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S 21: Ein U-Ausschuss muss her

S 21: Ein U-Ausschuss muss her
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Erstaunlich wenig hat sich seit der Verkehrsausschusssitzung zu Stuttgart 21 am 11. Juni getan. Dabei bieten die dort gemachten Aussagen genug Grundlage für staatsanwaltliche Ermittlungen. Und für einen Untersuchungsausschuss des baden-württembergischen Landtags, wie unser Autor fordert.

Am 2. Juli konnte man auf der Titelseite der "Stuttgarter Zeitung" lesen, anstatt "eine rückwärtsgewandte Diskussion" in Sachen Stuttgart 21 zu führen, "sollte das Augenmerk endlich auf die Frage gerichtet werden, was über das Projekt hinaus für den Schienenverkehr in der Region getan werden muss." Der Autor des Beitrags kritisierte dabei nicht nur die Bürgerbewegung gegen Stuttgart 21. Er hadert auch mit Bahnchef Richard Lutz. Dieser würde erst jetzt, Mitte Juli, einen "ersten Besuch" beim Bahnprojekt Stuttgart 21 absolvieren. Darüber hinaus sei er inzwischen "eingeschwenkt" auf die Position seines Vorgängers im Amt, Rüdiger Grube, wonach man sich "nach heutiger Erkenntnis nicht mehr an die Untertunnelung des Stuttgarter Bahnknotens machen" würde. Der StZ-Redakteur gibt sich zutiefst enttäuscht: "Rückenwind für das Projekt [...] sieht anders aus."

Nun unterlief Lutz zwar im März 2017 eine echte Freud'sche Fehlleistung, als er erklärte, zum S-21-Weiterbau "finster entschlossen" zu sein. Doch er konnte offensichtlich danach den einen und anderen klaren Gedanken fassen. Tatsächlich geht es hier nicht um eine "rückwärtsgewandte Diskussion". Mitte 2018 stehen wir in Sachen Stuttgart 21 in dreifacher Hinsicht vor einer einigermaßen neuen Situation.

Bahn wusste immer: S 21 bringt nicht mehr Kapazität

Andeutungen, S 21 sei unwirtschaftlich, gab es in den letzten zwei bis drei Jahren auch aus dem Mund von Volker Kefer, Bahninfrastrukturchef bis zum 31. Dezember 2016. In diesem Sinne äußerte sich auch Rüdiger Grube, Bahnchef bis zum 30. Januar 2017. Doch Richard Lutz´ Erklärung im Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestags am 18. April 2018 ist etwas ganz anderes. An diesem Tag sagte Lutz nicht nur, S 21 sei "komplett unwirtschaftlich". Er trug vor, dass das Projekt der Bahn einen Verlust in Höhe von 2,227 Milliarden Euro bescheren würde. Das ist einerseits ein extrem hoher Betrag, der aktuell zwei Jahresgewinnen des Bahnkonzerns entspricht. Andererseits ist der Betrag krass untertrieben. Denn wenn S 21 "unwirtschaftlich" ist, dann gibt es Jahr für Jahr Extra-Kosten, also deftige Gewinnreduzierungen oder zusätzliche Beiträge für Verluste. Lutz hat allerdings nie erläutert, wie er auf die genannte Verlustzahl kommt. Sie ist ähnlich präzise wie die Zahl von "4,807 Millionen DM", also rund 2,45 Milliarden Euro, die laut Machbarkeitsstudie aus dem Jahr 1995 Stuttgart 21 kosten würde.

Mehr als 15 Jahre lang hatte die Bahn behauptet, man baue Stuttgart 21, um die Kapazität "zu verdoppeln" oder zumindest, um diese "um 50 Prozent zu erhöhen". Entsprechende Verlautbarungen waren in den vergangenen Jahren immer spärlicher geworden. Irgendwie leuchtete auch nicht ein, warum es etwa in Bietigheim-Bissingen (43 000 Einwohner) ebenso viele – acht – Durchfahrgleise gibt, wie es im S-21-Tiefbahnhof geben soll. Zu Recht, wie die öffentliche Anhörung des Verkehrsauschusses des Deutschen Bundestags am 11. Juni nahe legte (<link https: www.bundestag.de blob ff4ee6a52ce983ad2ebc9c4f025e9947 _blank external-link>hier das Wortprotokoll). Dass Stuttgart 21 im Jahr 2000 "ganz tief unten" auf der Liste der unrentablen Infrastrukturprojekte der Deutschen Bahn stand und "letztlich keinerlei Kapazitätserweiterungen hat", erklärte dort der als Sachverständige geladene Thilo Sarrazin. Der fiel zuletzt zwar vor allem durch rechtspopulistische und rassistische Äußerungen auf, verfügt aber als Netzvorstand der Deutschen Bahn AG in den Jahren 2000 und 2001 über einiges Insiderwissen (<link https: www.kontextwochenzeitung.de politik kriminaltango-in-der-baugrube-5144.html _blank external-link>Kontext berichtete).

Man wusste demnach im Bahnvorstand immer, dass man bei dem Projekt zehn und mehr Milliarden Euro verbuddelt ohne Sinn und Zweck – insoweit es um den Bahnverkehr selbst geht. Ein solches Mehdorn-Grube-Lutz-Projekt könnte man unter Verweis auf den großen Ökonomen John Maynard Keynes begründen. Immerhin schlug dieser vor, "alte Flaschen mit Banknoten zu füllen", diese zu vergraben und dann Arbeiter zu bezahlen, die sie wieder ausgraben. Doch schlug Keynes dies erstens eher ironisch vor, um zu verdeutlichen, dass es bei kapitalistischen Investitionen nicht um den Gebrauchswert, die Inhalte, sondern allein um Gewinn und Geld geht. Zweitens machte er diesen und vergleichbare Vorschläge für Zeiten schwerster Wirtschaftskrisen. Und drittens hätte er kaum je einen Vorschlag gemacht, in einem Stadtzentrum eineinhalb bis zwei Jahrzehnte lang den Untergrund aufzuwühlen und dabei gleichzeitig die Kapazität einer bestehenden Infrastruktur zu zerstören, um eine deutlich kleinere "neu" zu schaffen.

Regionalisierungsmittel als versteckte Anschubfinanzierung

Im seit wenigen Tagen vorliegenden Wortprotokoll kann man jetzt im Detail nachlesen, was die Menschen am 11. Juni bei der öffentlichen Anhörung zu Stuttgart 21 mit angehaltenem Atem zur Kenntnis nahmen. So führte Sarrazin Folgendes aus: "Das führte dazu, dass wir gesagt haben: [...] Wir machen es [den Bau der unterschiedlichen Bahn-Infrastrukturprojekte; W.W.] nach der Rentabilitätsrangordnung. [...] Wo gibt es den meisten Ertrag. [...] Und ganz tief unten, unter der 8.1., 8.2., stand das Projekt Stuttgart 21. [...] Das stand ganz unten und hätte an sich [...] nie in die Rentabilitätsrechnung eingehen können. Nachdem das alles fertig war, bekam ich eines Tages den Auftrag [...], letztlich doch die Rahmenvereinbarungen für Stuttgart 21 zu verhandeln. [...] Dann hab ich gefragt: Herr Mehdorn [...] was ist ihr Motiv? Das ist doch völlig unrentabel. Ja, sagte er, das Motiv ist [...] dafür gewinnen wir den ganzen Nahverkehrsvertrag für Baden-Württemberg. Und in der Abwägung ist das für das Unternehmen aus Konzernsicht so wichtig, dass wir das Risiko in Kauf nehmen."

In derselben öffentlichen Anhörung ergänzte der Grünen-Bundestagsabgeordnete Matthias Gastel, dass das Land Baden-Württemberg im Fall dieses "völlig überteuerten Nahverkehrsvertrags [...] eine Milliarde Euro zu viel bezahlt" hat. Wobei es dabei nicht einmal um Landesmittel geht. Es geht um sogenannte Regionalisierungsmittel, die der Bund den Ländern, in diesem Fall Baden-Württemberg, zur Verfügung stellt – und zwar zum Zweck der Bestellung des Schienenpersonennahverkehrs. Die versteckte Anschubfinanzierung, mit dem S 21 ermöglicht wurde, stammte also nicht einmal aus der eigenen Kasse. Indem man für eine mäßige Leistung massiv zu viel zahlte, wurden gleichzeitig alle Regionen in Baden-Württemberg und die Fahrgäste im Schienenverkehr massiv geschädigt.

Grundsätzlich war der Zusammenhang zwischen überteuertem Nahverkehrsvertrag und Stuttgart 21 schon lange bekannt. Es fehlte jedoch immer ein stichhaltiger Beleg. 2014 etwa <link https: www.kontextwochenzeitung.de politik die-heimliche-dody-und-der-db-regio-deal-2306.html _blank external-link>schrieb Kontext-Autor Jürgen Lessat, es mehrten "sich inzwischen die Indizien, dass die damalige schwarz-gelbe Landesregierung sich mit dem Milliardengeschenk den Tiefbahnhof Stuttgart 21 erkaufte." Auch der Bundesrechnungshof monierte 2006, dass "langfristige Zusicherungen von Nahverkehrsbestellungen bei der DB Regio im Gegenzug zur Durchführung und Mitfinanzierung von Bahnhofsprojekten wie Stuttgart 21 oder ICE-Bahnhof Jena-Paradies" beigetragen haben könnten. In besagtem Kontext-Artikel hieß es damals, dass "die Diskussion über einen neuen U-Ausschuss des Landtags" begonnen habe. Zitiert wurde der Grünen-Politiker Andreas Schwarz, wonach sich "eine strafrechtliche Bewertung des Verkehrsvertrags" aufdränge. Und: "Es wäre zu prüfen, ob der Verdacht der Untreue besteht." Die Möglichkeiten für eine solche "Prüfung" haben sich mit der Anhörung vom 11. Juni 2018 offensichtlich wesentlich verbessert.

Damals – 2014 – erklärte eine Sprecherin der Stuttgarter Staatsanwaltschaft, man habe bislang "keinen Grund, tätig zu werden", schließlich lägen "keine Strafanzeigen vor". Auch hier haben wir eine neue Situation. Unter Bezugnahme auf die zitierten Sarrazin-Aussagen am 11. Juni 2018 erstatten am 26. Juni Eisenhart von Loeper und Dieter Reicherter eine Strafanzeige gegen den Ex-Bahnchef Hartmut Mehdorn "wegen Tatverdacht der Untreue".

Unabhängig davon sollte nun im Stuttgarter Landtag das Thema eines neuen Untersuchungsausschuss über das Zustandekommen des Projekts Stuttgart 21 auf die Tagesordnung gestellt werden.

 

Am Samstag, den 7. Juli, findet ab 14 Uhr vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof eine <link http: www.parkschuetzer.de termine _blank external-link-new-window>Demo gegen Stuttgart 21 und für das Umstiegskonzept "Umstieg 21" statt. Als RednerInnen stehen Herta Däubler-Gmelin, Joe Bauer, Volker Lösch und Egon Hopfenzitz auf der Bühne, Barbara Stoll moderiert, Musik kommt von Chain of Fools.

Das Jahrhundertloch: Stuttgart 21

Immer neue Kostensteigerungen, Risiken durch den Tunnelbau, ungelöste Brandschutzfragen, ein De-facto-Rückbau der Infrastruktur – das sind nur einige Aspekte des Milliardengrabs.

<link internal-link-new-window>Zum Dossier


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2 Kommentare verfügbar

  • Schwa be
    am 10.07.2018
    Antworten
    John Maynard Keynes: Bei kapitalistischen Investitionen es nicht um den Gebrauchswert, den Inhalt, sondern um Geld und Kapital. Das kommt totalitären Strukturen gleich. S21 ist das beste Beispiel hierfür - in mehrfacher Hinsicht!
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