz bemerkbar machen würde, machten SUV und andere Modelle zunichte. Und noch eine Erwartung starb spätestens mit der Wahlpleite von 2013: Dass jene Mischung aus Gelassenheit und Angriffslust stilbildend würde in der Klimadebatte, die nicht nur viele Grüne für eine Menschheitsfrage halten. Winfried Kretschmann hatte Kurs gehalten mit dem wackeren Hinweis, die Aufregung über den Veggie-Day sei "vollkommen hochstilisiert" und "aufgeblasener Quark", weil seine Partei nicht Zwang ausüben wollte, sondern lediglich einen Vorschlag gemacht hätte: "Ich bin als Katholik damit sozialisiert worden, dass man am Freitag kein Fleisch isst." Das gehöre "einfach zu unserer Kultur".

Gut gebrüllt, aber schnell vergessen. Nur wenige Tage nach der Niederlage reihte er sich in die lange Schlange der Kleinmütigen ein, die unter dem Druck von interessengeleiteten Zynikern in "Bild", Union und FDP den bescheidenen Fleischverzicht plötzlich als unziemlichen Eingriff ins Privatleben durchschaut hatten: "Mit so etwas geht man den Leuten auf die Nerven", erkannte der frühere Biologielehrer. Und: Es sei "eine große Errungenschaft der Moderne, dass Politik sich aus der persönlichen Lebensführung von Menschen herauszuhalten hat". Wenn das der Maßstab für eine effiziente Klimapolitik sein soll, wird es schwer bis aussichtslos, die Erderwärmung unter den angestrebten zwei Grad zu halten.


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5 Kommentare verfügbar

  • Alfred Mayer
    am 18.06.2020
    Antworten
    Der Veggie-Day, also der fleischlose Tag pro Woche in öffentlichen Kantinen, war der einzige aufregende Punkt im Wahlprogramm der Grünen angesichts einer sich abzeichnenden weltweiten
    Klimakatastrophe.
    So viel Harmlosigkeit musste belustigen. Und das grüne Establishment wagt in seiner…
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