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Rote Kakophonie

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Zum ersten Mal in ihrer Geschichte wird die SPD von einer Frau geführt. Über ihr Ergebnis von 66 Prozent kann sich Andrea Nahles nur verhalten freuen. Was aus der zigfach beschworenen Erneuerung wird, steht in den Sternen. Gerade im Südwesten.

Wie beziehungsreich: SPD-Fraktionschef Andreas Stoch, die Jusos und die Sozialdemokratische Gesellschaft für Kommunalpolitik (SGK) laden Ende April zur Pressekonferenz auf eine Baustelle im Stuttgarter Osten ein. Ort und Inhalt illustrieren Orientierungslosigkeit. Denn der Komplex Schönbühlstraße 83 bis 85 steht gar nicht für die proklamierte Schaffung, sondern für die Vernichtung von bezahlbarem Wohnraum. Errichtet sind 14 Wohnungen zwischen 70 und 100 Quadratmeter groß. Verschwunden dafür, wie Ursel Beck von den "Mieterinitiativen Stuttgart" vor dem Abriss der Gebäude 2014 beklagte, "preisgünstige Angebote". Viele Wohnungsbaugesellschaften, hier der Stuttgarter Wohnungs- und Bauverein, seien über Jahrzehnte "ihrer gesetzlichen Instandhaltungsverpflichtung nicht nachgekommen", hätten "die ganze Kaltmiete als Gewinn eingesackt", um dann "Neubauten mit doppelt oder dreimal so hoher Miete hinzustellen".

Die ganze Aktion sollte mit dazu dienen, der eigenen Landesvorsitzenden Leni Breymaier und ihrer auf dem rechten Parteiflügel so ungeliebten Generalsekretärin Luisa Boos ans Schienbein zu treten. Der Landesvorstand hatte mit einem Leitantrag "Arbeit und Fortschritt in einer neuen Zeit gestalten" die Digitalisierung ins Zentrum eines Kleinen Parteitags Ende April rücken wollen. Boos drückt außerdem von links mit dem Papier "Anleitung zur Radikalisierung der SPD". Stoch, der Juso-Landesvorsitzende Leon Hahn und SGK-Landeschef Frederick Brütting möchten hingegen mit ihrem eigenen ohnehin weitgehend der Beschlusslage entsprechenden Antrag den Wohnungsbau zum Hauptthema in Bruchsal machen. Letzterer, seit sechs Jahren Bürgermeister in Heubach auf der Ostalb, spielt dabei eine delikate Rolle im Ringen um Einfluss in der Südwest-SPD. Denn der 35-Jährige ist einer von Breymaiers Vizes und stellt sich in der strahlenden April-Sonne neben Stoch und Hahn doch gegen sie.

Wohin erneuert sich die SPD – nach links oder nach rechts?

Alle hätten verstanden, dass "wir an einem Strang ziehen müssen", verkündet Hahn dennoch. Nicht ohne noch am Wochenende die Gelegenheit des wenig strahlenden Zweidrittel-Ergebnisses für Andrea Nahles unverzüglich zu nutzen, um ihr die Rute ins Fenster zu stellen: "Sie hat keinen Freifahrtschein als Vorsitzende bekommen, sondern einen klaren Auftrag, die SPD neu aufzustellen." Die Landesvorsitzende dagegen ist schon lange bekennende Nahles-Anhängerin und angesichts des schwierigen Starts erst recht: "Auf meine Unterstützung kann sie zählen."

Ohnehin ist völlig unklar, was passiert auf dem rechten Flügel der Partei, falls die sogenannte Neuaufstellung, die monatelangen Diskussionen, die jetzt an der Basis geführt werden sollen, am Ende mit einer Verschiebung nach links einhergehen. Also dorthin, woher Nahles kommt. Konkret: Was bleibt von Hartz IV übrig und vom Dogma Schwarze Null? Welchen Stellenwert bekommen Wohnungsbau, Infrastruktur und Armutsbekämpfung unter der neuen Parteiführung? Als die Jusos in Wiesbaden ganz am Ende des Sonderparteitags entgegen dem Willen der Parteispitze solche und andere Fragen behandelt haben wollen, wird die Spaltung offenbar.

Der Antrag, sich doch inhaltlich festzulegen, scheitert nur knapp. Und Applaus brandet ohnehin immer dann auf, wenn linke Leidenschaft sich Bahn bricht. Vor allem bei Martin Schulz' Auftritt als scheidender Parteichef und seinem flammenden Appell gegen die Rechtspopulisten. Oder bei Nahles selber, die ihre Partei als Hort der "Gerechtigkeit in dieser globalisierten neoliberalen turbodigitalisierten Welt" positionieren will.

Und nicht zuletzt bei Pedro Sánchez, dem Chef der spanischen PSOE, der vor den über 600 Delegierten schwärmte: vom Sozialismus, von der SPD und von Willy Brandt, dem alle SpanierInnen und nicht nur die linken bis heute "zu tiefem Dank verpflichtet sind" für seine Rolle beim Übergang zur Demokratie. Da springt der Funke über. Bis ihn Finanzminister Olaf Scholz eilig wieder austritt mit apparatschikhaften Floskeln wie einem Dank an jene, "die in den vergangenen Jahren sozialdemokratische Politik betrieben haben" oder der onkelhaften Äußerung "Ich glaube, es ist ein Fortschritt, dass wir heute eine Frau wählen".

Melange aus Geschwätz und versuchter WählerInnentäuschung

#SPDerneuern stärkt bisher die Schwächen statt die Stärken. Selbst Generalsekretär Lars Klingbeil findet nichts dabei, die jüngere Vergangenheit noch schlechter zu reden, als sie ohnehin war. Nur um die Zukunftsverheißungen umso heller strahlen zu lassen. Wo früher "zwei, drei Personen beschlossen haben, wer Bundesvorsitzender wird", da soll ab sofort alles ganz anders werden. Als ob es nicht schon früher Mitgliederentscheide gegeben hätte. Und als ob es nicht Aufgabe von Spitzengremien wäre, personalpolitische Weichen zu stellen. Auch die Behauptung, dass "unsere Schubladen leer sind und neu mit Konzepten gefüllt werden müssen", ist dreist. Gegenüber all den GenossInnen, die sich bis hinunter in die Ortsvereine programmatisch ins Zeug legen. Und gegenüber dem interessierten Publikum, das so argwöhnen muss, das Wahlprogramm von 2017 sei ohnehin bloß eine Melange aus Geschwätz und versuchter WählerInnentäuschung gewesen.

133 Seiten inhaltliche Forderungen liegen im neuen Wiesbadener Kongresszentrum auf den Tischen, mit mehr als 40 Anträgen von A wie Arbeitsmarkt- bis V wie Verkehrspolitik. Von wegen leere Schulbladen: Der Ortsverein Stuttgart-Ost setzt sich "bei der Reform der Grundsteuer für eine reine Bodenwertsteuer ein". Die Südwest-SPD hat einen umfassenden siebenseitigen Vorstoß zur Rentenreform vorgelegt. Der Bezirk-Weser Ems ist deutlich weiter als die Erneuerungs-ApologetInnen im Bundesvorstand. Ausformuliert ist nicht nur, dass, sondern wie die Erneuerung geschehen soll – entlang von 15 Punkten. Darunter ebenfalls die Abkehr von der Schwarzen Null für Investitionen etwa in Infrastrukturprojekte, die Erhöhung der Kapitalertragssteuer, die Einführung einer Grundrente "deutlich höher als Hartz-IV" oder Wettbewerbserleichterungen für die Daseinsvorsorge in öffentlicher Hand.

Die Arbeit darf vorerst allerdings nicht fruchten. Denn alle Vorstöße werden erst einmal, wie es offiziell heißt, "zur Aufnahme in den Arbeitsprogrammprozess #SPDerneuern" überwiesen. Genährt wird so der Eindruck, die im 18-Prozent-Umfragetief dümpelnde Partei gehe mehr ängstlich-verzagt als mit munterem Schwung in die Basisarbeit. Hinzu kommt modischer PR-Jargon. Zum Beispiel, als Klingbeil im Berliner "Telefónica Basecamp" den Arbeitsprogrammprozess vorstellt – "bewusst nicht im Willy-Brandt-Haus, sondern in den Eventräumen eines "modernen Telekommunikationsunternehmens". Natürlich live-gestreamt bei facebook, wurden "Barcamps" (zu Deutsch: offene Veranstaltungen) angekündigt und "Speed Boats" (zu Deutsch: Kooperationsplattformen), es wurde "gepitcht" (zu Deutsch: in Konkurrenz präsentiert) und getwittert. "Ich bin 2010 in die SPD eingetreten", postet eine Teilnehmerin, "das ist jetzt mein dritter Erneuerungsprozess, und ich bin gespannt, was noch so passiert."

Fatale Bereitschaft zur Illoyalität

So reiht sich Problem an Problem. Erst recht, weil die SpitzengenossInnen nicht schweigen in Talkshows und im Bundestag, bei Interviews und per Tweet. So ist #SPDerneuern zwangsläufig begleitet von einer Vielstimmigkeit in zentralen Fragen und auf höchster Ebene. Es ist absehbar, dass sich langsam, aber sicher Überdruss aufbaut, weil erst Ende 2019 ein weiterer Bundesparteitag zur "Orientierung für die Zukunft" den Schlusspunkt setzt. Unter eine "Erneuerung", von der die Ulmer Partei-Linke Hilde Mattheis schon jetzt sagt, man könne das Wort bald nicht mehr hören.

Selbst aktuelle Debatten dürfen nicht zur Entscheidung geführt werden. Boos wollte – ohne Erfolg – die Kindergrundsicherung auf die Tagesordnung heben, andere das solidarische Grundeinkommen, das Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller fordert. Der neue Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil hingegen bezeichnet sich als "offen" für Gespräche. Eine beliebte Formel, aus der wenig Willen spricht und viel Verschleierungsabsicht. Minister Scholz will "das Kernprinzip der Arbeitsmarktreformen" aus der Ära Gerhard Schröder nicht in Frage stellen. Mattheis spricht dagegen Klartext: "Korrigiert doch endlich mal Hartz IV, korrigiert doch mal die Agenda-Politik." Das müsse "mal abgeräumt werden, damit wir nach vorne gucken können".

Kakophonie in Rot, die obendrein – wie der Stuttgarter Baustellenbesuch – von einer fatalen Bereitschaft zur Illoyalität flankiert wird. Vorhersehbar ist, dass dieser inhaltliche Dissens mangels Festlegungen auf Landesparteitage getragen wird. Nahles bekam in Wiesbaden viel Beifall für ihr Bekenntnis zum "Paradigma der Solidarität" und für die Forderung, diese Solidarität intern vorzuleben. Im Leitantrag "Eine neue Zeit braucht eine neue Politik" kommt der Gedanke jedoch überhaupt nicht vor und der Begriff "links" ebenso wenig.

Stattdessen Verheißungen wie diese: "Wir wollen uns zu einer lernenden Organisation entwickeln, die ihre Strukturen und Schwerpunkte immer wieder hinterfragt. Unsere Partei hat sich in über 150 Jahren immer wieder verändert und neu erfunden. Das gehört zur DNA unserer Partei und das wollen wir in der täglichen Arbeit leben." Mit so etwas ist weder ein Blumentopf zu gewinnen noch eine der DVDs "Wenn Du was verändern willst ...", die im SPD-Online-Shop gerade für Euro 9,90 verramscht werden. Und sozialdemokratisches Profil erst recht nicht.


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7 Kommentare verfügbar

  • Rolf Steiner
    am 26.04.2018
    Antworten
    Die CDU/CSU/AfD mokieren sich -über die Errungenschaften der 68er. Damit zeigt sich: Diese Leutchen wollen die Adenauer-Republik samt ihren Globkes und Kiesingers, Strauss' und seinen Meineid-Zimmermanns aus der verschimmelten Rumpelkammer der Geschichte zurück holen. Und sowas nennt sich dann in…
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