KONTEXT:Wochenzeitung
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Im Sauseschritt zum Notausgang

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Hat die Bahn Sicherheitsrisiken bei Stuttgart 21 schöngerechnet? Ein geheimes Rettungsszenario für das Tunnelsystem des Tiefbahnhofs, das Kontext vorliegt, nährt diesen Verdacht. Projektkritiker halten die Evakuierungszeiten für realitätsfremd.

Es hätte ein guter Tag für Tiefbahnhoffreunde sein können, dieser nasskalte Mittwoch im Januar 2014. Während im Stuttgarter Hauptbahnhof Bagger am stählernen Bahnsteigdach knabberten, leckten die Gegner des Milliardenprojekts ihre Wunden, nachdem vier Gründungsmitglieder (Grüne, BUND, Pro Bahn und VCD) im Streit das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 verlassen hatten. Und in der Kontext beklagte Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), dass sich Teile des Protests inzwischen fanatisiert hätten. In der S-21-Projektgesellschaft (PSU) der Bahn in der Stuttgarter Räpplenstraße wollte dennoch keine richtige Stimmung aufkommen. Zu zahlreich waren die Probleme, mit denen sich die Planer beim neuen Bahnknoten herumschlagen mussten. Etwa im Arbeitskreis Brandschutz, der an diesem Tag unter Leitung von Klaus-Jürgen Bieger, dem Brandschutzbeauftragten des Schienenkonzerns, mit Vertretern von Stuttgarter Feuerwehr und Regierungspräsidium zusammenkam.

"Abstimmungen soweit fortführen, dass vorliegende Genehmigungsplanungen freigegeben werden beziehungsweise ausstehende Stellungsnahmen durch die Träger öffentlicher Belange zeitnah erfolgen können", gab Bieger als wichtiges Ziel der Sitzung aus, wie das Kontext vorliegende Protokoll vermerkt. In vier Stunden waren 31 offene Fragen aus den Schlichtungsgesprächen sowie acht Baudetails abzuarbeiten. Während in der Öffentlichkeit gerade heftig diskutiert wurde, ob sich im Brandfall alle Menschen lebend aus dem futuristischen Tiefbahnhof retten können, stand in Raum 6.06 des PSU-Quartiers vor allem die Sicherheit im 60 Kilometer langen Tunnelsystem von Stuttgart 21 im Fokus.

So präsentierte Bieger unter "TOP 5" anhand einer Grafik, wie die "Entfluchtung" eines mit 1757 Fahrgästen im Tunnel liegengebliebenen Zuges funktioniert. "Folie 11" liegt Kontext ebenfalls vor. Der Darstellung nach dauert es lediglich "ca. 2 Minuten", bis alle Reisenden aus den Waggons auf den schmalen Rettungsweg gesprungen sind. Weitere "ca. 3 Minuten" vergehen, bis der letzte Flüchtende einen der Querstollen erreicht hat, die im Abstand von 500 Metern in eingleisigen Tunnelröhren vorgesehen sind, und die in die als sicher geltende Nachbarröhre führen. Laut Folie sind es vom havarierten Zug bis zum nächsten Rettungsstollen allerdings maximal 250 Meter. Die zwei Meter breiten Stollentüren, die im Brandfall den Rauchübertritt verhindern sollen, können aus Sicht der Bahn pro Minute 100 Menschen passieren: "6 Min. für 600 Pers.", heißt es in der Grafik.

Wie lange die Entfluchtung insgesamt, vom Zughalt bis zum Schließen der zweiten Stollentür, dauert, verrät die Folie nicht. Die Summe der Zeitangaben auf der Folie (2 Min. + 3 Min. + 6 Min.) ergibt 11 Minuten. "Diese überschlägige Berechnung wurde mittlerweile durch die Gruner AG durch Simulation bestätigt", heißt es lediglich im Sitzungsprotokoll dazu. Das renommierte Baseler Ingenieurbüro berät nach eigenen Angaben die S-21-Projektgesellschaft "in allen sicherheitsrelevanten Fragestellungen". Schlagzeilen machten die Schweizer im Jahr 2012, als sie im Auftrag der Bahn das Brandschutzkonzept des Tiefbahnhofs prüften und erhebliche Mängel feststellten. Das geheime Gutachten wurde in die Öffentlichkeit geleakt (<link https: www.kontextwochenzeitung.de wirtschaft angebrannt-1773.html internal-link-new-window>Kontext berichtete).

Bieger will das Rettungskonzept nicht veröffentlichen

Im Januar 2014 beruhigte der Hinweis auf die Gruner AG offenbar die Experten von Feuerwehr und Regierungspräsidium. Das Tunnelrettungskonzept wurde im Arbeitskreis nicht weiter hinterfragt. Stattdessen kam es laut Protokoll nur zur Diskussion, inwieweit die Ergebnisse öffentlich verwendet werden können. Gegen eine Publikation sträubte sich Bahnmanager Bieger – mit dem Hinweis, dass es "für die Erstellung von Entfluchtungssimulationen für Tunnel keinerlei rechtliche Grundlage gibt". Zudem handele es sich "in diesem Einzelfall um eine freiwillige Maßnahme" auf Wunsch des Arbeitskreises, so Bieger. "Auf keine Fall" wolle man die Simulation veröffentlichen, notierte der Protokollant. Ebenso bügelte Bieger einen Vorschlag von Stuttgarts Vize-Feuerwehrchef Stefan Eppinger ab, ein Rettungsszenario bei einem S-21-Tunnelbrand im Stuttgarter Gemeinderat vorzustellen, "um darzulegen, dass die Anlagen sicher sind". Weil die "Erläuterung von Katastrophen bzw. das Aufzeigen von Worst-Case-Szenarien in der Öffentlichkeit häufig für Unruhe sorgt", begründete Bieger laut Protokoll seine Geheimniskrämerei.

Kontext hat die projektkritische Gruppe Ingenieure 22 gebeten, das geheime Entfluchtungsszenario der S-21-Tunnel zu bewerten. Ihr Urteil fällt vernichtend aus. "Die Angaben sind grob fehlerhaft und wirklichkeitsfremd", sagt Sprecher Hans Heydemann, und begründet es anhand mehrerer Punkte. So sei als maßgebliche Fluchtweglänge der volle Abstand der Querstollen zu berücksichtigen, also 500 Meter und nicht nur der halbe Abstand von 250 Metern, wie es die Bahn mache. Denn "im Zweifel muss davon ausgegangen werden, dass einer der Querstollen bedingt durch die Lage des Brandortes gar nicht zugänglich ist", erläutert der Ingenieur.

Auch die Wegzeit zwischen Ausstieg und Querstollen sei zweifelhaft. "Um 250 Meter in drei Minuten zurückzulegen, ist eine mittlere Gehgeschwindigkeit von 1,39 Metern pro Sekunde notwendig", rechnet Heydemann vor. Das entspricht einem flotten Wanderschritt von 5 Stundenkilometern. "Im Unglücksfall behindern sich die Leute auf dem nur 1,2 Meter schmalen Fluchtweg gegenseitig, die Langsamsten, also Ältere und Kinder, bestimmen das Tempo – wenn es nicht gleich zur Panik kommt", kritisiert er.

Die angenommene Räumzeit des Zuges sei ebenfalls unrealistisch. "Das Aussteigen von 200 Personen aus einem vollbesetzten Wagen, eventuell noch dazu unter Überwindung eines Höhenunterschiedes zur Schienenoberkante, ohne Leiter oder Trittstufen, ist sehr beschwerlich und von vielen Reisenden ohne fremde Hilfe nicht zu leisten", sagt Heydemann. Dies dauere sehr viel länger als zwei Minuten.

Merkwürdig finden die Ingenieure 22, dass die Bahn nur 600 Personen für den Durchgang durch je einen der beiden benachbarten Querstollen vorsieht. "Bei insgesamt 1757 Fahrgästen wären doch 879 Personen zu berücksichtigen, was dann rund neun statt sechs Minuten dauert", so Sprecher Heydemann. "Weil jedoch nur von einem verfügbaren Querstollen auszugehen ist, verlängert sich allein dieser Zeitabschnitt auf mindestens 18 Minuten." Auffällig sei auch, dass keine Alarmierungszeit angegeben ist. "Schließlich dürfte nicht jedem Fahrgast bewusst sein, dass er um sein Leben rennen sollte, falls ein Zug außerplanmäßig im Tunnel hält", so Heydemann. Zudem müsste der Zugverkehr in der unverrauchten Parallelröhre eingestellt werden. Ansonsten bestehe die Gefahr, das Flüchtende dort von einem Zug überrollt würden. Und völlig unklar bleibe, in welcher Zeit gehbehinderte oder verletzte Fahrgäste in Sicherheit gebracht werden können.

Viel längere Evakuierungszeiten

Zudem fragen sich die Ingenieure, wie bei einem Tunnelbrand die Reisenden letztlich vollständig aus dem Gefahrenbereich kommen. "Um 1757 Personen aus dem sicheren Tunnel zu befördern, werden 35 Reisebusse mit je 50 Plätzen benötigt", rechnet Heydemann vor. Wie können diese Transportkapazitäten im Unglücksfall so kurzfristig bereitgestellt werden, lautet eine der Fragen. "Es wird Stunden dauern, bis knapp 2000 Personen aus dem Tunnel herausgebracht sein werden", erwartet der Ingenieur.

Heydemann selbst kommt zu einem ganz anderen Ergebnis, wenn er Richtwerte aus Regelwerken wie der amerikanischen National Fire Protection Association (NFPA) oder der deutschen Straßenbahn-Bau- und Betriebsordnung (BOStrab) für die Berechnung verwendet. "Im günstigsten Fall dauert die Entfluchtung eines überfüllten Doppelstock-Regionalzuges 30,4 Minuten", sagt er. Im Worst-Case-Szenario, wenn der nächste rettende Querstollen 480 Meter entfernt ist und Flüchtende nur relativ langsam vorwärts kommen, verlängert sich die Evakuierungszeit auf über 39 Minuten.

Das ist viel zu lang, wie Heydemann nach einer weiteren Berechnung feststellt. "Bei Zugbrand in eingleisiger Tunnelröhre sind die Fluchtwege bereits nach 11,3 Minuten verraucht", erläutert er. Viele Menschen würden bei einem Feuer in dem ausgedehnten Tunnelsystem von Stuttgart 21 an giftigen Brandgasen ersticken, warnt er. Aus Sicht der Bahn wären jedoch keine Opfer zu beklagen: Der Fluchtweg bliebe "just in Time" rauchfrei.

Gerne würden die Ingenieure 22 überprüfen, ob die Bahn ihr Entfluchtungsszenario plausibel berechnet hat – oder ob Simulationsparameter zu optimistisch gewählt wurden. Bislang verweigert die Bahn eine Einsichtnahme, weil dies "die öffentliche Sicherheit" bedrohe, so die Formulierung im Ablehnungsbescheid an Heydemann. Aber vielleicht nicht mehr lange – vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart wird am Donnerstag die Klage eines Bürgers verhandelt, die den Schienenkonzern zur Herausgabe der Tunnelsimulation zwingen soll. Mit dem noch laufenden Verfahren begründet die Bahn gegenüber Kontext auch, warum sie zu Fragen zur Simulation keine Stellung nehme.

Bei einer Übung brauchten Retter eine Stunde bis zu den Verletzten

Zurückliegende Notfallübungen scheinen die schlimmsten Befürchtungen der Ingenieure 22 zu bestätigen. "Es dauerte gut zwei Stunden, bis die Retter alle 'Verletzten' erstversorgt und aus dem Zug geschafft haben", berichtete der "Donaukurier" über eine Großübung im ICE-Tunnel bei Stammham im Oktober 2016. In deren Verlauf bemühten sich 300 Retter um gerade mal 50 Reisende. Eine Einsatzübung im zweigleisigen Freudensteintunnel auf der Schnellfahrstrecke Stuttgart-Mannheim bei Mühlacker im November 2015 mit der gleichen Anzahl an Reisenden und Rettern musste sogar abgebrochen werden: Zwei Teilnehmer atmeten während der Übung zu viele Abgase im Tunnel ein und wurden ins Krankenhaus gebracht. Völlig aus dem Ruder lief eine Notfall-Übung im BER-Flughafentunnel in Berlin im September 2011, an der 300 Statisten und 100 Rettungskräfte beteiligt waren. Es dauerte schon eine Stunde, bis die Retter zu den "Verletzten" vorgedrungen waren. "Die Rettungswege in der rund drei Kilometer langen Röhre sind zu eng, die Wasserreservoire ein Witz. Sollte es zu einem Unfall im Tunnel kommen, hätten Menschen kaum Überlebenschancen", zitierte die "Märkische Allgemeine" damals Beteiligte.

Dabei brennt es in Bahn- und Straßenbahntunnels häufiger als gemeinhin angenommen. Hans Heydemann dokumentierte allein in Deutschland 73 Brandereignisse in unterirdischen Verkehrsanlagen zwischen 1972 bis heute – vom Kabel- bis zum Zugbrand. 115 Menschen wurden dabei verletzt. "Ich bin fassungslos, dass diese offenkundigen groben Fehler im S-21-Entfluchtungskonzept den "Fachleuten" der Überwachungs- und Genehmigungsstellen nicht aufgefallen sein sollen", sagt er. Sie hätten weitreichende Auflagen für das Tunnelsystem von Stuttgart 21 aussprechen müssen.

 

Info:

Vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart, Augustenstraße 5, werden am Donnerstag, 16. November 2017 zwei Klagen gegen die Deutsche Bahn im Zusammenhang mit Stuttgart 21 öffentlich verhandelt:

Klage auf Einsichtnahme in die "Liste der 1 700 S-21-Risiken" (9.30 Uhr, Saal 5)

Klage gegen DB AG auf Veröffentlichung der "Tunnel-Simulation" (10.30 Uhr, Saal 5)


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2 Kommentare verfügbar

  • Schwa be
    am 16.11.2017
    Antworten
    "Töten mit deutscher Hilfe" heißt die treffende Überschrift zum Artikel der Drohnenangriffe in dieser Ausgabe.
    In Anlehnung daran könnte zu diesem Artikel eine passende Überschrift auch folgendermaßen lauten "DB-Planung zu S21 mit möglicher Todesfolge - wohlwollend Unterstützt durch Bundes-, Landes-…
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