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Die Ellwangen-Hysterie

Die Ellwangen-Hysterie
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Die Aufregung in Politik und Medien war riesig, als sich am vergangenen Donnerstag eine Gruppe Geflüchteter der Abschiebung ihres Nachbarn entgegenstellte. In der erschreckenden Kriegsrhetorik gegenüber den Bewohnern der Ellwanger LEA ging die Menschlichkeit unter.

Zwei Tage nach der großen Razzia ist es ruhig vor der LEA in Ellwangen. Am frühen Samstagabend steht auf dem Parkplatz der Landeserstaufnahmestelle für Geflüchtete nur ein Auto einer Sicherheitsfirma, Journalisten und Kamerateams sind weg. Männer aus Afrika gehen durch die Pforte der ehemaligen Kaserne, viele kommen vom Einkaufen aus dem nahen Edeka-Markt, Security-Mitarbeiter kontrollieren die Ausweise und die Einkaufstaschen. Hinter dem Zaun und dem Wachhäuschen steht ein großes Schild der Stadtverwaltung mit der Aufschrift: "Willkommen in Ellwangen", darunter eine Weltkugel mit dem afrikanischen Kontinent im Zentrum. Große und kleine bunte Menschen bevölkern dieses Erdenrund.

Am Donnerstag der vergangenen Woche war hier von Willkommenskultur und interkulturellem Miteinander nichts mehr zu spüren gewesen: Etwa 500 Polizisten, viele von ihnen vermummt und mit Schlagstöcken bewaffnet, stürmten in aller Frühe die ehemalige Reinhardt-Kaserne, nachdem in der Nacht von Sonntag auf Montag zwei Polizeistreifen abgezogen waren. Den vier Polizeibeamten war es nicht gelungen, einen 23-jährigen Mann aus Togo aus der LEA herauszuholen, der nach Italien abgeschoben werden sollte. Der Mann wehrte sich nicht. Allerdings stellten sich etwa 150 afrikanische Männer der Festnahme entgegen. Die vier Polizisten zogen unverrichtete Dinge wieder ab.

Ein Empörungs-Tsunami schwappt über die Geflüchteten

Am Donnerstagmorgen kehrte die Polizei mit Verstärkung zurück. Mehrere hundert Beamte durchsuchten drei der fünf LEA-Gebäude. 292 der rund 500 Geflüchteten wurden überprüft, der Togolese festgenommen und in die Abschiebehaftanstalt Pforzheim gebracht. Sein Rechtsanwalt legte Widerspruch gegen die Abschiebung ein. Nach Polizeiangaben wurden bei dem Einsatz elf LEA-Bewohner verletzt. Ein Polizist verletzte sich laut Polizei "ohne Fremdeinwirkung". Soweit die Fakten.

In der Pressemitteilung der Polizeidirektion Aalen vom Mittwoch wurde von "aggressivem" und "drohendem Verhalten" seitens der Geflüchteten berichtet. Tatsächlich hatten einige der Männer mit Fäusten auf die Polizeiautos getrommelt. Aber der genaue Sachverhalt ging in einer Welle hysterischer Meldungen aus Politik und Presse unter, in einem Empörungs-Tsunami über widerständige Afrikaner, die sich dem deutschen Asylgesetz und dann auch noch der deutschen Polizei widersetzten. Die "Stuttgarter Zeitung" schrieb von "Asyl-Meuterei", die FAZ vom "Aufstand" in Ellwangen, die "Stuttgarter Nachrichten" von "gewaltsam vereitelter Abschiebung" und von "Attacke auf die Polizisten". Focus brachte den "Abschiebeskandal" als "News-Ticker", "Bild" schrieb von "Flüchtlingsrandale" und unterlegte das Ganze mit einem Foto eines drohenden Schwarzen – mit Sonnenbrille, die Hand mit Kippe zwischen den Fingern drohend erhoben.

AfD, CDU und CSU überschlagen sich jetzt vor Empörung und mit Forderungen nach einer härteren Gangart gegenüber Geflüchteten. Rainer Wendt, Bundesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft, lässt sich in den Tageszeitungen "Heilbronner Stimme" und "Mannheimer Morgen" zitieren mit den markigen Worten: "Wer Polizeikräfte angreift, darf keine Stunde mehr in Freiheit sein, bis er zurück in seinem Herkunftsland ist." Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) und Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) drohen mit Entzug der Entwicklungshilfe für Länder, die nicht mit Deutschland "kooperieren". Deutschlands neuer <link http: www.taz.de aufstellung-des-innenressorts _blank external-link-new-window>Hardcore-Innenminister Horst Seehofer spricht von einem "Schlag ins Gesicht der rechtstreuen Bevölkerung", Alexander Dobrindt von einer "Anti-Abschiebe-Industrie". Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) verkündet vor Fernsehkameras, dass es "keine rechtsfreien Räume" im Land geben dürfe.

Sachliche, möglicherweise konstruktive Kritik an der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung oder der Unterbringungsart Sammelunterkunft hatten so gut wie keinen Platz in der ganzen Hysterie. Ebenfalls nicht Besonnenheit oder von Seiten vieler Medien gar ein zweiter Gedanke daran, ein derzeit so heikles Thema mit Sachverstand zu behandeln. Der einfache Skandal ist immer besser verkäuflich als die kompliziertere Wahrheit dahinter.

Besonnenheit und Sachverstand sind die Ausnahme

Nur wenige Medien berichteten unaufgeregt oder besonnen wie die taz oder die "Frankfurter Rundschau" (FR). "Natürlich ist der Aufschrei hier deswegen so groß, weil sie nach jeder Begründung für eine Verschärfung des Asylrechts lechzen",<link http: www.fr.de politik meinung kommentare fluechtlingsheim-in-ellwangen-empathiebefreitheit-aus-machtkalkuel-a-1500764 external-link-new-window> schrieb Kathja Thorwart in der FR. "Wie wäre es stattdessen, mal die Sachlage zu überprüfen, beispielsweise dahingehend, was es mit Menschen macht, die völlig perspektivlos auf engstem Raum zusammengepfercht werden?"

Auch die Sicht der LEA-Bewohner drang kaum durch. "Wir haben geschlafen, da kamen sie rein, weckten uns laut, haben getreten und geschlagen und alle Sachen durcheinander gebracht. Ich wusste gar nicht was los ist. Sie haben alle rausgeholt aus den Zimmern, haben viele gefesselt, manche Leute sind verletzt worden", berichtet ein 34-jähriger Mann aus Nigeria der örtlichen Lokalzeitung. Ein junger Mann aus Kamerun erzählt Kontext am Samstagabend, wie geschockt er gewesen sei vom Großeinsatz der Polizei. Geflüchtete seien vor Angst aus dem Fenster gesprungen und hätten sich dabei verletzt, vielen sei bei der Durchsuchung das Geld abgenommen worden, das sie tags zuvor bei der sogenannten Taschengeldausgabe erhalten hatten.

Am vergangenen Montagabend meldeten sich die Bewohner der LEA schließlich mit einer Pressemitteilung und einer Einladung zum Gespräch am heutigen Mittwoch zu Wort. Unter der Überschrift "Viel wurde über uns geredet, jetzt reden wir!" schildern sie die Erlebnisse aus ihrer Sicht: "In den Gebäuden positionierte sich die Polizei vor sämtlichen Türen und schlug zeitgleich alle Türen ein, obwohl man die Türen in der Einrichtung nicht abschließen kann. Wir waren alle im Bett. Die Polizei leuchtete mit Taschenlampen. Niemand durfte sich anziehen. Alle mussten die Hände in Höhe halten und wurden gefesselt. Die Zimmer wurden durchsucht. Viele wurden bei der Polizeiaktion verletzt. Wer Fragen stellte, musste mit Gewalt rechnen. Wir dachten, es handelt sich um eine großangelegte Abschiebeaktion. Die Polizei unterstellte in einer Pressemitteilung, wir hätten Waffen und gefährliche Gegenstände. Nichts von dem ist wahr, nichts wurde bei den Durchsuchungen gefunden."

Der Flüchtlingsrat spricht von Kriminalisierung

Und auch der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg verurteilte die darauf folgende politische Kampagne als den "widerlichen Versuch", Geflüchtete weiter zu kriminalisieren und sich ein "law-and-order-Image" zu verschaffen, in der "verzweifelten Hoffnung, damit der AFD den Rang abzulaufen". Jetzt erst recht brauche es ein Bündnis aller Kräfte, die die Menschenrechte der betroffenen Geflüchteten ernst nehmen und verteidigen. (<link https: www.kontextwochenzeitung.de fileadmin content kontext_wochenzeitung dateien fluechtlingsrat_bw_-_stellungnahme_zu_den_ereignissen_in_der_erstaufnahmeeinrichtung_in_ellwangen.pdf internal-link-new-window>Die vollständige Pressemitteilung finden Sie hier.)

Der junge Kameruner, mit dem Kontext gesprochen hat, glaubt, dass der festgenommene Mann aus Togo deshalb so schnell abgeschoben werden sollte, weil er in der Vergangenheit andere Flüchtlinge in der LEA über ihre Rechte informiert habe. Er selbst hofft, dass er die LEA bald verlassen darf, das Leben hier sei frustrierend. "Es gibt keine sinnvolle Beschäftigung. Arbeiten dürfen wir nicht." Das Essen in der Kantine sei schlecht, das kleine Taschengeld reiche nicht aus, um genügend eigene Lebensmittel kaufen zu können. Ständig lebten sie in der Angst, Deutschland wieder verlassen zu müssen. Das zehre an den Nerven.

In einer schönen Stadt in Deutschland will er in Frieden leben und arbeiten – seine kleine Familie mit seinem eigenen Verdienst selbst versorgen. Das Schild mit den bunten Männchen auf dem Erdball und der Aufschrift: "Willkommen in Ellwangen" verblasst derweil mehr und mehr im Sonnenuntergang.

 

Info:

Am Mittwoch, 9. Mai, findet ab 17 Uhr eine Demonstration vor der LEA statt, zwischen 12 bis 18 Uhr gibt es eine Mahnwache auf dem Marktplatz in Ellwangen.

"Wer auch immer diesen Polizeieinsatz zu verantworten hat", schreiben die LEA-Bewohner in ihrer Einladung zum Pressegespräch, "er war politisch motiviert und inszeniert. Die bundesweite Berichterstattung und Diskussionen über eine nächtliche spontane, friedliche und politische Aktion, zeigt, wie stark dieses Land mit fremdenfeindlichen Ressentiments aufgeladen ist. Viel wurde in den letzten Tagen über uns geredet. Niemand hat uns nach unserer Meinung gefragt. Am Mittwoch möchten wir über unsere Situation sprechen. Wir hoffen, es werden uns viele zuhören."


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7 Kommentare verfügbar

  • Schwa be
    am 12.05.2018
    Antworten
    Wie aus meinem Kommentar weiter unten hervorgeht, wird die Gewaltspirale (Regime Changes, wirtschaftliche/militärische Zerstörung und die Destabilisierung vieler Länder insbesondere in Afrika, Südamerika und im Nahen Osten) von bürgerlich neoliberaler (kapitalorientierter) Politik in Gang gesetzt. …
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