KONTEXT:Wochenzeitung
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Lügen haben lange Beine

Lügen haben lange Beine
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Vor zwei Jahren ist die AfD in den Landtag von Baden-Württemberg eingezogen. In Umfragen bleiben die RechtspopulistInnen stabil zweistellig. Ihre Zwischenbilanz ist übel. Die größte Oppositionsfraktion hat kaum mehr zu bieten als Hass, Häme und der Beschäftigung mit sich selbst.

Mit dem Mähdrescher fahren AfD-Abgeordnete über Differenzierungen, wenn es darum geht, sich selber in die Opferrolle oder die "Altparteien" in möglichst schlechtes Licht zu rücken. Jüngst, in einer Debatte über Antisemitismus in Baden-Württemberg, behauptet Fraktionschef Bernd Gögel ungeniert, alle einschlägigen Straftaten, die nicht zugeordnet werden könnten, würden "automatisch" zu einer Aktion von rechts. Tatsächlich haben sich die Innenminister von Bund und Ländern bei antisemitischen Straftaten auf eine entsprechende Kategorisierung verständigt, wenn "keine gegenteiligen Tatsachen zur Tätermotivation" ermittelt wurden. Nur nie feinzeichnen, nicht argumentieren oder gar umdenken. Im Gegenteil: Wer sich auf ein längeres Gespräch einlässt, muss feststellen, dass die Haltbarkeit neuerworbenen Wissens bei AfDlern gerne unter der Nachweisgrenze liegt. Wie kürzlich Gisela Erler, die Staatsrätin für Bürgerbeteiligung und Zivilgesellschaft, die mit dem Kehler Abgeordneten Stefan Räpple in der Schweiz unterwegs war (<link https: www.kontextwochenzeitung.de politik kein-paradies-fuer-populisten-4938.html external-link-new-window>Kontext berichtete).

Wie Lauffeuer

ForscherInnen am berühmten Bostoner "Massachusetts Institute of Technology" (MIT) haben 126 000 Themen und 4,5 Millionen Tweets von drei Millionen Internet-NutzerInnen weltweit analysiert. Die Absicht: FalschmelderInnen und -meldungen auf die Spur kommen. Das vor kurzem publizierte Ergebnis muss erschrecken, denn Lügen verbreiten sich schneller und weiter, sie werden mit einer um 70 Prozent höheren Wahrscheinlichkeit retweeted, die Wahrheit braucht sechs mal mehr Zeit, um 1500 Menschen zu erreichen. Und es sind nicht hauptsächlich Bots, die für die Verbreitung von Falschmeldungen sorgen, denn solche wurden in der MIT-Studie identifiziert und herausgerechnet. Es sind vor allem Menschen auf der Suche nach Renommee. "Wer neue Informationen weitergibt", so Sinan Aral, einer der Autoren, "gewinnt an sozialem Status und wird als Insider angesehen." (jhw)

Dafür ist kein Mangel an leicht widerlegbaren Behauptungen, an Fiktionen, Unterstellungen, haarsträubenden Hypothesen und dreisten Angriffen. Kaum ein Tagesordnungspunkt in den bisher 57 Plenarsitzungen der 16. Legislaturperiode wird ohne Krawall abgehandelt, massive Anwürfe beherrschen die Tonlage. Räpple, gewählt in seinem Wahlkreis mit 15 Prozent der Stimmen, darf nach einer Entscheidung des Offenburger Landgerichts bei den "üblen Rassisten" eingereiht werden, die "derbe Nazi-Propaganda betreiben". Wolfgang Gedeon, der unbelehrbare Singener (15,7 Prozent), muss sich, so das Landgericht Berlin im Januar, einen Holocaust-Leugner nennen lassen, weil dies durch die Meinungsfreiheit gedeckt sei.

Ein weiterer Problemfall heißt Christina Baum. Die Zahnärztin aus Lauda-Königshofen wurde von ihrem Rechtsaußen-Parteifreund Björn Höcke allen Ernstes zur "Jeanne d'Arc der AfD" gekürt und gepriesen als "idealistisch, patriotisch, mutig (...), Vorbild und Freundin zugleich". Frau Doktor Baum fühlt sich der rund 30 000 Mitglieder zählenden Facebook-Gruppe "Die Patrioten" verbunden. In dem geschlossenen Zirkel wurde ein Bild von Anne Frank mit der widerlichen Unterschrift "Die Ofenfrische" gepostet.

"Das ist das wirklich ekelhafteste und abscheulichste Machwerk antisemitischer Propaganda, das Deutschland seit den Tagen eines Julius Streicher erlebt hat", empörte sich FDP-Fraktionschef Hans Ulrich Rülke im Landtag. Baum sieht sich daraufhin in "Sippenhaft", weil Rülke "29 999 Mitglieder" mitverantwortlich mache für diese eine Äußerung. Im Netz ließen Sympathisanten die Post abgehen. "Liebe Christina, lass Dich von den Polit-Gutmenschen nicht reglementieren!", mahnt ein anderer vermeintlicher "Patriot", der prognostiziert, dass diese radikale Truppe "aufgrund der aktuellen BRD Situation einer der schnellstwachsenden Gruppen werden". Und im richtigen Leben findet sich niemand, in Fraktion oder der baden-württembergischen Parteispitze, der sich distanziert oder auch nur mäßigend auf Baum einwirkt.

Breiter Gedeon-Flügel in der Fraktion

Viel zu viele sind aus ähnlichem Holz geschnitzt. Zum Beispiel Bernd Grimmer, der im Wahlkreis Pforzheim mit mehr als 24 Prozent direkt gewählte promovierte Volkswirt. Seine Unterstützung bekam ein Gedeon-Antrag zum vergangenen Bundesparteitag, in dem die AfD Wert auf die Feststellung legt, "dass nicht israelische Politiker und Medien festlegen können, ob unsere Kritik an Israel legitim ist und geäußert werden darf oder nicht". Gemeinsam mit anderen vom sogenannten Gedeon-Flügel, darunter Baum, Emil Sänze (Wahlkreis Rottweil, 16,4 Prozent), Rainer Podeswa (Heilbronn, 18,2) und Fraktionschef Bernd Gögel (Enz, 19,2) will Grimmer von der Landesregierung per parlamentarischer Anfrage wissen, von wie vielen heutigen Mitgliedern der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes/Bund der Antifaschisten die Landesregierung Kenntnis habe, "die tatsächlich Repressalien des NS-Regimes ausgesetzt waren".

Spediteur Gögel wandte sich jüngst bei einer Antisemitismus-Debatte sogar, ohne ihren Namen zu nennen, an Landtagspräsidentin Muhterem Aras, die in der AfD als Deutschtürkin von Anfang an unter besonderer Beobachtung steht. Der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" hatte sie – nicht zum ersten Mal – erzählt, als Einwandererkind aus Ostanatolien habe sie nicht gewusst, dass Frauen in Deutschland Autofahren dürfen. "Wir haben es in einem von der deutschen Mehrheitsgesellschaft geprägten Land beileibe nicht nötig", so Fraktionschef Gögel, "bis zum Überdruss von Menschen Forderungen an uns zu stellen und Werte täglich oberlehrerhaft erklären zu lassen, die aus den rückständigsten Gebieten von Willkürstaaten in die Sicherheit unserer Rechtsordnung kamen und nicht einmal wussten, dass auch Frauen Auto fahren können." Krude Botschaften wie diese sind vor allem an die eigene (Netz-)Gemeinde gerichtet und verbreiten sich gern in Windeseile. Wer sich hingegen an die Seite der Verunglimpften stellt, muss sich auf ein enthemmtes Echo einstellen.

Pars pro toto steht seit einigen Wochen aber vor allem Baum. Die 61-jährige Mutter und Großmutter, neuerdings um bundesweite Strahlkraft bemüht, bedient niedrigste Instinkte rund um die Ermordung einer 15-Jährigen durch ihren Ex-Freund, beide Geflüchtete, im pfälzischen Kandel. Eine Demo in Kandel am 3. März hat sie mitbeantragt, eine zweite wird am 24. März folgen. Auf eine "Riesenparty" freut sich Baum in einer mit dem "Lied der Deutschen" unterlegten Videobotschaft. Ein über diese Wortwahl erboster Kommentator sieht "die Masken fallen", kritisiert vorgetäuschte Trauer und Sorge um Frauen – da werde von Rechtsextreme auf dem Grab eines Menschen getanzt. Die Reaktion folgt auf dem Fuße ("Was ein Hetzkommentar!") und bekommt üppig Applaus. "Sie können das sehen, wie Sie wollen", flüchtet sich eine Kommentatorin in untaugliches Relativieren, und eine andere stellt ungeniert ein Unbedenklichkeitszeugnis aus: "Ich halte Frau Dr. Baum für eine sehr bemerkenswerte, anständige Frau."

Das ist sie nachweislich nicht. Schon am zweiten Plenartag vor fast zwei Jahren verweigerte ihr der frühere Landtagsvizepräsident Wolfgang Drexler (SPD) den Handschlag wegen ihrer Äußerung, Zuwanderung bewirke einen "schleichenden Genozid der deutschen Bevölkerung". Für Baum ist ferner die Bundesrepublik eine "Meinungsdiktatur" und sie selbst ganz erfüllt von der Vorstellung, Kinder würden in heimischen Kindergärten "frühsexualisiert" und zu homosexuellen Handlungen oder Masturbation animiert.

Inzwischen sitzen beide im zweiten NSU-Untersuchungsausschuss, Drexler als Vorsitzender, Baum als Obfrau ihrer Fraktion. Unfreiwillig gewährt sie Einblicke in erstaunliche Wissenslücken. Selbst nach Einvernahme Dutzender ZeugInnen gibt sie zu erkennen, wie immun sie gegen neue Erkenntnisse ist. Dass beispielsweise radikale Ideologien bei Veranstaltungen durch Musik mit einschlägigen Texten verbreitet werden, verwundert sie. Von einer LKA-Beamtin will die Ahnungslose wissen, ob es beim VfB Stuttgart eine rechte Gruppierung namens "Furchtlos und treu" gebe – dabei ist dies der offizielle Leitspruch des Clubs. Längst könnte sie im Ausschuss einiges gelernt haben über Strukturen, über alte und neue Nazis, über die inhaltliche Nähe zur eigenen Partei.

Aber wie alle AfD-Abgeordnete ist Baum resistent gegen jede Form der Horizonterweiterung, die mit einer Annäherung an die Realität verbunden wäre. Das Sein als VolksvertreterInnen bestimmt ihr Bewusstsein definitiv nicht. Aus einem Sumpf von Unvermögen und diskreditierenden Unterstellungen steigen groteske Missdeutungen auf. So berichtet die gebürtige Thüringerin fast 18 Minuten im Netz über einen "Marsch der Frauen" in Berlin, vom Halleschen Tor sollte es zum Kanzleramt gehen. Der Zug wird durch Gegendemonstranten, "Antideutsche" oder "Antifanten" (Baum) aufgehalten, aufgelöst und am Ende fortgesetzt, einschließlich diverser Reden vor dem Kanzleramt. Trotzdem besteht Baum darauf – und will diese Version so verbreitet sehen –, dass Polizei und Rechtsstaat kapituliert hätten und es eine Anweisung gegeben habe, "uns niemals bis vor das Kanzleramt zu lassen". Die Lüge verbreitet sich im üblichen Tempo. "Polizei und Grüne verhinderten durch Taktik den Marsch für Frauenrecht zum Kanzleramt", teilen diverse AfD-Gruppierungen auf ihren Seiten mit.

Sie kennen die einfachsten Regeln nicht

Viele der inzwischen nur noch 20 Abgeordneten im Stuttgarter Landtag sind nicht einmal vertraut mit einfachsten parlamentarischen Regeln. Und wollen es erkennbar auch nicht werden. Genauso wenig wie mit den Arbeitsweisen der "Lügenpresse". Regelmäßig quittieren Kaskaden von Zwischenrufen unerwünschte Äußerungen anderer Parlamentarier. Anton Baron (Hohenlohe, 17,1) brüllt gern "Betrug!" in den Saal oder "Sie lügen!", Rüdiger Klos (Mannheim I, 23) sieht "Fake News" ausschließlich bei den anderen. 

Exemplarisch für die in der AfD so weitverbreitenten Geistesverengungen steht auch Stefan Räpple. Denn der 36-Jährige mit der Berufsangabe "psychologischer Berater", wähnt die Republik auf dem "direkten Weg in die Diktatur" – wegen "Zensur und Meinungsunterdrückung". Jede Wortmeldung "von Bürgern oder Politikern, die nicht dem Altparteien-Kartell angehören bzw. systemkonform ist, wird ignoriert oder in perfidester Art und Weise diskreditiert, ganze Bevölkerungsgruppen grenzt man aus oder beschimpft sie auf das Übelste". 

Am 23. September 2017 wurde die AfD mit 12,2 Prozent von insgesamt 730 499 Baden-WürttembergerInnen als stärkste Oppositionspartei in den Bundestag gewählt. Trotz oder – was wäre schlimmer? – wegen der Spuren, die sie bisher im Landesparlament hinterlassen hat.


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17 Kommentare verfügbar

  • Charlotte Rath
    am 20.03.2018
    Antworten
    Die AfD profitiert von ihrem "Schmuddel-"Image: Hier laden frustrierte Wähler ihre Denkzettel an die etablierten Parteien ab. AfD-Schelte ist m. E. daher Unfug. Solange es keine ernst zu nehmenden inhaltlichen Alternativen gibt, insbesondere in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, kann sich die AfD…
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