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Lummerland ist abgebrannt

Lummerland ist abgebrannt
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Die Stuttgart-21-Fans im Eisenbahn-Bundesamt (EBA) haben ihre segensreiche Tätigkeit zur Unterstützung des Tiefbahnhofs fortgeschrieben. Begründete Einwände zum Brandschutz und den Fluchtwegen werden nonchalant beiseite gewischt.

Jetzt geht's ans Eingemachte. An das, was im EBA-Deutsch "Ereignisfall" heißt. Ereignisfälle sind Katastrophen oder Anschläge: Das Zugunglück von Eschede 1998 mit mehr als hundert Toten, die Massenpanik bei der Duisburger Love-Parade 2010 mit 21 Toten oder die Tunneltragödie im österreichischen Kaprun 2000 mit 155 Toten. Bauwerke wie Flughäfen oder Bahnhöfe müssen für solche Eventualitäten ausgelegt sein. Allein in Tunneln findet nach der Statistik bundesweit durchschnittlich alle sieben Monate ein Brandunfall statt.

Der dazu passende Schlüsselsatz stammt von Schlichter Heiner Geißler: "Alle Brände und alle Unglücke, die passieren, beruhen darauf, dass entweder bestimmte Vorschriften nicht eingehalten worden sind, oder dass die Gefahren nicht gesehen worden sind." Sein Beispiel im Herbst 2010 war der Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln eineinhalb Jahre zuvor, nach einem Wassereinbruch an der Stadtbahntunnel-Baustelle in unmittelbarer Nähe. O-Ton Geißler: "Das Haus ist samt Stadtarchiv im Loch verschwunden, obwohl es rite planfestgestellt war."

Stuttgarter Branddirektion hat Bedenken? Macht nix!

Rite, also ordnungsgemäß planfestgestellt ist mit Datum vom 19. März 2018 zum Stuttgarter Tiefbahnhof, dass in der Gesamtabwägung "weder einzelne öffentliche oder private Belange noch die Summe aller dem Vorhaben entgegenstehenden Belange gegenüber den öffentlichen Interessen an der Realisierung des Projektes überwiegen". Ferner, dass "allen öffentlichen Belangen Rechnung getragen werden konnte, insbesondere ist die Verbesserung des Brand- und Katastrophenschutzes hierbei zu beachten". Und an anderer Stelle ist im Änderungsplanfeststellungsbeschluss, wie das Dokument in schönstem Behördendeutsch heißt, zu lesen: "Die im Verfahren umfassend beteiligte für Brandschutz zuständige Fachabteilung der Landeshauptstadt Stuttgart (Branddirektion) äußert Bedenken, Anregungen und Forderungen, stellt die Machbarkeit und Realisierbarkeit aber nicht in Frage."

Lapidar, aber brisant. Denn geäußerten Bedenken wird nicht stattgegeben und verlangte Verbesserungen schlagen sich nicht nieder. So hat die Stadt in der Hängepartie um Entrauchung und Evakuierung gefordert, "den Personentunnel zwischen der S-Bahn-Station und dem Tiefbahnhof, welcher sowohl für die S-Bahn-Station als auch für den Tiefbahnhof jeweils im Brandfall als ein Fluchtweg dient, für kumulierende Personenströme zu dimensionieren". Nicht nötig, urteilt das EBA nun mit zwei unterschiedlichen Begründungen. "Im Ereignisfall wird der Personentunnel aber immer nur von der jeweils betroffenen Stationsseite in Richtung ungefährdeter Station genutzt", heißt es auf Seite 19 des 32-seitigen EBA-Papiers.

Und weiter: "Ein gleichzeitiges Auftreten von Ereignissen in der S-Bahnstation und im Tiefbahnhof ist aufgrund der äußerst geringen Eintrittswahrscheinlichkeit nicht zu betrachten." Nur vier Seiten später, in der Darstellung eines Einwands des Regierungspräsidiums (RP) Stuttgart zum gemeinsam genutzten Rettungsweg, raffen sich die Genehmiger zu einer anderen Betrachtung auf: Dank zeitgleicher Alarmierung würden flüchtende Personen zeitversetzt im entsprechenden Bereich ankommen.

In Punkt fünf des Schlichterspruchs – Geißler: "Was ich jetzt über die Änderungen vortragen werde, halten beide Seiten für notwendig" – hatte sich die DB zum verbesserten Brandschutz verpflichtet. In der geänderten Planfeststellung wimmelt es jedoch nur so von ungedeckten Schecks. Die Vorhabenträgerin, juristisch die "DB Projekt Stuttgart Ulm GmbH", sage zu, "damit die Funktionsfähigkeit und Wirksamkeit der unterschiedlichen Anlagen und Einrichtungen der Brandschutzanlagen zur Inbetriebnahme gegeben ist, frühzeitig Prüfsachverständige mit einzubeziehen". Wenig genug.

Gefahr erkannt, schnell weggerannt

An anderer Stelle wird der Bahn "ganzheitliches Brandschutzkonzept" gelobt, die Machbarkeit attestiert, Erläuterungen als "nicht zu beanstanden" oder "treffend" hervorgehoben. Selbst kühne Verweise werden durchgewinkt, wie etwa der "auf die Eigenverantwortlichkeit betroffener Personen, sich beim Erkennen einer Gefährdung aus dem Risikobereich zu entfernen".

Besonders aufschlussreich sind die konkreten Zugeständnisse unter der Überschrift "Abweichungen vom Regelwerk". Als schlichte Tatsache, die keiner weiteren Erörterung bedarf, stellt die Behörde hin, dass "aufgrund der Abhängigkeiten zwischen der Gleisanordnung und der Bauwerksgeometrie" (...) "die erforderliche Fluchtweg-Mindestbreite von 1,20 Meter für Tunnel (...) unterschritten werden muss". Sogar, dass "vereinzelt zudem aufgrund der Gleisanordnung (Kreuzungen, Weichenabzweigungen) keine Fluchtwege angeordnet werden können." Einmal greift das EBA dem eigenen Fachreferat vor und behauptet, der Nachweis über "die Machbarkeit und die Realisierbarkeit des Vorhabens" sei bereits erbracht.

Abgelehnt ist dagegen die Forderung des Regierungspräsidiums Stuttgart nach nochmaliger Überprüfung der Feuerwehr-Alarmierung. Begründung: Dem sei bereits "ausreichend Rechnung getragen" worden. Dabei ist das Vorgehen hoch umstritten. Denn wenn nur ein Einzelmelder alarmiert, bleibt die Feuerwehr nach der vorliegenden Genehmigung erst einmal in ihrer Wache. "Ziel dieser Vorgehensweise ist die Vermeidung eines Großeinsatzes der Feuerwehr bei Kleinstbränden, da diese vom Anlagenbetreiber beherrscht werden können", heißt es unverblümt.

Pech für RollstuhlfahrerInnen – keine barrierefreien Fluchtwege

Das blinde Vertrauen in die Vorhabenträgerin gipfelt im Umgang mit den Interessen "von Behinderten, Familien mit Kindern, älteren und kranken Menschen", wie der Schlichterspruch formuliert. In dessen Punkt vier verpflichten sich die Befürworter, "die Durchgänge gemessen an der bisherigen Planfeststellung zu verbreitern" und "die Fluchtwege barrierefrei zu machen". Stattdessen stellt das EBA jetzt fest: "Die seitens mehrerer Behindertenverbände geäußerten Bedenken und Forderungen hinsichtlich der Fluchtwege und Fluchtwegbreiten in den Kopfbauwerken sind daher (...) zurückzuweisen." Und dann wird's zynisch: "Zu berücksichtigen ist, dass eine Selbstrettung von rollstuhlgebundenen Personen ohne Unterstützung von Mitreisenden oder Zugpersonal ohnehin nicht möglich ist." Oder wie der mittlerweile ausgeschiedene Bahn-Technikvorstand Volker Kefer einst so treffend sagte: "Da ist Zivilcourage gefragt."

Fahrlässig, trotz der langen Planungspannengeschichte siebeneinhalb Jahre nach der Schlichtung, ist der Umgang mit Standards. Das Regierungspräsidium wollte erreichen, dass bei der Beurteilung von Notlagen eine realistische, also "tatsächlich im Bereich öffentlicher Verkehrsmittel auftretende Verteilung von Personengruppen" zu Grunde gelegt und "auch bahnspezifische Parameter (Mitführen von Gepäck) berücksichtigt" werden. Dem EBA reicht der Hinweis auf eine "Personenverteilung nach den Angaben des statistischen Bundesamtes". Außerdem werde das Mitführen von Gepäck im Ereignisfall in der Fachwelt in Simulationen "in der Regel nicht berücksichtigt" und im Evakuierungsfall ohnehin "in den vorgesehenen Durchsagen dazu aufgefordert", das Gepäck auf dem Bahnsteig stehen zu lassen. Soche Aussagen sind frei von jeder Praxisnähe: Koffer, Taschen, Rucksäcke, Kinderwagen und Fahrräder werden also im Falle eines Falles auf einmalig schmalen Bahnsteigen liegen – was, wenn Panik ausbricht? Wunderrettungen gibt es nur auf Lummerland.

Die Abwiegelungsstrategien des EBA, einer erst im Zuge der Bahnreform und der privatrechtlichen Organisation der DB geschaffenen Behörde – zuständig für Genehmigung und Aufsicht – in der heiklen Frage des Brandschutzes waren schon Thema in der Schlichtung. Hans Heydemann von den "Ingenieuren22" zeigte sich "entsetzt" über den damals gültigen Planfeststellungsbeschluss, über die allen Simulationen zu Grunde gelegten 16 000 Personen, und wie kritische Anmerkungen der Fachbehörden "eigentlich unerträglich" einfach beiseite gewischt worden sind. Der neue, nur teilweise transparente Evakuierungsplan müsste statt auf Kante doppelt genäht sein.

Denn weiterhin bestehen erhebliche Zweifel am offiziellen Zahlenwerk. Einerseits wird der Tiefbahnhof in den Hochglanzbroschüren der Befürworter bekanntlich als besonders leistungsfähig gepriesen. Andererseits wird mit nicht belastbaren Zahlen und eben jenen 16 000 Fahrgästen jongliert, die im Ereignisfall ins Freie wollen und müssen. "Tatsächlich sind entsprechend den geplanten Betriebsprogrammen mit Doppelbelegungen über 6020 Personen pro Bahnsteig zu entfluchten", das haben die "Ingenieure22" schon vor Jahren vorgerechnet. Was bei vier S-21-Bahnsteigen also rund 24 000 Personen ergeben würde.

Details unter Verschluss aus Angst vor Terroranschlag

Wesentliche Details bleiben weiterhin unter Verschluss. Das Stuttgarter Verwaltungsgericht billigte der Bahn erst kürzlich "schützenswerte Informationen über den konkreten Ablauf und die Dauer von Evakuierungen eines Zuges im Tunnel" zu. Die Urteilsbegründung argumentiert auch damit, dass eine "Kenntnisnahme durch Unbefugte zu einem Missbrauch dieser Informationen für einen terroristischen Angriff auf den Bahnbetrieb führen" könne, so dass dadurch "mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Leib, Leben und Gesundheit Einzelner gefährdet würde". Was für ein Argument für den Kopfbahnhof!

Wie hoch der Preis ist, den EBA, Gerichte und Bundesregierung zu zahlen bereit sind, beweist milliardenschwer der Berliner Pannen-Airport BER. Der sollte, nach vier Jahren Bauzeit, ursprünglich 2010 eröffnet werden. Inzwischen ist 2020 als Fertigstellungsdatum ins Auge gefasst. Bei einer Anhörung im Verkehrsausschuss des neuen Bundestags wurde jüngst nicht nur bekannt, dass die Kosten, die 1995 mit gut zwei Milliarden Mark veranschlagt waren – wie sich die Bilder gleichen –, inzwischen bei über sieben Milliarden Euro liegen. Sondern auch, dass noch immer nicht alle Brandschutzprobleme gelöst sind.

Der Änderungsplanfeststellungsbeschluss zu Stuttgart 21 – gegen den eine Klage übrigens keine (sic!) aufschiebende Wirkung hat – lässt erkennen, wie es dazu kommen konnte: Wenn's eng wird, greifen die Genehmiger zu Formulierungen wie "auf Grund der in der Planfeststellung üblichen Planungstiefe sind solch detaillierte Auswirkungen nicht zu beurteilen". Oder dass bestimmte Fragen "im Sinne der Gesamtplanung nicht erneut aufzuwerfen sind". Oder dass gewisse Themen erst "im Rahmen der Ausführungsplanung" behandelt würden.

Politisch begleitet letztere seit kurzem einer, von dem wenig Gutes zu erwarten ist. Sogar die "Stuttgarter Zeitung" bescheinigte Steffen Bilger (CDU), als er Mitte März zum Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium berufen wurde, "jahrelang auf diesen Posten hingearbeitet zu haben". Der 39-Jährige aus dem Wahlkreis Ludwigsburg ist seit seinem Einzug in den Bundestag ein geübter Aussteller von Persilscheinen für das Milliardenprojekt S 21. Die Volksabstimmung war in seinen Augen ein "Hirngespinst", an den "Spekulationen über Mehrkosten" mochte er sich über Jahre nicht beteiligen. Dafür rühmte er den Schlichterspruch im Dezember 2010 als "ernstzunehmen, anzuerkennen und umzusetzen". Ließe er sich wenigstens an dieser Äußerung messen, müsste er die Ärmel schon hochgekrempelt haben – und vieles korrigieren von dem, was seither geschah.

Das Jahrhundertloch: Stuttgart 21

Immer neue Kostensteigerungen, Risiken durch den Tunnelbau, ungelöste Brandschutzfragen, ein De-facto-Rückbau der Infrastruktur – das sind nur einige Aspekte des Milliardengrabs.

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7 Kommentare verfügbar

  • Wolfgang Zaininger
    am 06.04.2018
    Antworten
    Angesichts der zahlreichen technisch begründeten Einwände (die Dank der Ingenieure22 in die Diskussion gebracht wurden) und den verlochten Milliarden: wohin sind denn all die Befürworterinnen aus der Stuttgarter SPD, die so schnell von Paris nach Bratislava reisen wollten? Abgetaucht, unfähig und…
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