Aus dem Leipziger Urteil lassen sich ebenfalls Tipps zum Thema Nachrüstungen ablesen. Die Anwälte des Landes brauchen sich in ihren Stellungnahmen mit dem Stichwort "Software" gar nicht erst aufzuhalten. Denn pauschale Ausnahmen wird es für Fahrzeuge geben, deren Abgasreinigung per Hardware auf Euro-6-Niveau nachgerüstet wird. Außerdem ist Eile geboten. In der Landeshauptstadt muss der Luftreinhalteplan zügig fortgeschrieben und bis zum Ende des Jahres verabschiedet werden. Ein für alle Mal erledigt hat es sich, auf die Bundesregierung zu warten, weil die keine Blaue Plakette ermöglicht. Oder auf das KBA oder gar darauf, bis gegebenenfalls die Kostenübernahme mit den Herstellern ausverhandelt ist. Was allerdings nicht heißt, wie einer der Juristen anmerkt, dass PolitikerInnen nicht an das wirtschaftlich-unternehmerische Eigeninteresse der Industrie appellieren sollten, nach dem Motto: Wenn KundInnen die Kosten für eine Nachrüstung nicht erstattet bekommen, könnten sie die Marke wechseln.
Die Landesregierung lässt sich von der Industrie vertrösten
Am Thema Nachrüstung lässt sich die Chronologie der Versäumnisse herunterbeten. Da zeigt sich, wie vor allem PolitikerInnen der Union, von SPD und FDP den Kopf im Sand vergruben oder "aus politischem Kalkül mit dem Feuer spielen", wie einer in der Grünen-Fraktion sagt. Vor fast zwei Jahren hatte das damals neue grün-schwarze Kabinett, auch alle CDU-Minister, darunter Thomas Strobl (Innen), Guido Wolf (Justiz) und vor allem Nicole Hoffmeister-Kraut (Wirtschaft), den Feinstaub-Vergleich mit den AnwohnerInnen am Neckartor angenommen. Seither sollte die Schadstoffbekämpfung höchste Priorität haben.
Stattdessen ließ sich die Landesregierung immer wieder von der Industrie vertrösten. Beim Autogipfel musste sich Kretschmann sogar mit einem Show-Daimler abspeisen lassen, der per LKW in den Hof des Neuen Schlosses transportiert wurde, weil er nicht fahren kann, der davonrollte, weil er keine Bremsen besitzt, und der schon bei leichtem Nieselregen abgedeckt werden muss, weil er nicht dicht ist. Spätestens da hätten Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) oder die damalige Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) verdient, von allen ParteifreundInnen voll unterstützt zu werden in ihrem Bemühen, die Autoindustrie von der Notwendigkeit der Hardware-Nachrüstungen zu überzeugen. Stattdessen lässt sich zum Beispiel Hoffmeister-Kraut noch heute vor den Lobby-Karren spannen und redet weiterhin Software-Lösungen und großzügigen Ausnahmeregelungen über 2020 hinaus das Wort. Als wäre ein höchstrichterliches Urteil das Papier nicht wert, auf dem es steht.
Die Unternehmertochter ist promovierte Diplom-Kauffrau. Andreas Stoch hingegen, der frühere Kultusminister, heute Chef der SPD-Landtagsfraktion, hat Rechtswissenschaften studiert. Wie Reinhart verfügt er, da die Urteilsbegründung inzwischen seit fast drei Wochen vorliegt, sicher längst über den nötigen Durchblick und dürfte ahnen, wie ernsthaft mit dem Spruch umzugehen ist, wie "Handwerker", "Anlieger" und "Anwohner" ausgenommen werden könnten und wie mit KundInnen oder BesucherInnen umzugehen ist.
Stimmung machen statt Lösungen anbieten
Wirklich Gebrauch macht der Sozialdemokrat von seinem Expertenwissen allerdings nicht. Sondern er versucht, als selbsternannter Rächer aller DieselfahrerInnen, die Grünen im Duett mit FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke vor sich her zu treiben. Beide "warnten" Verkehrsminister Hermann und Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) vor Fahrverboten und machen weiterhin Stimmung, statt zur Lösung der komplizierten Lage beizutragen. "Was Verkehrsminister Hermann macht, ist eine Politik, die sich gegen viele Menschen richtet, die heute Fahrzeuge besitzen, mit denen sie vielleicht ab dem neuen Jahr nicht mehr nach Stuttgart fahren können", sagte Stoch kürzlich in einem Zeitungsinterview. Das seien "oft Leute, die keine 20 000 Euro auf dem Konto haben, um sich ein neues Auto zu kaufen". Und weiter: "Die Perspektive ist aber vielen Grünen fremd, weil sie die Situation dieser Menschen nicht kennen".
Der SPD wiederum ist fremd – auch keine erfreuliche Botschaft auf dem Weg zu den Kommunalwahlen – die Debatte mit konstruktiven Vorschlägen zu befruchten, seit vor einem Jahr im Stuttgarter Gemeinderat die Mehrheit für eine strengere Schadstoffpolitik gekippt ist. So beharrt die rote Gemeinderatsfraktion unter anderem auf dem 365-Euro-Jahressticket für den ÖPNV nach Wiener Vorbild, ohne allerdings zu erläutern, wie das entstehende immense Einnahmenminus dauerhaft gegenfinanziert werden kann. Dabei appelliert gerade Kretschmann eindringlich, manchmal geradezu flehentlich an die Opposition und an KommunalpolitikerInnen, endlich mit eigenen besseren Vorschläge zur Schadstoffsenkung herauszurücken – falls vorhanden.
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