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"Der Kapitalismus ist reformierbar"

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Die großen Themen im Leben von Ernst Ulrich von Weizsäcker sind Umweltschutz und Nachhaltigkeit. Ein Gespräch mit Stefan Siller über die neoliberale Wachstumsideologie, Balance und eine neue Philosophie für die Menschheit.

Feinstaub-Hauptstadt Stuttgart, Montagabend. Ernst Ulrich von Weizsäcker trinkt eine Tasse Darjeeling im Konferenzraum bei Kontext, draußen auf der Hauptstätter Straße staut sich der Feierabendverkehr. Aber, Überraschung: Die Luft in Stuttgart sei viel besser als sie früher einmal war, sagt Weizsäcker. Stefan Siller staunt: "Naja, wir diskutieren hier gerade über Fahrverbote." Doch der Co-Präsident des Club of Rome lässt sich nicht beirren. Sowieso ist der 78-Jährige bemerkenswert optimistisch in Anbetracht des Raubbaus, den die Spezies Mensch an ihrem Planeten betreibt. Vor allem die neoliberale Gier nach ständigem Wachstum sei daran schuld. Dabei, meint Weizsäcker, könnte Wachstum auch gesund sein. Wenn es eine Balance finden würde. Wenn sich die Menschheit noch dazu auf eine andere Grundphilosophie einigen könnte, könnte Wachstum sogar allen nützen.

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1972 hat der Club of Rome ein denkwürdiges Buch herausgegeben: Die Grenzen des Wachstums. Eine Studie zu den Ursachen und Folgen ständigen Wachstums von Industrie, Bevölkerung, Nahrungsmittelproduktion, Rohstoffverbrauch und Umweltverschmutzung. Mehr als 30 Millionen Exemplare in 29 Sprachen wurden bisher verkauft. "Das war der Aufruf, sich endlich mal um die Erde zu kümmern und nicht immer nur um den Menschen", sagt Ernst Ulrich von Weizsäcker. "Und was ist seither passiert? Verdopplung der Menschenzahl, Verzehnfachung des Konsums, Ausräuberung der Ozeane, kaputtes Klima. Die Umwelt hat ganz wahnsinnig gelitten in diesen letzten 50 Jahren, trotz aller Warnungen des Club of Rome."

Herr von Weizsäcker, woran liegt das?, fragt Stefan Siller.

Weil die Menschen zuerst einmal an die Menschen denken.

Es wäre ja schön, wenn sie an die Menschen denken würden und nicht nur an sich. Dann würden sie anders handeln.

Vielleicht ja. Aber sehen Sie es so: Zur Wahlurne gehen immer ausschließlich Menschen kein einziger Regenwurm. Die Menschen bestimmen das Geschehen, das nennt man jetzt Anthropozän. Für die Natur gibt es zwar Sonntagsreden, aber in der Praxis wird immer vom Menschen für den Menschen gearbeitet.

Vieles habe sich zwar dramatisch verbessert, sagt Weizsäcker. Er ist einer, der global denkt. Er findet die Hartz-IV-Armutsdebatte in Deutschland übertrieben. Dass die Armen ärmer werden und die Reichen reicher, stimme zwar, aber der arme Chinese sei heute durchaus reicher als früher. Heute gehe es, weltweit gesehen, allen besser als noch vor ein paar Jahrzehnten. Was aber tatsächlich schlimmer geworden sei, seien die Wertpapiere wie Schürfrechte für Mineralien, für fossile Brennstoffe. Sie hätten ein Finanzvolumen, das zehn Mal so hoch sei wie das Volumen der Finanzkrise 2008. "Das heißt, wenn wir ernst machen mit dem Klimaschutz, gehen diese Werte Hunderte von Milliarden den Bach runter." Und deshalb würden sich manche Unternehmer mit Händen und Füßen gegen den Klimaschutz wehren.

Herr von Weizsäcker, die SPD hat sich in Sachen Braunkohle auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert.

Weizsäcker winkt ab, Peanuts. Ein besseres Beispiel seien die USA unter Trump und die Unternehmer, die den US-Präsidenten gerade deshalb unterstützen, weil er den Klimaschutz zurückdreht.

Die sind viel mächtiger als die paar Braunkohle-Heinis im Rheinland. Das sind die eigentlichen Gegner.

Und gleichzeitig würde die Problematik getragen von der gesamten Finanzwelt. "Das nennt man dann Wachstum", sagt Weizsäcker.

Ich habe schon viele Interviews mit Wissenschaftlern geführt, die ich immer wieder gefragt habe, warum wir eigentlich Wachstum brauchen. Keiner konnte mir das bisher erklären.

Weil Wachstum immer Arbeitsplätze und Steuereinnahmen generiert. Zwei große Themen, die Parteien Wähler bringen. Wenn die Umweltkatastrophe weitergeht, der Meeresspiegel weiter steigt, was meinen Sie, was das für ein Bauprogramm für Deiche wird. Das ist alles Wachstum, damit können Politiker wiedergewählt werden. Das Schicksal der Enkelgeneration hat null Wert bei den Wahlen.

Ernst Ulrich von Weizsäcker. Foto: Martin Storz

Ernst Ulrich von Weizsäcker. Foto: Martin Storz

Ernst Ulrich von Weizsäcker, geboren 1939, Physiker, ist der Co-Vorsitzende des Club of Rome. Er hat einen internationalen Lebenslauf wie aus dem Bilderbuch: In den 1970er Jahren Lehrstuhl für Biologie an der Uni Essen, später Präsident der Universität Kassel, Wechsel ins UNO-Zentrum für Wissenschaft und Technologie in New York, Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie. Seit 2012 ist er Honorarprofessor an der Uni Freiburg. Für die SPD saß er von 1998 bis 2005 im Bundestag, zuvor viele Jahre im baden-württembergischen Landesvorstand. Er war unter anderem Vorsitzender des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und ist Träger des Bundesverdienstkreuzes. Zu den Themen Wachstum und Umwelt hat er mehrere Bücher publiziert. Er hat fünf Kinder und lebt mit seiner Frau in Emmendingen. (ana)

Der Club of Rome wolle "die Regeln so verändern, dass Leute mit hohem Anstand auch ökonomisch besser fahren als die Räuber – Stichwort Steueroasen. Die darf man, ohne den Egoismus der meisten zu beschädigen, stark zurückstutzen." Wichtig sei aber, in jeglicher Hinsicht eine Balance zu finden. "Im politischen Konflikt beispielsweise geht es immer darum, dass die linke Seite sagt, wir brauchen Gerechtigkeit, und die rechte Seite sagt, wir brauchen Leistungsanreize. Aber es wäre idiotisch zu sagen, der eine hat recht, der andere unrecht. Beide haben recht! Es kommt eben immer auf die Balance an."

Auch zwischen kurzfristigen und langfristigen Zielen. Klar könne man die kurzfristigen ebenfalls befriedigen, aber eben nicht zum nachhaltigen Nachteil der langfristigen. "Den langfristigen Rechtsstaat darf man nicht zertrümmern durch die kurzfristigen Finanzmärkte. Aber das ist das, was heute dauernd passiert." Wenn Balance herrsche, gehe es den Menschen besser, sagt Weizsäcker. Natürlich hätten auch in diesem Konzept manche das Nachsehen: "Die Absahner von heute wären auf der Verliererseite."

Herr von Weizsäcker, das könnten wir alle aushalten. Aber ist das nicht ein bisschen blauäugig? Woher nehmen Sie die Hoffnung auf einen besseren Menschen?

Die Worte besserer Mensch kommen im Vokabular des Club of Rome nicht vor. Wir wollen belehren, beschreiben. Das Ausräubern der Erde ist ja offensichtlich keine vernünftige Geschichte.

Was also tun?

Es kommt auf ein neues Denken an. Von 100 Euro, die mit Lichtgeschwindigkeit um die Welt sausen, sind zwei dazu da, Güter und Dienstleistungen zu bezahlen. 98 Euro sind rein spekulativ, immer zur Erhöhung der Kapitalrendite. Die Mobilität des Kapitals ist total geworden. Mit ungeheuer zerstörerischen Wirkungen für die Natur. Und trotzdem wird der Kapitalismus ohne Ende gepriesen.

Brauchen wir ein neues System? Oder ist der Kapitalismus so weit reformierbar, dass die notwendigen Ziele erreichbar werden können?

Darüber gibt es eine weltweite Diskussion. Bis 1990 war der Kapitalismus ja weitgehend anständig. Damals war das Schreckgespenst Kommunismus so präsent, dass man eine massive Umverteilung zugunsten der Schwächeren im eigenen Land vonseiten der Starken toleriert hat. Aber nach 1990 begann eine radikale neoliberale Doktrin zu herrschen, der heutige arrogante, kurzfristige, räuberische und naturzerstörerische Kapitalismus hat Monopolcharakter. Jetzt aber rebellieren US-amerikanische Studenten, nicht nur in Harvard, in ganz Amerika. Sie fordern Pluralismus von ihren Ökonomieprofessoren. Also sehe ich keinen Grund, warum der Kapitalismus nicht reformierbar sein soll. Man muss nur darauf achten, dass ein neues Konzept so gut durchdacht wird, dass diejenigen, die gemeinsamen Nutzen ersinnen, letztlich nicht die Verlierer sind. Das wäre wieder eine internationale Aufgabe.

Wie könnte das aussehen?

Man kann blühendes Wohlstandswachstum haben mit einer stark auf Solidarität und Umverteilung fußenden Sozial- und Wirtschaftspolitik. Aber es braucht zuerst einmal intellektuell die Voraussetzung dafür, dass man eine Umverteilung nicht immer nur über Steuern erreichen kann. Zum Beispiel dass man sagt: Bezahlte Arbeit von mehr als 40 Stunden die Woche ist nicht gestattet. Man muss nicht gleich auf das bedingungslose Grundeinkommen kommen. Die Forderung ist absolut plausibel, die Frage der Durchführbarkeit aber eine ganz andere.

Was wären die wichtigsten Schritte, um die Menschheit in Richtung Balance zu bringen?

Da gibt es einen originellen Vorschlag: Man müsste in jedem Land der Erde ein so genanntes Kohabitationsministerium einrichten. Dessen ausschließliche Aufgabe wäre es, sich Arbeitsfelder auszudenken und politisch zu entwickeln, die dem eigenen Land massiv nützen und gleichzeitig möglichst vielen anderen Ländern auch nützen. Statt immer nur einen Ellbogenkampf zu führen. Alle gegen alle, das ist Idiotie.


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4 Kommentare verfügbar

  • Manfred Fröhlich
    am 29.05.2018
    Antworten
    >> Die Menschheit in Richtung einer neuen Balance bringen? << JA. Das muss die erste Aufgabe der führenden Nationen werden. Die Politik muss für gleiche Standards bei der Globalisierung sorgen: Wirtschaftsrecht, Menschenrechte, Umweltschutz, globale-Grundeinkommen … Die EU sollte einfach damit…
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