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Zurück in die Kreidezeit

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Jeder neue Bildungsvergleich weckt in der Südwest-CDU alte Reflexe. Als wären die Rezepte von vorgestern tauglich für das komplexe Schulleben im 21. Jahrhundert. Trotzdem bekommen ausgerechnet diejenigen Ideologen, die ReformerInnen Ideologie vorwerfen, immer mehr Einfluss.

Sandra Boser, bildungspolitische Expertin der Grünen-Fraktion im baden-württembergischen Landtag, Mutter von zwei Kindern und seit Jahren Kämpferin für mehr Chancengerechtigkeit im Land, zitierte kürzlich am Ende einer Plenarrede eine Schülerin. Die habe ihr einen Wunsch auf den Weg ins Parlament mitgegeben: "Wer Kritik an der Gemeinschaftsschule hat, sollte sie sich selbst vor Ort anschauen und nichts kritisieren, was man selbst nicht kennt." Die Reaktionen aus der CDU-Fraktion sprachen Bände. "Schon viele besucht!", rief Karl-Wilhelm Röhm selbstzufrieden. Der war zwar gar nicht angesprochen, fühlte sich offenbar aber angegriffen. Nicht zu Unrecht.

Fraktions-Vize Röhm kommt aus der Reformpädagogik, war selbst Studienrat und viele Jahre als Oberstudiendirektor Chef am Münsinger Gymnasium, das den Ruf genießt, besonders innovativ zu sein. Er gibt als Hardliner die Tonlage auch unter den Jüngeren vor. Der 42-Jährige Landtagsneuling Raimund Haser – Chef einer Werbeagentur – schimpft ebenfalls auf die von Grünen und SPD angestoßenen Veränderungen der vergangenen Legislaturperiode und tut so, als könne seine CDU diese ganzen angeblichen Fehlentwicklungen im Alleingang abstellen. Die Gemeinschaftsschule müsse noch einmal in ihre Teile zerlegen werden, so Haser, um zu klären, was funktioniert und was nicht. Er wolle sich nicht als Gegner hinstellen lassen, sagt der gelernte Betriebswirt, aber als die Schulform entstanden sei, "wurde der reformpädagogische Kühlschrank geöffnet, vom Tiramisu über die Gurke bis zum Fleisch alles herausgenommen, in einen Topf geworfen und umgerührt, um uns hinterher zu fragen, warum es nicht schmeckt". 

Die Metapher könnte noch als halblustig durchgehen. Andere, aus der Riege der noch jüngeren Schwarzen, bringen niemanden mehr zum Lachen. Manuel Hagel, CDU-Generalsekretär und jagdpolitischer Sprecher der Fraktion, nutzte die Vorstellung des "Bildungstrend 2016", der vergangene Woche für so viel Wirbel sorgte, zur Generalabrechnung mit der "roten Ideologie": Die SPD "hat die Zukunftschancen einer ganzen Generation zerstört", wetterte Hagel. Daran ist zwar nichts richtig, aber das Vorgehen bemerkenswert. Die 400 Seiten starke Untersuchung der Leistungen von ViertklässlerInnen in Deutsch und Mathematik, erstellt vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) an der Berliner Humboldt-Universität, war bis Freitag, den 13. Oktober, 11 Uhr, unter Verschluss und wurde dann im Netz freigeschaltet – aber schon elf Minuten später posaunte Hagel seine kritischen Erkenntnisse in die Welt.

Jung-CDUler: Schlechte Schülerleistungen wegen sexueller Vielfalt

Dabei stilisiert sich der 29-Jährige als Politiker, der mit einem großen Maß an "Demut, Engagement, Präsenz sowie Verantwortungs- und Pflichtbewusstsein für das öffentliche Wohl (...) zuhören will", der sich "über das Gehörte Gedanken macht", um es "mit in die politische Arbeit hineinzutragen". Offenbar nicht nur das Gehörte, sondern auch Zusammengereimtes. Noch niemand – außer möglicherweise verblendeten AnhängerInnen der "Demo für alle" – hat bisher eine Verbindung zwischen den bescheidenen Leistungen hiesiger GrundschülerInnen und der Toleranz gegenüber sexueller Vielfalt hergestellt. Hagel schon: Sexuelle Vielfalt sei "gegen jede Vernunft" im Bildungsplan propagiert worden, jetzt habe sie zum schlechten Abschneiden mit beigetragen.

Das ist unsinnig, kommt aber jenen in der CDU gerade recht, die wie eh und je Stimmung machen wollen gegen das längere gemeinsame Lernen auf verschiedenen Niveaus. Fakten zählen dabei wenig. Denn die Erkenntnisse aus Aufsteigerländern im "Bildungstrend"-Bericht wie Schleswig-Holstein, wie stärkere und schwächere Kinder sehr wohl zum Nutzen aller voneinander profitieren können, sagen ganz anderes.

Hamburg ist ebenfalls Aufsteiger im aktuellen Grundschulvergleich, 98 Prozent werden dort als Ganztagsschule geführt. In Baden-Württemberg sind es 22 Prozent. Die Zahlen sprechen Bände. Und vor allem öffnet sich die Schere zwischen beiden Ländern schon lange: 2011 besuchten 30 Prozent der Erst- bis ViertklässlerInnen in der Hansestadt eine Ganztagsschule. Hierzulande, nach dem langen erbitterten Abwehrkampf in Teilen der Union, waren es nur acht Prozent.

Für ganz Deutschland hat die Bertelsmann-Stiftung gerade errechnet, dass – um in acht Jahren für 80 Prozent der Schüler und Schülerinnen ein solches Angebot zu schaffen – 31 400 zusätzliche Lehr- und weitere 16 200 pädagogische Fachkräfte zuerst ausgebildet und dann eingestellt werden müssten. Die Autoren der Studie veranschlagen die Stellen mit jährlich 2,8 Milliarden Euro Personalkosten. Sie stellen aber eben auch fest, dass sich 72 Prozent der Eltern einen Platz an einer Ganztagsschule für ihr Kind wünschen.

Statt derartige Erkenntnisse auf sich wirken zu lassen, hackt die CDU auf der Ganztagsschule herum, die "weder Selbstzweck noch eine Art politischer Lottogewinn" sei, so der Fraktions-Vize. Und Kultusministerin Susanne Eisenmann, die sich als Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK) zurzeit eine gewisse Zurückhaltung auferlegt, meint erkannt zu haben, dass baden-württembergische Mütter und Väter ohnehin ganz anders ticken: "Die Studie ignoriert, dass sehr viele Eltern eine flexible Betreuung für ihre Kinder brauchen und eben nicht einen ausschließlich verbindlichen Ganztag." Röhm verlangte kürzlich sogar "eine echte Wahlfreiheit" und dass parallel künftig an ein und demselben Standort neben dem pädagogisch gebotenen typischen Wechsel von Unterricht und Betreuung "optional (...) ein familienfreundliches Verweilen" angeboten wird.

Ein Aufschrei müsste durch die Reihen der Bildungs- und der Finanzpolitiker gehen. Denn längst ist belegt, dass es nicht sinnvoll zu organisieren und obendrein viel zu kostspielig ist, wenn Eltern die Möglichkeit bekommen, ihre Kinder je nach familiärer Situation mal in der Schule zu lassen und mal schon mittags abzuholen. Trotzdem sagt Röhm, dass die derzeitige Lage des "Ganz oder gar nicht" beim Ganztag um qualitätsvolle und bedarfsgerechte Angebote erweitert werden müsse. Und dass nun Schluss sei mit der Devise "Für alle Kinder das Gleiche, anstatt für jedes Kind das Richtige".

Der kleinere Regierungspartner will sogar die Deutungshoheit über Begriffe zurück. Als familienfreundlich gilt plötzlich wieder, wenn Kinder den Nachmittag daheim verbringen können – natürlich bei den Müttern. Gymnasien im Land sollen wieder homogener werden, die neuen Abiturprüfungen Leistungsstärkeren mehr Chancen zur Profilierung eröffnen, und Gemeinschaftsschulen laufen Gefahr, zum leeren Begriff ohne Reforminhalt zu verkommen.

"Vorgetäuschter Burgfrieden" zwischen Grün und Schwarz

Um den grünen Koalitionspartner hat die CDU vorerst vorsichtshalber eine Art Schutzzaun gezogen: All der Unmut, nicht im Netz, aber immerhin im Parlament, landet vor der Tür der Sozialdemokraten. Als hätten die, mokierte sich in einer der vielen bildungspolitischen Debatten im Landtag Timm Kern (FDP), "in der vergangenen Legislaturperiode mit absoluter Mehrheit hier regiert". Vorerst jedenfalls geht die Strategie "des vorgetäuschten Burgfriedens", so ein Grünen-Abgeordneter, auf: "Viele bei uns haben die Faust in der Tasche, aber keiner will ausgerechnet jetzt dieses Riesenfass aufmachen." Jamaika und die erst am heutigen Mittwoch offiziell begonnenen Sondierungsgespräche auf Bundesebene lassen grüßen. 

CDU-Landeschef Thomas Strobl wird nicht müde, ein "Ende der Kreidezeit" zu versprechen, was ebenfalls als halblustig durchgehen könnte, will der Innen- und Digitalisierungsminister damit doch die Innovationskraft an Baden-Württembergs Schulen unterstreichen. Tatsächlich aber verharren Ältere und Jüngere und gerade der Parteinachwuchs in eben jener Kreidezeit. Sogar die Schüler-Union fühlt sich aufgerufen, gegen die SPD zu kübeln, und beklagt nach der Veröffentlichung des IQB-Vergleichs prompt die "fatalen Auswirkungen grün-roter Bildungspolitik".

Diese Konsequenz, mit der eigene Versäumnisse über Jahrzehnte ausgeblendet werden, ist gefährlich, weil ehrliche Verbesserungen verhindert werden. Nicht nur für Doro Moritz, Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), sind Grüne, CDU, SPD und FDP gemeinsam verantwortlich. Denn in der Forschung gilt die Faustregel, dass etwa ein Zeitraum von zehn Jahren notwendig ist, um erfolgreich umzusteuern. Auch das lässt sich an den Resultaten für Schleswig-Holstein ablesen, wo sich CDU und SPD im Zuge einer Großen Koalition vor zwölf Jahren tatsächlich auf einen Schulterschluss geeinigt hatten.

Peinliche Konstante: Schulerfolg von Herkunft der Eltern abhängig

Und zusätzlich noch gibt es eine hinreichend erwiesene und besonders peinliche Konstante im reichen Südwesten: Die Abhängigkeit des Schulerfolgs von der Herkunft der Eltern bleibt ungebrochen groß. Das ist schwarzen BildungspolitikerInnen in ihren Reaktionen auf die IQB-Studien aber keine Erwähnung wert. Grünen-Bildungsexpertin Sandra Boser schlägt den Bogen immerhin zur Qualitätsdiskussion, mit der die Landesregierung alle Strukturdebatten beenden wollte. Und sie lässt zumindest zwischen den Zeilen erkennen, wie wenig sie beispielsweise gerade in diesem Zusammenhang dem Röhm'schen "familienpolitischen Verweilen" der Erst- bis ViertklässlerInnen nachmittags in der Schule abgewinnen kann. 

Lange wird der Burgfrieden, egal ob vorgetäuscht oder nicht, vermutlich ohnehin nicht mehr halten. Für die SPD-Fraktion hat Ex-Kultusminister Andreas Stoch die Forderung nach einer Enquete-Kommission zur frühkindlichen Bildung und der Grundschule vorgelegt. Sie wird eingerichtet, wenn die FDP mitmacht, was wahrscheinlich erscheint. Und dann kämen noch einmal die vielen Versäumnisse der Vergangenheit auf den Tisch. Etwa wie sich vor 30 Jahren schon einmal eine Enquete des Landtags der Thematik angenommen und ausdrücklich "die Respektierung des Elternwillens" verlangt hatte, um Ganztagsschulen einzurichten. Mit deren Ausbau vorsichtig begonnen wurde erst 15 Jahre später. Das haben nicht Sozialdemokraten zu verantworten. Und die Grünen erst recht nicht.


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3 Kommentare verfügbar

  • Peter Pan
    am 20.10.2017
    Antworten
    @Dr. Dietrich Gscheidle
    Die einzige "sechs" die schlecht ist, ist die gleichnamige/gleichwertige Schulnote im staatlichen Schulsystem. Ihre Auslassung ist ja sowas von 19./20. Jahrhundert, das mir schlecht wird. - Das Problem ist nicht (nur) dass SchülerInnen anscheinend weniger "gut" sind als…
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