KONTEXT:Wochenzeitung
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Polizei im Kopf

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Von wegen Verfassungsfeind: Vier Jahrzehnte lang stand der Menschenrechtsaktivist Rolf Gössner unter staatlicher Überwachung – ohne Anhaltspunkte. Sein Rechtsanwalt Udo Kauß ist überzeugt: Verfassungsschutz und V-Leute gehören abgeschafft.

Begonnen hat es 1970 mit einer Karteikarte über einen jungen Jurastudenten in Freiburg. Damals war Rolf Gössner 22 Jahre alt und engagierte sich für den Sozialdemokratischen Hochschulbund in der Uni-Politik. Seitdem stand der Rechtsanwalt und Journalist unter Beobachtung des Verfassungsschutzes, ohne Unterbrechung, bis zu seinem 60. Lebensjahr. Es handelt sich um die längste geheimdienstliche Überwachung einer parteilosen Einzelperson, die bislang in der Geschichte der Bundesrepublik bekannt geworden ist.

Vertreten durch den Freiburger Rechtsanwalt Udo Kauß, Vorsitzender der Bürgerrechtsvereinigung "Humanistische Union" in Baden-Württemberg, klagt Gössner seit 2006 gegen die Bespitzelung durch den Staat. Nach einer vierstündigen mündlichen Verhandlung erklärte das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen (OVG NRW) am 13. März 2018 Gössners Überwachung durch den Verfassungsschutz in zweiter Instanz für durchgängig rechtswidrig und bestätigte damit ein Urteil des Kölner Verwaltungsgerichts aus dem Jahr 2013, gegen das Bundesregierung und Verfassungsschutz Berufung eingelegt hatten. 

Herr Kauß, seit zwölf Jahren sind Sie und Ihr Mandant Rolf Gössner im Rechtsstreit mit der Bundesregierung und dem Verfassungsschutz. Vergangene Woche hat das OVG NRW Sie in Ihrer Rechtsauffassung bestätigt. Ist der Fall damit abgeschlossen?

Udo Kauß

Foto: Sven Lüders/Humanistische Union

Udo Kauß ist Vorsitzender des Landesverbands Baden-Württemberg der Humanistische Union. Der Jurist und promovierte Philosoph arbeitet als Rechtsanwalt in Freiburg. Zudem ist er regelmäßiger Autor des jährlich erscheinenden Grundrechte-Reports, der sich schwerpunktmäßig mit staatlicher Überwachung und der Beschneidung von Bürgerrechten auseinandersetzt. (min)

Das ist noch unklar. Das OVG hat während der Verhandlung betont, dass, egal, wie es urteile, es womöglich nur eine Durchgangsstation bleibe. Weil sowohl wir als auch der Verfassungsschutz und die Bundesregierung sehr hartnäckig in dieser Angelegenheit sind. Das OVG hat nun, auch wegen der großen Bedeutung des Falls, die Revision zugelassen. Vielleicht geht es jetzt also zum Bundesverwaltungsgericht. Und selbst dann besteht noch die Möglichkeit, dass anschließend vor dem Bundesverfassungsgericht verhandelt wird. Wenn es im bisherigen Tempo so weit kommt, werden mein Mandant und ich dann wohl 80 Jahre alt sein.

Das OVG NRW sah bei Herrn Gössner "keinerlei tatsächliche Anhaltspunkte" für eine verfassungsfeindliche Gesinnung, ihn zu überwachen sei von Anfang an unverhältnismäßig und rechtswidrig gewesen. Das klingt ziemlich eindeutig. Hat eine Revision aus Sicht von Regierung und Verfassungsschutz vor diesem Hintergrund überhaupt Aussicht auf Erfolg?

Möglich ist alles. Aber tatsächlich besteht für Bundesregierung und Verfassungsschutz die große Gefahr, sich in dieser Angelegenheit noch mehr zu blamieren, wenn ihr Verhalten von höheren Instanzen erneut als rechtswidrig verurteilt wird. Vielleicht wage ich mich damit zu weit vor: Aber ich habe die Hoffnung, dass ein Bundesinnenminister, der weit davon entfernt ist, als Linkenversteher zu gelten, hier die Souveränität hat, diesem kafkaesken Spuk ein Ende zu bereiten.

Horst Seehofer gilt als Hardliner, und in Bayern haben Sicherheitsbehörden mitunter die bundesweit weitreichendsten Befugnisse. Ist ausgerechnet von ihm zu erwarten, hier Ruhe zu geben?

Das bleibt abzuwarten. Wie gesagt: Erstens sind die Erfolgsaussichten für Verfassungsschutz und Bundesregierung sehr gering. Und zweitens habe ich den Eindruck, dass die Sicherheitsrhetorik bei den Konservativen meist wesentlich ausgeprägter ist als bei ihren Kolleginnen und Kollegen. Und dass die vollmundigen Ankündigungen nicht unbedingt dem entsprechen, was dann tatsächlich Sache ist.

Unabhängig vom Fortgang bezeichnen Sie das Urteil des OVG als einen Meilenstein. Was erhoffen Sie sich davon? Eine Gesetzesänderung?

Das große Problem beim geltenden Recht und denkbaren Gesetzesänderungen ist, dass deren Einhaltung kaum zu kontrollieren ist. Es liegt ja im Wesen eines Geheimdienstes, dass dieser nicht-öffentlich arbeitet, sonst wäre er ja nicht geheim. Dadurch entziehen sich diese Instanzen aber einer rechtsstaatlichen Kontrolle. Vieles bleibt im Verborgenen und über ihr konkretes Vorgehen lassen sich oft nur Erkenntnisse gewinnen, wenn ein Skandal auffliegt. Herr Gössner hat Mitte der 90er Jahre von seiner Beobachtung durch den Verfassungsschutz aufgrund einer Auskunftsanfrage beim Bundesamt erfahren. Er wollte Auskunft über die zu seiner Person gespeicherten Daten erhalten und bekam daraufhin ein langes, aber unvollständiges VS-Dossier über seine "Sünden" zugesandt. Der eigentliche Skandal war dann das, was über Herrn Gössner vom Verfassungsschutz über vier Jahrzehnte gesammelt worden war. Weil er zum Beispiel die Worte "Demilitarisierung" oder "ökonomische Restauration", benutzt habe, wurde ihm vom Verfassungsschutz die nachdrückliche Unterstützung von DKP und anderer kommunistischer Organisationen angelastet, weil auch diese solche Begrifflichkeiten benutzen würden. So etwas gibt's auch heute noch. Ich erinnere an den Sozialwissenschafter Andrej Holm, <link http: www.deutschlandfunk.de external-link-new-window>der unter Terrorismus-Verdacht geraten ist, weil er das Wort "Gentrifizierung" verwendete.

Und wie genau wird aus dieser Wortwahl nun der Verdacht auf eine verfassungsfeindliche Gesinnung?

Dass Gössner nie Mitglied in einer dieser Gruppen war, mache ihn nur umso verdächtiger, hieß es in der Argumentation des Verfassungsschutzes. Die Unterstellung: Er sei absichtlich kein Mitglied geworden, um nach außen hin den Anschein von Neutralität wahren zu können. Einen konkreten Beleg für eine verfassungsfeindliche Gesinnung hat der Verfassungsschutz nicht vorgelegt, trotz vier Jahrzehnten Überwachung und 2000 Aktenseiten über Herrn Gössner. Seine bürgerrechtliche Haltung, seine Kritik an Polizei und Geheimdiensten als Rechtsanwalt und Journalist wurden ihm als "Diffamierung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung" bis hin zur "Rechtfertigung des Linksextremismus" ausgelegt.

Im Ernst?

Im Prozess gipfelten die Angriffe darin, Gössner würde unsere Gesellschaft als "letztlich national-sozialistisch geprägt" ansehen. Gössner wolle deshalb die Struktur unserer Gesellschaft durch eine "sozialistisch-kommunistische Gesellschaftsordnung" ersetzen. Da erschrecken wir ja schon, wenn wir so was hören, damit werden diffuse Feindbilder aus dem Kalten Krieg wieder heraufbeschworen. Aber wenn solche biederen Kriterien für eine Überwachung genügen – wilde Spekulationen über Gruppenzugehörigkeiten –, dann können die Dienste noch so hinterwäldlerisch arbeiten und willkürlich alles und jeden überwachen. Ich erhoffe mir durch das Verfahren um den Fall Gössner, dass die Voraussetzungen zumindest eindeutiger gestaltet werden, ab wann eine Person überwacht werden darf.

Mit Herrn Gössner hat es einen Menschenrechtsaktivisten erwischt, der als Herausgeber des Grundrechte-Reports für sein demokratisches Engagement von einer ehemaligen Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts mit der renommierten Theodor-Heuss-Medaille ausgezeichnet worden ist. Wenn selbst so jemand ins Visier der Schlapphüte gerät: Lässt sich etwas zum Ausmaß der Überwachung sagen?

Über die finanzielle Ausstattung der verschiedenen deutschen Geheimdienste lässt sich auf jeden Fall sagen, dass Unsummen an Steuergeldern in diese Arbeit fließen. Allein der Verfassungsschutz kostet uns mit seinen 6000 festen Mitarbeitern jährlich mehr als eine halbe Milliarde Euro. Und dazu kommen noch Bundesnachrichtendienst (BND) und der Militärische Abschirmdienst (MAD). Das geht an die zwei Milliarden jährlich. Was wir nicht wissen, ist, wie viel Geld etwa für die Bezahlung von Spitzeln aufgewendet wird und wie die Budgets sich genau aufteilen. Geheimsache! Das haben wir versucht rauszukriegen, aber da machen die dicht. Das wäre vielleicht eine Aufgabe für Abgeordnete, hier nachzuhaken durch Anfragen in den Parlamenten. Denn was in den Untersuchungsausschüssen mitgeteilt wird, hat ja geheim zu bleiben. Die Dienste haben eine große Angst, hier genauere Auskünfte zu geben, weil sie dann unter einen erhöhten Rechtfertigungsdruck geraten. Das ist das Schlimmste, was die sich vorstellen können: öffentlich zu begründen, wen sie warum und in welchem Umfang beobachten.

So bleibt das vorerst unbekannt. Herr Gössner spricht als Überwachungsopfer von einer Schere im Kopf, von der man nie genau wisse, wo sie klammheimlich ihr zerstörerisches Unwesen verrichte.

Denunziatorisches Feindbild

In einer persönlichen Erklärung, die Rolf Gössner in der Verhandlung vor dem OVG NRW verlas, bezeichnete er die Einlassungen des Bundesamts für Verfassungsschutz vor Gericht als "illiberale Zeugnisse einer Geheiminstitution, die sich unter der Etikette 'Verfassungsschutz' zu einer ideologischen und inquisitorischen Gesinnungsüerprüfungsbehörde aufgeschwungen hat". Seine Darstellung durch den Geheimdienst sei ein "denunziatorisches Feind- und Zerrbild, in dem ich mich nicht wiedererkenne und vor dem ich, auf den ersten Blick zumindest, selbst erschrecken würde". Die vollständige Erklärung können Sie hier nachlesen. (min)

Die Selbstzensur ist das eigentliche Problem, weniger die tatsächliche Überwachung durch die Dienste: Entscheidend ist die Angst, die in den Köpfen entsteht. Wenn sich ganz subtil die Sorge einschleicht, vom Staat überwacht zu werden und man sich nicht mehr traut oder abwägt, was sage ich, was sage ich besser nicht, sich anpasst und im eigenen Kopf eine Art Meinungspolizei entsteht. Durch die Kraft der Projektion sind die Geheimdienste um ein Vielfaches mächtiger als sie es tatsächlich sind und tatsächlich sein könnten.

Steht dahinter die politische Absicht, eine Behörde zu instrumentalisieren, um abweichlerisches Verhalten klein zu halten und die eigene Vormacht abzusichern?

Das würde ich nicht in dieser voluntaristischen Sichtweise betrachten, sondern als zwangsläufigen Nebeneffekt eines jeden Geheimdienstes als Regierungs- und Herrschaftsinstrument. Wie dieses konkret zur Anwendung kommt, ist dann je nach System und Regierungsform unterschiedlich, ob in den USA oder Russland, der Türkei oder Deutschland. Und trotz Skandalen und besorgniserregender Entwicklungen bei ausufernden Überwachungsbefugnissen finde ich, haben wir hier noch eine vergleichsweise gute Kultur – aber die müssen wir jeden Tag aufs Neue erkämpfen.

Heißt das, die in Kommentarspalten vielfach bemühten Vergleiche zwischen Verfassungsschutz und Stasi sind völlig übertrieben?

Der Vergleich hat etwas Klebriges. Weil die Gesellschaftsordnungen verschieden waren und weil die Stasi in ihrer Arroganz meilenweit über dem gewesen ist, was wir aktuell in der Bundesrepublik bei den Diensten sehen. Hier sind die Rahmenbedingungen anders, also läuft auch die Überwachung anders. Aber das ist überhaupt kein Trost. Die Geheimdienste haben zwangsläufig eine Eigengesetzlichkeit, die ist über alle Systeme hinweg gleich ist. Wenn Sie ein Gewehr abfeuern, ist egal, ob sie das mit der rechten oder der linken Hand tun. Am Ende gibt es einen Schuss, Krach und Gestank.

Lässt sich das irgendwie in den Griff kriegen?

Das eigentliche Übel liegt im Spitzelwesen, wie nicht nur bei der Aufklärung des NSU-Skandals deutlich geworden ist. Denn wo es keine bezahlte Spitzeltätigkeit gibt, da ist auch jede Notwendigkeit eines in Geheimdienstbehörden organisierten staatlichen Verfassungsschutzes entfallen. Da reicht es, wenn die Polizei bei Verdacht auf Straftaten tätig wird, und nicht befürchten muss, dass Verfassungsschutzbehörden sie aus Angst, Quellen zu verlieren, nicht oder nicht vollständig informieren. Wie bei Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt, die vorm Anrücken der Polizei gewarnt wurden und untertauchen konnten. Die betriebene Zusammenlegung von Verfassungsschutzbehörden macht dieses Unheil nur noch schlimmer. Der eigentliche Skandal der Geheimdienste ist, dass sich ihre Arbeit einer öffentlichen Kontrolle entzieht. Somit sind sie von vornherein missbrauchsanfällig und schon deshalb Demokratie-inkompatibel.

Also Thüringen folgen und V-Leute ganz abschaffen?

Das wäre sinnvoll, ja. Nur steht Thüringen mit diesem Schritt, zumindest jetzt noch, völlig alleine da.


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2 Kommentare verfügbar

  • Fritz Meyer
    am 21.03.2018
    Antworten
    Gerade der Süd(west)en der Bundesrepublik war in den letzten Jahrzehnten (prinzipiell ständig seit 1949) immer besonders notorisch für die anhaltende Dauerbespitzelung und -speicherung politisch "Unbequemer".

    So war das "Überspielen" von Datensätzen an andere Dienststellen, wenn eine…
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