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Runter vom Ross

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Die Eckensee-Variante ist vom Tisch. Das alte Paketpostamt wird zum Interimsspielplatz der Oper. Gut so, meint unser Autor. Es schadet dem Stuttgarter Staatstheater nicht, sich vom hohen Ross zu steigen.

Bis zuletzt hatten die Hochkultur-Kapitäne gewarnt: Eine drohende "Beschädigung der großen Marken Oper Stuttgart und Stuttgarter Ballett" sah der geschäftsführende Intendant der Staatstheater, Marc-Oliver Hendriks, vor einem Jahr noch heraufdämmern, sollte die Oper während der Sanierung mehr als zwei Meter vom Stadtzentrum wegziehen müssen. Tänzer könnten nach Paris, London oder New York abwandern, raunte er. Einbußen in Millionenhöhe würden auf das Haus zukommen, sollte dem Publikum der Weg zu weit sein.

Obwohl die Stadt die Idee, den Interimsbau über dem Eckensee, mitten im Oberen Schlossgarten zu errichten (<link https: www.kontextwochenzeitung.de kultur finger-weg-vom-eckensee-4581.html _blank external-link>Kontext berichtete), bereits abgelehnt hatte, machten Hendriks und Opernintendant Jossi Wieler hinter den Kulissen weiter Druck. Im Juli brachten sie alle Gemeinderatsfraktionen bis auf die Grünen und SÖS-Linke-Plus dazu, einen erneuten Prüfauftrag zu unterstützen, immer mit Schützenhilfe des Vereins Aufbruch Stuttgart (<link https: www.kontextwochenzeitung.de ueberm-kesselrand backes-hat-sich-verrechnet-4605.html _blank external-link>Kontext berichtete auch), in dem sie selbst Mitglied sind. Zuletzt fuhr der Architekt Arno Lederer in einem Zeitungsbeitrag erneut schwere Geschütze auf.

Zu viel der militärischen Rhetorik? Lederer selbst sprach in seinem Beitrag von Heckenschützen, raunte von Tabus, an die man nicht rühren dürfe und hielt seine eigene Meinung, das denkmalgeschützte Katharinenstift solle der Oper Platz machen, für die reine Vernunft, die sich bedauerlicherweise nicht durchsetzen könne. Ausgerechnet Lederer! Der ansonsten für eine humane Architektur steht, wie am Hospitalhof zu besichtigen, der zu Recht eine fehlende Gesamtkonzeption in der Stuttgarter Stadtplanung beklagt.

Sinneswandel der Hochkultur-Kapitäne

Keine zehn Tage später hört sich alles ganz anders an. "Die Intendanz der Württembergischen Staatstheater ist zu der Auffassung gelangt, dass das ehemalige Paketpostamt in der Ehmannstraße eine faszinierende und urbane Interimsspielstätte für die Oper Stuttgart und das Stuttgarter Ballett werden könnte", teilen die Staatstheater mit. "Nachdrücklich" empfehlen sie den Standort Ehmannstraße. Plötzlich ist das Paketpostamt nicht mehr ganz weit draußen, sondern, wie Tamas Detrich, der designierte Ballett-Intendant festhält: "Dieser Ort befindet sich in unmittelbarer Nähe der Innenstadt und würde, wenn eine angemessene Infrastruktur vorhanden ist, sehr viel Potential bieten."

Während sich Wieler zuletzt noch für die Eckensee-Oper verkämpft hatte, meint nun sein Nachfolger Victor Schoner, an der Ehmannstraße "würden wir das Interims-Areal für uns und unser Publikum erschließen und dort einen neuen Treffpunkt und Veranstaltungsort schaffen. Die Oper könnte so zu einer neuen, größeren Vorstellung von Innenstadt beitragen."

Last not least Hendriks: "Mit einigen klugen Ertüchtigungsmaßnahmen der Infrastruktur und der Zuwege, schaffen wir in unmittelbarer Nähe zum Rosensteinquartier ein vorübergehendes Performing Arts Center, das den Stuttgartern Lust auf neue Entdeckungen in diesem Stadtteil machen wird. Es wäre eine sehr gute Entscheidung, die der gerade in Berlin gekürten Kulturstadt des Jahres 2017 zur Ehre gereicht!" Hendriks bezieht sich auf ein Ranking unter den deutschen Städten, das die Berenberg Bank und das Hamburgische Weltwirtschaftsinstitut im September vorgestellt hatten.

Wie kommt es zu diesem Sinneswandel? Im September noch hatte Hendriks "den Ernst und die Tiefe der Entwürfe" von Architekturstudenten gelobt, denen Peter Cheret im Sommersemester die Aufgabe gestellt hatte, einen Interimsbau zu entwerfen: in der Stadtmitte. Doch auch das Stadtplanungsamt hatte gearbeitet. Eine Reihe perspektivischer Darstellungen führen die wahren Dimensionen vor Augen: Die Ausweich-Oper hätte höher sein müssen als jeder andere Bau rund um den Schlossgarten; aus der einen Richtung hätte sie den Blick auf das Neue Schloss komplett verstellt, während sie vom Schlossplatz kommend fast die gesamte Breite des Schlossgartens blockiert hätte.

Tatsächlich liegt das ehemalige Paketpostamt keineswegs am Rand der Welt. Hinter und oberhalb der Bahnlinie nach Bad Cannstatt, mag es zwar vom Schlossgarten aus unerreichbar erscheinen. Doch in Realität ist es von der Stadtbahnhaltestelle Mineralbäder in maximal zehn Minuten zu Fuß zu erreichen. Und kaum länger ist der Fußweg vom Nordbahnhof, ebenfalls durch den Park. Keineswegs länger als in der Stadtmitte, müsste er lediglich ein wenig ausgeschildert und beleuchtet werden. Parkplätze sind ohnehin ausreichend vorhanden, und das frühere Bahnpostamt ist groß genug, um keinerlei Wünsche offen zu lassen.

Der spröde Charme der Verladerampen ist Chance für Erneuerungen

Lust auf neue Entdeckungen: Das würde der Oper in der Tat gut tun. In diesem Punkt war sie schon einmal weiter. Vor mehr als zehn Jahren gab es im Cannstatter Römerkastell das Forum Neues Musiktheater, eine weltweit einzigartige Experimentierstätte. Doch das Land war zu geizig, diesen nun wirklich etwas abgelegenen und doch immer gut besuchten Ort am Leben zu erhalten. In zehn "Zeitopern" verließ das Ensemble in den folgenden Jahren sein altehrwürdiges Gebäude, um an Orten wie dem Autohaus Schwabengarage oder unter der Paulinenbrücke Musiktheater-Vorstellungen zu geben. Das ist nun alles eine Weile her, und der Elan ist versiegt, auch mangels Unterstützung.

Das Bahnpostamt, wo einst Gastarbeiter und Aushilfskräfte im Dreischichtsystem Pakete aufs Band warfen, ist für Entdeckungen genau der richtige Ort. Der spröde Charme der Verladerampen, die unmittelbare Nähe zum Park und zum künftigen Rosensteinquartier bieten viele Anregungen, sich mit der heutigen Welt auseinanderzusetzen und darüber nachzudenken, wie über die Repertoirepflege hinaus in die Zukunft gedacht werden kann.

Zum Glück scheinen Victor Schoner und Tamas Detrich, die im kommenden Jahr Jossi Wieler und Reid Anderson als Opern- und Ballettintendant ablösen, dies erkannt zu haben. Ein bisschen Bewegung tut gut, und es steht zu hoffen, dass auch in das Programm der Oper und des Balletts wieder mehr Bewegung kommt. Die großen Opern der Vergangenheit werden auch weiterhin Opernfans glücklich machen. Aber es braucht auch Reibung, den Bezug zur Gegenwart, wenn die Oper nicht zum Hochkultur-Konsumtempel verkommen soll.


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6 Kommentare verfügbar

  • Norbert Schwarz
    am 06.12.2017
    Antworten
    Ich kann mich da nur noch wundern was in Stuttgart für selbsternannte Wahrsager unterwegs sind. Zum Thema gibt es zwei Seiten, wie reagieren die "Konsumenten" auf die doch massiven Veränderungen die im Zuge der Sanierung anstehen und wie übersteht der Betrieb mit über 1000 Mitarbeitern diese Zeit.…
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