KONTEXT:Wochenzeitung
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Ideen in der Hinterhand

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Keine Alternative zum Weiterbauen? Ein Umstiegskonzept haben die Gegner von Stuttgart 21 bereits im vergangenen Jahr vorgestellt. Seitdem ist es noch interessanter geworden, denn es bietet auch Ideen für einen Anschluss der Neubaustrecke, für IBA-Flächen oder eine Interimsoper.

So richtig Lust scheint keiner der früheren S-21-Verfechter mehr auf das Projekt zu haben. Ein Weiterbau wird aber nach wie vor als alternativlos verkauft. Die Deutsche Bahn spricht mittlerweile von Ausstiegskosten von sieben Milliarden Euro, was die Kosten für den Weiterbau, so wird behauptet, noch übersteige. Und Tübingens OB Boris Palmer, einst als einer der wortmächtigsten S-21-Kritiker bekannt, sagte kürzlich dem "Badischen Tagblatt", der Ausstieg sei "nicht mehr möglich". Denn der wäre "eine unglaubliche Vernichtung von Arbeitsleistung und Volksvermögen", und darüber hinaus hätte man dann "das größte Bergbaumuseum der Welt mitten in Stuttgart".

Genau an dieser Stelle setzt das Konzept "Umstieg 21" des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21 an. Dort steht die Überlegung im Zentrum, wie die bereits erfolgten Bauarbeiten in einen modernisierten Kopfbahnhof integriert werden könnten. Das böte ein riesiges Einsparpotenzial – nach Schätzungen des Aktionsbündnisses rund 3,2 Milliarden Euro – und die Abwendung eines nicht erweiterbaren und leistungsschwächeren Tunnelbahnhofs. Darüber hinaus würde es auch einige Nutzungen ermöglichen, für die es in Stadt und Region aktuell Bedarf, aber kein Geld oder keinen Platz gibt.

Die Autoren des Konzepts wollen zeigen, "dass ein Projektabbruch kein Zurücksetzen auf Null sein muss, sondern als Umstieg in eine neue, bessere Entwicklung organisiert werden kann." Das heißt zum Beispiel: In den Bereich unterhalb der nach hinten versetzten Gleise, der bereits zur vollen Tiefe ausgehoben ist, könnte man auf zwei Ebenen zum einen ein Parkdeck für Autos und Fahrräder einrichten, zum anderen den Zentralen Omnibusbahnhof wieder in die Innenstadt holen, der mit Baubeginn von S 21 in die Stadtperipherie verbannt wurde. Über diesen beiden Ebenen könnte dann das Gleisfeld wieder zurückverlegt werden und ein halb transparentes Solardach bekommen. Damit ließen sich, so die Umstieg-Broschüre, "jährlich bis zu 10 Gigawattstunden elektrische Energie gewinnen ". Die abgerissenen Seitenflügel des Bonatzbaus wiederum könnten in modernisierter Form, aber mit deutlichen Reminiszenzen an ehemalige Proportionen wieder aufgebaut werden.

Dass ein Ausstieg aus dem Projekt keinen stadt- und verkehrsplanerischen Stillstand bedeuten muss, wird auch an vielen anderen Stellen des Konzepts deutlich. Seit dessen Veröffentlichung im Juli letzten Jahres haben sich mehrere Entwicklungen ergeben, die das Umstiegsszenario eher noch interessanter erscheinen lassen – zusammengetragen in einer <link https: www.umstieg-21.de aktuelles update-umstieg21.html _blank external-link-new-window>"Update"-Liste auf der Umstieg-21-Homepage.

Bei einem Umstieg gäbe es schnell Platz für eine IBA

So könnten auf dem so genannten C-Areal am Nordbahnhof, das momentan komplett mit Baulogistik bedeckt ist, umgehend dringend benötigte Wohnungen geplant werden. Zusätzlich attraktiv wäre dies vor dem Hintergrund der für 2027 geplanten Internationalen Bauausstellung (IBA), zu der auch ein neues Rosensteinviertel gehören sollte. Das könnte die Stadt inzwischen aber, durch die amtlich gewordene Bauzeitverlängerung von Stuttgart 21 bis mindestens Ende 2024, ziemlich sicher ad acta legen, worüber OB Fritz Kuhn schon öffentliche Zerknirschung zum Besten gab. Bei einem Umstieg stünde das C-Areal dagegen für einen Teil der IBA zur Verfügung.

Bedenkenswerte Möglichkeiten böte ein Umstieg auch im Baufeld Mittlerer Schlossgarten: Nicht genug, dass man sich hier die temporäre Kappung der Stadtbahnverbindung mit all ihren Einschränkungen für Pendler und den Bau des Nesenbachdükers sparen könnte. Darüber hinaus ließe sich in der Schlossgarten-Baugrube "auch mühelos die benötigte Interims-Oper errichten, die nach Sanierung der Alten Oper wieder verschwinden und dem wieder herzustellenden Schlossgarten weichen würde", sagt Klaus Gebhard. Der Parkschützer und Diplomingenieur hat viele der Alternativ-Ideen des Umstiegskonzepts entwickelt. <link https: www.kontextwochenzeitung.de politik runter-vom-ross-4733.html internal-link-new-window>Mag das alte Paketpostamt als möglicher Interimsspielort auch seinen Charme haben, die Schlossgarten-Variante läge in unmittelbarer Nähe der Kulturmeile.

Anbindung der Neubaustrecke? Geht auch ohne S 21

Besonders lohnenswert wird der Blick aufs Umstiegskonzept bei der Neubaustrecke (NBS) Wendlingen-Ulm, die mehrere Jahre früher als Stuttgart 21 fertig wird. Um eine jahrelange, teure Instandhaltung ungenutzter Tunnel zu vermeiden, plädieren mittlerweile auch die Bürgermeister von Ulm und Merklingen darauf, die NBS sofort nach Fertigstellung zu nutzen, sprich: über die bestehende Neckartalstrecke in den Kopfbahnhof zu fahren.

Das wäre schon nach den aktuellen Planungen möglich. Denn eine eingleisige Verbindungsspange zwischen Neubaustrecke und Neckartalstrecke ist ohnehin Bestandteil des NBS-Projekts. Die Eingleisigkeit sorgt aber für einige Nachteile durch konkurrierende Züge, sie schwächt die Leistung der Strecke und könnte den Fahrplan durcheinander bringen. Im Umstiegs-Konzept wird daher eine leistungsfähige, kreuzungsfreie Anbindung bei Wendlingen mit einem zweiten Gleis gefordert. Einen möglichen Verlauf hat Gebhard schon skizziert, auch wenn er mit dem Widerstand der S-21-Planer rechnet, "denn so würde sich ja zeigen, dass man genauso schnell nach Stuttgart kommt wie mit S 21."

Die Zahlen freilich sprechen für sich: Zwischen Ulm und Wendlingen beträgt die Fahrzeit auf der NBS 20 Minuten, rund 25 weniger als bisher. Zwischen Wendlingen und dem Stuttgarter Hauptbahnhof brauchen auf der Bestandsstrecke durchs Neckartal die schnellsten Züge 16 Minuten. Wie lange es bei S 21 von Wendlingen über die Fildern zum Hauptbahnhof brauche, sei laut den Autoren des Umstiegs-Konzepts zwar nicht so leicht zu ermitteln gewesen. Doch Befragungen von Lokführern hätten ergeben, dass es ebenfalls 16 beziehungsweise 12 Minuten (mit und ohne Flughafenhalt) sein werden. Also maximal vier Minuten Fahrzeitersparnis durch den milliardenschweren Tunnelbahnhof.

Selbst das Institut des S-21-Erfinders kommt teils zum gleichen Ergebnis

Zum Umstiegs-Konzept gehört auch ein S-Bahn-Ringschluss von den Fildern ins Neckartal. Denn momentan klafft zwischen Bernhausen auf den Fildern und Wendlingen im Neckartal eine Lücke im S-Bahnnetz, der öffentliche Verkehr dazwischen beschränkt sich auf Buslinien und ist völlig unzureichend. Wie dringend hier eine Verbesserung nötig wäre, zeigen die Massenstaus auf den Autobahnen A8 und A81.

Unzufrieden darüber, hatte im Frühjahr 2017 eine Gruppe von Bürgermeistern aus der Filder- und Neckartal-Region das Verkehrswissenschaftliche Institut (VWI) der Uni Stuttgart mit einer Prüfung der Machbarkeit eines S-Bahn-Ringschlusses beauftragt. Das VWI, dem einst S-21-Erfinder Gerhard Heimerl vorstand, und das aktuell vom gleichfalls leidenschaftlichen Projektbefürworter Ullrich Martin geleitet wird, kam kurioserweise zu einer nahezu identischen Streckenführung wie Gebhard. Doch Stuttgart 21 behindert den vernünftigen Ringschluss gleich doppelt: Zum einen, weil der Tunnelbahnhof viele Mittel bindet, die für die Finanzierung nötig wären. Zum anderen, weil bei den bisherigen S-21-Planungen des Filderabschnitts der Mischverkehr von Fern- und S-Bahnen <link https: www.kontextwochenzeitung.de gesellschaft tabula-rasa-auf-den-fildern-4718.html internal-link-new-window>schon den jetzigen S-Bahnverkehr an den Rand des Kollapses bringen würde.

Ernsthafte Reaktionen sind noch Mangelware

Eine tiefer gehende Beschäftigung der S-21-Projektpartner (Bahn, Bund, Land, Region, Stadt und Flughafen Stuttgart) mit dem Umstiegs-Konzept blieb bislang aus. Dabei wird dies von einem Großteil der Bevölkerung gewünscht: In einer repräsentativen Umfrage, die der Berliner Politikprofessor Peter Grottian Anfang 2017 durchführte, sprachen sich immerhin 63 Prozent der befragten Baden-Württemberger dafür aus, dass die Projektpartner das Umstiegskonzept ernsthaft prüfen sollten (<link https: www.kontextwochenzeitung.de politik aus-mist-plaetzchen-backen-4199.html internal-link-new-window>Kontext berichtete).

Auch Matthias Gastel, verkehrspolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag und früher bisweilen als S-21-kritisch erkennbar, hat nicht viel für das Umstiegskonzept übrig, <link http: www.taz.de proteste-gegen-stuttgart-21 external-link-new-window>wie er kürzlich der taz mitteilte. Denn der für die Baugrube vorgeschlagene Busbahnhof sei in dieser Dimension kaum auszulasten, und offen sei überdies, was aus den bereits gebohrten Tunnelröhren werde.

Zumindest, was die Tunnelröhren betrifft, ist Gastel nicht auf dem neuesten Stand. Denn auch dafür gibt es im Umstiegskonzept bereits neue Ideen, die größtenteils aus einem Ende Oktober vorgestellten <link https: www.kontextwochenzeitung.de politik co2-schleuder-s-21-4704.html _blank internal-link-new-window>Gutachten zu Treibhausgasemissionen durch S21 stammen. So suche die Stadt angesichts drohender Fahrverbote für Dieselfahrzeuge, die gerade auch LKWs betreffen würden, ohnehin Innenstadt-nahe Flächen für die logistische City-Versorgung, für den Umschlag von großen auf kleine Transporteinheiten. Und für ein City-Logistik-Terminal böten sich etwa die für den Nord- und Südkopf des Tiefbahnhofs geschaffenen Hohlräume an.

Teile der neuen Fernbahntunnel und des S-Bahn-Tunnels Richtung Bad Cannstatt wiederum ließen sich für neue S-Bahnstrecken nutzen: Eine zwischen Bad Cannstatt und dem Nordbahnhof, eine andere zwischen dem Hauptbahnhof und Bad Cannstatt, sodass die bisherigen S-Bahngleise dieser Verbindung für Regional- und Fernverkehr nutzbar wären. Und die Tunnels nach Feuerbach, Obertürkheim oder zum Flughafen könnte man auch für Elektro-Omnibusse oder -LKWs nutzen.

Welche dieser Umnutzungsideen machbar oder sinnvoll wären, wäre im Bedarfsfalle genau zu prüfen. Dass ein S-21-Abbruch nicht zwangsläufig sinnlos herumstehende Bauruinen bedeuten muss, legen sie allerdings nahe. Mit diesen Plänen haben Stadt, Land und Region jedenfalls Nutzungsideen in der Hinterhand, falls eine der nächsten Kostensteigerungen das Projekt doch den Weg alles Irdischen gehen lässt.


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4 Kommentare verfügbar

  • Horst Ruch
    am 13.12.2017
    Antworten
    Ästhetisch hätte es laut Entwurfsplänen den schönsten Bahnhof der Welt geben sollen.
    Laut EX-OB Schuster, würden die Touristen aus aller Welt hierher strömen um das Wunderwerk einer einmaligen Gleisüberdeckung zu betrachten. Auch ein Scheich aus dem Morgenland fand es zum Nachbauen schön. Nur als…
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