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Stuttgart rettet die Welt

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Weltweit werden nach Prognosen allein in diesem Jahr 41 Milliarden Tonnen Kohlendioxid ausgestoßen. Mehr als je zuvor. Noch nie war es so dringend gegenzusteuern. Kaum zu glauben, dass ausgerechnet Stuttgart beweisen will, wie die Urbanisierung der Energiewende funktioniert.

Tue Gutes und rede darüber. Da gibt's Nachholbedarf. 90 Prozent der BürgerInnen, weiß das Amt für Umweltschutz aus einer Befragung, kennen die mannigfaltigen Anstrengungen ihrer Heimatstadt nicht. Dabei spiele "der zivilgesellschaftliche Prozess zur Bewusstseinsbildung von Bürgerinnen und Bürgern" bei alledem eine maßgebliche Rolle, heißt es zumindest in der Projektbeschreibung auf der Onlineseite der Nationalen Klimaschutzinitiative, mit der das Bundesumweltministerium Klimaschutzprojekte in Deutschland forciert.

Eines davon: Der "Masterplan 100 % Klimaschutz". Der ist kürzlich im Gemeinderat verabschiedet worden. Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne), durchaus an Gegenwind gewohnt, erntete viel Lob und Applaus im vollbesetzten Großen Sitzungssaal des Rathauses, als er vergangene Woche beschrieb, wie ein großer Industriestandort klimaneutral werden will. Und vor allem, dass – <link https: www.kontextwochenzeitung.de politik wir-werden-das-klimaschutzziel-verfehlen-4617.html internal-link-new-window>im Gegensatz zu Bundes- und Landesebene –, in der Stadt die erste Latte nicht gerissen wurde, sondern im Gegenteil höher gelegt: Das für 2020 vorgegebene Ziel, ein Fünftel des Energieverbrauchs im Vergleichs zum Referenzjahr 1990 einzusparen, ist in Stuttgart bereits seit 2015 erreicht.

VertreterInnen der Städte und Gemeinden, der Verbände, der Kammern und der Klimaschutz- und Energieagentur Baden-Württemberg zogen einen Tag lang eine Zwischenbilanz, Experten aus Basel waren zu Gast, Studierende aus Kopenhagen. Frithjof Staiß von renommierten Zentrum für Sonnenenergie- und Wasserstoff- Forschung oder Dina Walter von der Bundesgeschäftsstelle des European Energy Award. Es ging auch um "klimafreundliches Verhalten im Alltag", um "neue Überzeugungsstrategien", aber auch darum, Realitäten zur Kenntnis zu nehmen.

"In Baden-Württemberg ist die Durchschnittstemperatur von 1881 bis 2015 bereits um 1,3 Grad gestiegen", berichtete eine der ReferentInnen. Und die GastgeberInnen verblüfften: Immerhin kann Stuttgart darauf verweisen, dass keine andere Landeshauptstadt mehr Industrie beherbergt. Deren Betriebe machen gemeinsam mit den Sektoren Gewerbe, Handel und Dienstleistung rund 50 Prozent am Primärenergieverbrauch aus. Die Autoren des Masterplans, Experten aus dem Fraunhofer-Institut für Bauphysik beschreiben, wie dies sogar zum Vorteil gereichen kann. Werden die Weichen richtiggestellt, gebe es bis 2050 "ein zusätzliches hohes Einsparpotential".

In der Bundesrepublik hat die Hälfte aller Großstädte eigene Ziele und Pläne vorgelegt. Viele kleinere Kommunen sind noch aktiver. Weltweit werden laufend Anstrengungen dokumentiert, nicht erst seit dem Pariser Klimaabkommen vor einem Jahr. Es gibt ungezählte Verbünde und Initiativen. Vorbild-Charakter haben aber eben vor allem jene Kommunen, die große Industriestandorte sind, und Regionen, in denen die Gemeinden flächendeckende Aktivitäten entfaltet haben. Für den Südwesten wurde im Rathaus erstmals der sogenannte Statusbericht, eine Zwischenbilanz aller kommunalen Maßnahmen, vorgestellt.

Gemeinsam ist den aktiven Kommunen eine weise Einsicht: Dass selbst klügste Planungen wenig bringen in der Emissionsbilanz, wenn sie nicht einher gehen mit einem grundlegenden Umbau der Versorgung und dem völligen Verzicht auf fossile Energieträger. Und Stuttgart möchte in den kommenden Jahren zeigen, wie "die Energiewende im großen Stil", betont der OB, nicht nur im ländlichen Raum möglich ist, sondern gerade in einer Großstadt. Bei den vielen Gesprächen im Foyer lobten Experten ausdrücklich, dass hier anders bilanziert wird als anderswo, weil die Emissionen aus Verkehr und Industrie nicht herausgerechnet werden, nicht aus den Basisdaten des Jahres 1990, auf die sich alle zu erreichenden Veränderungen beziehen, und erst recht nicht aus den Zielen. "Ich bin stolz, dass wir uns das zugemutet haben", sagte Kuhn.

Der Statusbericht bescheinigt der Landeshauptstadt, schon bisher landesweit ein Spitzenreiter in Sachen Elektromobilität oder Carsharing zu sein. Als Maßnahme "M24" ist im Masterplan die vollständige Erneuerung des städtischen Fuhrparks beschrieben. Derzeit testet das städtische Gartenbauamt das an der Uni Aachen entwickelte E-Modell der Post. "Und wenn das etwas taugt", kündigte der Grüne an, "kaufen wir so viele, wie wir bekommen." Er könne nicht immer weiter warten, "bis sich deutsche Hersteller befleißigen, zu bezahlbaren Preisen in den Markt einzusteigen". Exakt berechnet wurde die Einsparleistung, wenn die 312 städtischen Pkw durch Elektrofahrzeuge ersetzt und mit erneuerbarem Strom betrieben werden.

Noch ganz andere Möglichkeiten stecken in der Energieerzeugung, vor allem durch die Sonne. Denn die Solarenergie wird laut Masterplan bisher zu weniger als einem Prozent genutzt. Und weiter: "Würde man die vorhandenen ökologischen Potenziale vollständig ausschöpfen, so könnten insgesamt 5 018 Gigawattstunden Endenergie durch erneuerbare Energiesysteme allein aus dem Stadtgebiet bereitgestellt werden." Zum Vergleich: Dem Energieatlas zufolge liegt Stuttgarts Gesamtjahresverbrauch zurzeit bei rund 14 000 GWh. Schon auf gutem Weg ist die Entwicklung in Sachen Energieeffizienz gerade bei Wohngebäuden – der "German Green City Index" schreibt der Landeshauptstadt sogar Europas Tabellenführung zu. Fachleute erklären das mit der langen Tradition, die der Klimaschutz inzwischen habe, und mit dementsprechenden Erfahrungen. 

Als Kuhns Vorgänger Wolfang Schuster 2002, aufbauend auf einem Konzept auf dem Jahr 1997, seinen Zehn-Punkte-Plan zum Klimaschutz vorstellte, schlug er den Bogen sogar ins 19. Jahrhundert und zum damaligen bürgerschaftlichen Engagement in sogenannten Verschönerungsvereinen, in der Waldheimbewegung oder bei den Naturfreunden, deren bundesweiter Sitz viele Jahrzehnte in Stuttgart war. Das Wissen um die Bedeutung der Lage im Talkessel schlug sich unter anderem darin nieder, dass mit 39 Prozent mehr Fläche unter Landschafts- und Naturschutz gestellt worden ist als in jeder anderen deutschen Großstadt. An Sünden, vom Bau des SI-Centrums auf den Fildern bis zum Tiefbahnhof, ist allerdings auch kein Mangel. Von Feinstaub und Stickoxiden ganz zu schweigen.

Die Befragung von BürgerInnen rund um die weitreichenden Ziele dokumentiert – dennoch oder gerade deshalb – den hohen Stellenwert der Energiewende im gesellschaftlichen Bewusstsein. Deutlich wird aber der größte Ausreißer. Während mehr als ein Drittel der Befragten angeben, im privaten Gebäudebereich bereits initiativ zu sein, durch Wärmedämmung oder den Austausch von Heizkesseln, und ein weiteres Drittel zum konkreten Engagement bereit ist, ergibt sich beim Thema Mobilität ein ganz anderes Bild: 32 Prozent wollen keinesfalls aufs eigene Auto verzichten, 22 Prozent lehnen sogar die Teilnahme an Fahrgemeinschaften ab. "Die Urbanisierung der Energiewende geht aber nur", sagt der OB, "wenn die Gesellschaft mitmacht, und die Bürger müssen verstehen, wie wichtig ihre private Investitionsentscheidung ist." Noch ein Umfrage-Ergebnis: 61 Prozent verlangen in diesem Zusammenhang nach Anreizen durch die öffentliche Hand.

Insgesamt stellt der Masterplan 90 Maßnahmen in fünf Handlungsfeldern vor: von den städtischen Liegenschaften, über Wohnen und Gebäude, zu Gewerbe, Handel, Dienstleistungen und Industrie, zu Mobilität und der Energieversorgung. Mit einzelnen Punkten illustrieren die AutorInnen vom Fraunhofer-Institut, wieviel Mist Kleinvieh machen kann: Zum Beispiel der Einbau eines Pelletkessels im Möhringer "Spitalhof", in dem die Stadtteilbibliothek und das Heimatmuseum untergebracht sind, oder wie für 25 000 Euro jährlich laufende Kosten in Jahresfrist eine allgemein zugängliche Best-Practice-Datenbank aufgebaut wird, samt einer entsprechenden Öffentlichkeitsarbeit.

Draußen am Stand der Klimaschutz- und Energieagentur diskutierten einige BesucherInnen darüber, ob solche guten Bespiele nicht effizienter national, international oder am besten weltweit in Stadtverwaltungen verbreitet werden könnten. Wie dringlich das wäre, ist auf einer der Infotafeln zu lesen: Noch im Laufe dieses Jahrhunderts wird die Landflucht dazu führen, dass nicht weniger als 80 Prozent der Weltbevölkerung in Metropolen leben. Genauer gesagt: leben müssen.


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2 Kommentare verfügbar

  • Ge La
    am 12.12.2017
    Antworten
    "Das für 2020 vorgegebene Ziel, ein Fünftel des Energieverbrauchs im Vergleichs zum Referenzjahr 1990 einzusparen, ist in Stuttgart bereits seit 2015 erreicht. " Warum weiß das niemand? Es gibt immer wieder Appelle, dies und jenes zu tun oder zu lassen für den Klimaschutz; es wird immer wieder…
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