Dass Grube bei seinem Amtsantritt 2009 – der Kostenstand lag damals bei 3,1 Milliarden Euro – von möglichen Kostenrisiken nichts gewusst haben soll, ist indes kaum glaubwürdig. Denn eben wegen befürchteter Kostensteigerungen erklärte er damals, das Projekt nicht um jeden Preis durchziehen zu wollen, und dass die "Sollbruchstelle" für ihn "bei 4,5 Milliarden Euro" liege. Grube ließ neu rechnen, kam auf 4,9 Milliarden, ließ erneut rechnen und präsentierte am 10. Dezember 2009 sparsame 4,1 Milliarden – dank fragwürdiger "Einsparmaßnahmen", etwa dünneren Tunnelwänden. Grube verzichtete darauf, die Ausstiegsoption zu ziehen, die die Finanzierungsvereinbarung bei unerwarteten Kostensteigerungen bis Ende 2009 einräumte. Die übrigen Projektpartner machten es nicht anders.
Es dauerte bis zum April 2018, bis die Bahnspitze offenbar genauer nachrechnete. In einem internen Papier bezifferten Bahnchef Lutz und Infrastrukturvorstand Ronald Pofalla, dass man mit dem Projekt 2,228 Milliarden Euro Verlust macht. Zugleich behaupteten beide dennoch weiter, dass Weiterbauen den Konzern günstiger komme als zum jetzigen Zeitpunkt noch die Reißleine zu ziehen. Ein Ausstieg aus dem Projekt könnte den Konzern nach eigenen Angaben rund sieben Milliarden Euro kosten.
Mantra der Bahn: Ausstieg stets teurer als Weiterbau
Eine Zahl, die schon früher offenbar gezielt kolportiert worden war. Aber nicht stimmte. Insidern nach beinhaltete sie auch die Abbruchkosten der Neubaustrecke nach Ulm, deren Baustopp aber gar nicht zur Disposition steht. Ohne diese addierten sich <link https: www.stuttgarter-nachrichten.de inhalt.stuttgart-21-ausstieg-aus-stuttgart-21-kostet-4-8-milliarden-euro.8b981485-88d7-41d5-bc78-492931d3aae9.html external-link-new-window>Ausstiegs- und Rückbaukosten bei Stuttgart 21 auf 4,8 Milliarden, zitierten die "Stuttgarter Nachrichten" Ende Januar dieses Jahres ein Aufsichtsratsmitglied. Lutz und Pofalla handelten damit ganz in der Tradition ihrer Vorgänger: Auch der frühere Bahnchef Grube und seine rechte Hand, Infrastrukturvorstand Volker Kefer, hatten immer Weiterbauen wirtschaftlicher als den Ausstieg dargestellt, etwa zur Volksabstimmung im November 2011.
Auch der Aufsichtsrat blieb stets auf Projekt-Kurs, selbst wenn die eingeholten Gutachten teilweise auf dünnen Fakten basierten. So etwa im März 2013, als das Gremium einen auf 6,8 Milliarden Euro erhöhten Finanzierungsrahmen genehmigen musste. Vor der entscheidenden Aufsichtsratssitzung kursierte tagelang ein internes Dossier aus dem Bundesverkehrsministerium, in dem akribisch alle Zweifel an Stuttgart 21 aufgelistet wurden. Das Projekt stand auf der Kippe, so wackelig wie nie zuvor seit Baubeginn. Dennoch gaben die Aufsichtsräte wieder einmal grünes Licht – "nach reiflicher Überlegung" und auf Basis eines "unabhängigen Testats" von Wirtschaftsprüfern.
Dabei stützte sich das fragliche PwC-Gutachten lediglich auf von der DB AG zur Verfügung gestellten Unterlagen. Ob die Angaben richtig oder vollständig waren, wurde gar nicht überprüft. Die Prüfer selbst sahen deshalb ein "höheres Risiko", dass "wesentliche Fehler" und "rechtswidrige Handlungen" nicht aufgedeckt worden seien. Darüber hinaus wiesen die Wirtschaftsprüfer darauf hin, dass die Berechnungen der Bahn "nicht den Grundsätzen des Risikomanagements im DB AG-Konzern" für Großprojekte entsprächen. Sprich: Der Konzern ignorierte bei Bewertung der Kostenrisiken von Stuttgart 21 seine eigenen Regeln.
Pikanterweise hatte das Projekt damals selbst aus Konzernsicht noch nicht den Point-of-no-Return erreicht, an dem es günstiger ist, weiterzubauen als abzubrechen. Auch wenn Vorstand und Aufsichtsrat öffentlich anderes behaupteten. Das legen die Aussagen des StN-Informanten nahe, den die Zeitung im Januar 2018 zu den tatsächlichen Ausstiegskosten zitiert.
Verdacht auf schwere Untreue und Betrug
Soweit hätte es erst gar nicht kommen müssen. Glaubt man Sarrazin, wussten die Entscheider im Bahnkonzern von Anfang an über die Unwirtschaftlichkeit von Stuttgart 21 Bescheid – und belogen über Jahre nicht nur Projektpartner und Öffentlichkeit. Indem sie den Weiterbau des Tiefbahnhofs stets vorantrieben oder abnickten, nahmen Manager und Kontrolleure Vermögensschäden für das Unternehmen Deutsche Bahn wissentlich in Kauf. Im juristischen Sinne begingen sie damit eine Straftat, nämlich schwere Untreue, wie sie Paragraf 266, Absatz 2 im Strafgesetzbuch definiert, mit einem Strafmaß von bis zu zehn Jahren Haft. Für Nichtjuristen: Untreue in einem besonders schweren Fall liegt in der Regel dann vor, wenn sie gewerbsmäßig oder als Mitglied einer Bande erfolgt, sie in einem Vermögensverlust großen Ausmaßes oder bei einer großen Zahl von Personen resultiert oder der Täter seine Befugnisse oder seine Stellung als Amtsträger missbraucht.
Mit ihren Aussagen zu den Ausstiegskosten könnten sich die Bahnmanager und ihre Kontrolleure zusätzlich des schweren Betrugs schuldig gemacht haben. Paragraf 263 des Strafgesetzbuches sieht für die Vorspiegelung falscher oder Unterdrückung wahrer Tatsachen, die zu einem größeren Vermögensschaden führen, eine Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe vor.
Den Vorwurf erheben die im Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 versammelten Gegner des Tiefbahnhofs schon länger. Allen voran der Nagolder Rechtsanwalt Eisenhart von Loeper und der ehemalige Strafrichter am Stuttgarter Landgericht, Dieter Reicherter. In einem Dutzend Strafanzeigen gegen amtierende und ausgeschiedene Vorstände und Kontrolleure des Staatskonzerns formulierten sie die möglichen Vergehen (Kontext berichtete mehrfach, u.a. <link https: www.kontextwochenzeitung.de wirtschaft justitia-im-freien-raum-441.html internal-link-new-window>hier und <link https: www.kontextwochenzeitung.de wirtschaft von-loeper-laesst-nicht-locker-4608.html internal-link-new-window>hier). Nur: Konsequenzen hatten die Anzeigen bislang nicht. Die zuständige Staatsanwaltschaft Berlin lehnte weitergehende Ermittlungen stets ab, zuletzt im November 2017. In den Einstellungsbescheiden billigten die Strafverfolger den Beschuldigten stets einen weiten Ermessensspielraum im unternehmerischen Handeln zu, um Stuttgart 21 zu realisieren.
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Thomas Rothschild
am 27.08.2018