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Der schiefe Turm

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Es ist wieder PISA-Zeit. 15-Jährige werden erneut getestet. Das Riesenecho auf die Veröffentlichung der internationalen Punkterankings, diesmal im Dezember 2019, hat Tradition. Dabei sind die OECD-Vergleiche von Anfang an in einer gefährlichen Schräglage.

Vielleicht hätte eine ordentliche Klatsche wirklich was bewirkt. Wie bei lernunwilligen SchülerInnen, die erst dann richtig loslegen, wenn es Fünfen und Sechsen hagelt. Die Bundesrepublik hängt aber fest im gefährlichen Pisa-Mittelmaß. Und der vielbeschriebene Schock von 2000 war gar keiner, jedenfalls nicht in der entscheidenden Gerechtigkeitsfrage.

Stattdessen gab und gibt es viel Aufregung über die Platzierungen. Selbst wenn die Unterschiede und Verschiebungen nur minimal sind. 2015 zum Beispiel liegen zwischen Platz eins und zwei – Singapur und Hongkong – 16 Punkte und damit ebenso viele wie zwischen Platz 13 – Deutschland – und Platz 27, belegt von Russland, Österreich und Spanien. Zur Einordnung: Ähnlich viele Punkte (15) betrug zwischen 2012 und 2015 das naturwissenschaftliche Minus heimischer SchülerInnen. Die Bestürzung war groß. 

Tatsächlich wäre es viel wichtiger endlich den Zusammenhang zwischen Herkunft und Schulerfolg ernsthaft anzugehen. "In keinem Land ist er enger als in Deutschland", heißt es im ersten, schon im Dezember 2001 veröffentlichten Pisa-Bericht. Europäische Vorbilder mit ähnlichen Systemen hätte es durchaus gegeben: In Schweden, Norwegen, Österreich, Italien, Spanien, Lettland oder Finnland waren die Aufstiegschancen durch Bildung deutlich besser. "Hohes Kompetenzniveau und geringe soziale Ungleichheiten – diese wünschenswerte Kombination wird vor allem durch die Sicherung eines befriedigenden Leistungsniveaus in den unteren Sozialschichten erreicht", schrieben die Autoren. Die Botschaft wurde xfach verbreitet. Wirksame Konsequenzen? Fehlanzeige.

Pisa hat wenig mit der Schulwirklichkeit zu tun

Stattdessen wurde und wird mit den immer neuen Testzyklen, den immer neuen Vergleichen und Nachfolgestudien vor allem die ewige Strukturdebatte gefeuert. Trotz all der Warnungen vor Fehl- und Überinterpretationen. "Pisa hat nicht viel mit der Wirklichkeit von Schule zu tun", wiederholt Stefan Hopmann seit Jahren. Der Bildungsforscher mit langjähriger internationaler Erfahrung ist einer der renommierten Kritiker, weil "im klassischen Sinne die Produktion von Halbbildung gemessen wird" und "die Untersuchung ausschließlich darauf abzielt, einen bestimmten Typus, nämlich Testfähigkeit, zum Maßstab zu machen". Das unterschätze die Komplexität und Breite von Bildung aber "katastrophal", so Hopmann. Und er beklagt – ein Aspekt von besonderer Bedeutung für die aktuelle Situation Baden-Württemberg – die Einengung der "Qualitätsdebatte auf Schülerleistungen".

Grüne und CDU im Land haben in einer Art koalitionären Burgfriedens beschlossen, die anhaltenden Differenzen in Fragen der Struktur, des längeren gemeinsamen Lernens und Lehrens, des Umgangs mit Heterogenität oder auch nur in der Ausgestaltung von Ganztagsschulen zu verwischen mit Hilfe der Betonung des gemeinsamen Ziels: Der Unterricht muss besser werden im Land. Wenn aber Vergleichsstudien als Basis für neue Rezepte gar nicht taugen oder vor allem zu falschen Schlüssen verleiten, dann kann sich am Mittelmaß schwerlich etwas ändern. Schon vor der Bildungsplanreform von 2004 in Baden-Württemberg wiesen Fachleute darauf hin, dass gute bis sehr gute Kinder und Jugendliche auf diese Weise ebenso aus dem Fokus geraten wie diejenigen mit großen Förderbedarf. Beide Gruppen stören gleichermaßen, wenn Unterrichtskonzepte nicht gezielt darauf ausgerichtet sind, möglichst vielen auf die jeweils notwendige Weise gerecht zu werden.

Besonders intensiv haben sich gerade US-Statistiker mit Pisa befasst. Und sie bestätigen alle VergleichsskeptikerInnen. Zwar ist einerseits nachvollziehbar, dass die OECD-Tests unterschiedlichen Kulturen und Herangehensweisen nicht umfassend gerecht werden können. Andererseits mussten Länder mit Dualer Berufsausbildung wie Deutschland oder Österreich aber jahrelang für die Berücksichtigung dieser wichtigen Säule ihres Bildungssystems vor allem deshalb kämpfen, weil es sie anderswo nicht gibt. Außerdem unterscheiden sich die ausgewählten SchülerInnengruppen erheblich. In Südkorea oder Singapur dürfen sich TeilnehmerInnen gezielt auf die Tests vorbereiten. Und nicht nur in Diktaturen wie China wird eine Vorauswahl unter den Teilnehmenden getroffen. Selbst der vielgerühmte Pisa-Sieger Finnland mit ersten Plätzen in allen Kompetenzkategorien von Anfang an schließt LegasthenikerInnen aus. Hinzu kommen Banalitäten wie Übersetzungsfehler und, sogar daraus resultierend, allzu komplexe Fragen. So hat der Physiker Joachim Wuttke seine Kritik nicht nur in zwei Bücher zusammengefasst, sondern unter vielem anderen herausgefunden, dass im Zyklus 2003 die deutschen Aufgaben durchschnittlich 16 Prozent länger waren als die englischen.

Alle lesen aus den Daten, was ihnen in den Bildungskram passt

Auch schon seit 2000 bemängelt wird fehlende Transparenz, da viele Fragen gar nicht öffentlich sind. Im zweiten Zyklus 2003 gab es weltweit nicht weniger als dreizehn verschiedene Testhefte. Von den insgesamt 165 unterschiedlichen Aufgaben bearbeiteten die SchülerInnen in den auf zwei Stunden angelegten Tests rund 50, aber keineswegs die selben in den verschiedenen Ländern. Für Wuttke ist Pisa ohnehin ein "teurer Zufallsgenerator", nicht zuletzt der ganz unterschiedlichen Gravität, die den Prüfungen beigemessen werden: "In Seoul wird vor der Testung die Nationalhymne gesungen, in Hamburg geben die Ersten nach fünf Minuten ab."

Dennoch haben die Fachleute der OECD den Anspruch erhoben, dass die regelmäßigen Vergleiche der Leistungen in mehr als 40 Staaten konkrete Veränderungen auslösen, bis hin zu Lehr- oder Bildungsplänen. Hopmann beschreibt allerdings ganz anderes: "Weil die Daten selber keine Antworten liefern, liest sie jeder, wie er will." Also sehen sich die einen bestätigt im Festhalten am mehrgliedrigen System, die anderem in ihren Reformbestrebungen. Das Angebot für die, die vor allem eigene (Vor-)Urteile pflegen wollen, ist jedenfalls breit gefächert: Vom asiatischen Frontalunterrichts-Drill bis hin zu den finnischen Ganztagsangeboten, die schon allein der langen Wege wegen nötig und sinnvoll sind. Zu Spitzenplätzen führen beide.

Als 2016 – eine Besonderheit im föderalen Deutschland – die eigenen Bundesländer-Vergleiche zur Lesekompetenz von NeuntklässlerInnen veröffentlicht wurden, trieben es CDU- und FDP-BildungspolitikerInnen im Südwesten besonders toll. Denn in ihren Augen lag die Schuld für den Absturz natürlich bei der von Grün-rot eingeführten Gemeinschaftsschule. Allerdings gab es da einen gravierenden Schönheitsfehler: Gemeinschaftsschulen hatten zum Test-Zeitpunkt noch gar keine neunten Klassen, waren also gar nicht Bestandteil der Studien.

Mindestens genauso intensiv wie das Versagen bei der Chancengerechtigkeit muss endlich die in allen bisherigen Pisa-Berichten thematisierte Situation von Einwandererkindern betrachtet werden, gerade mit Blick auf zukünftige Herausforderungen. "15-Jährige mit nur einem im Ausland geborenen Elternteil unterscheiden sich in der Bildungsbeteiligung kaum von Jugendlichen, deren Eltern beide in Deutschland geboren sind", heißt es schon im Jahr 2001. Und weiter: "Sind jedoch beide Eltern zugewandert, so ist die Situation erheblich ungünstiger." Längst bekannt ist ebenso, dass die erste Generation deutlich besser abschnitt als im Land geborene Kinder von Eltern ohne deutsche Wurzeln. Schon 2003 betrug der Unterschied in Mathe nicht weniger als 22 Punkte.

Fast 50 Prozent der Jugendlichen, deren Eltern beide zugewandert sind, bleiben in den Lesekompetenzen deutlich zurück, wiewohl sie ihre gesamte eigene Schullaufbahn hierzulande absolviert haben. Und noch eine Erkenntnis schmerzt, gerade in einem Land, in dem – angestoßen von Ministerpräsident Erwin Teufel (CDU) – noch vor fünfzehn Jahren ernsthaft über die Vorschrift diskutiert wurde, auf Schulhöfen die verschiedenen Muttersprachen zu verbieten: "Wenn die Familien an ihrer Herkunftssprache festhalten, sind sie sozial besser integriert, und ihre Kinder erreichen erheblich bessere Leistungen im Lesen." Nur um Missverständnissen vorzubeugen: Nicht in der Herkunftssprache, sondern in Deutsch. 

Für Andreas Schleicher, den deutschen OECD-Direktor und – naturgemäß – Pisa-Verteidiger der ersten Stunde, ergibt sich aus solchen und anderen Erkenntnissen eines: Dass "man noch sehr viel erreichen kann, um Chancengerechtigkeit zu verbessern". Und erreichen muss. Denn die Chancengerechtigkeit, sagt der Hamburger, dem als Junge die Gymnasialempfehlung verwehrt wurde, sei "im Grunde das große Thema unserer Zeit". Hätte sich diese Erkenntnis früher und nachhaltig durchgesetzt, wäre Deutschland 2018 deutlich weiter.

 

Lese-Tipps:

Thomas Jahnke, Wolfram Meyerhöfer (Hrsg.): PISA & Co - Kritik eines Programms, Verlag Franzbecker, Hildesheim 2007

Stefan Thomas Hopmann, Gertrude Brinek, Martin Retzl (Hrsg.): "PISA zufolge PISA" , LIT-Verlag, Münster 2007


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