KONTEXT:Wochenzeitung
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"So nicht" reicht nicht

"So nicht" reicht nicht
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Ein Oberbürgermeister als Visionär. Das ist so selten, dass Peter Kurz zu Wort kommen muss. Der Mannheimer Sozialdemokrat meint, gegen den erstarkenden Populismus sei Umverteilung eine Antwort. Allein die Abgrenzung von der Schröderschen Agenda-Politik reiche jedoch nicht aus.

Herr Kurz, den erstarkenden Populismus bezeichnen Sie als "eine Art Auto-Immunkrankheit der Demokratie". Was meinen Sie damit?

Populisten suggerieren mit Aussagen wie "Wir sind das Volk" oder "Der Volkswille muss realisiert werden" die Idee, es gäbe ein homogenes Volk mit einem einheitlichen Willen. Was zutiefst undemokratisch ist, weil sich das nicht mit den Prinzipien von Meinungsvielfalt und einer freiheitlichen Gesellschaft vereinen lässt. Den Vergleich zum Immunsystem ziehe ich, weil der Angriff von Innen kommt, das heißt nicht als offene Demokratiefeindlichkeit, sondern im Gewand der Forderung nach mehr Demokratie; Demokratiebefürworter, die den Staat transformieren wollen zu einer angeblichen "wahren Demokratie". Und weil es natürlich immer Dinge berechtigterweise zu kritisieren gibt, hat es eine große Angriffswucht.

Wo verläuft für Sie dabei die Trennlinie zwischen gefährlichem Populismus und Systemkritik, die im Sinn von Pluralismus und Meinungsvielfalt zulässig sein muss?

Sie können das sehr deutlich machen bei der Aufdeckung eines Skandals und der Reaktion darauf. Der überzeugte Demokrat wird sich empören und möglicherweise fordern, die korrektiven Mechanismen zu verschärfen, damit solche Skandale in Zukunft verhindert werden. Die Aufklärung des Skandals wird er aber als Beleg interpretieren, dass die öffentliche Kontrolle grundsätzlich funktioniert und womöglich gezielt nachgebessert werden muss. Umgekehrt gibt es diejenigen, die jeden Skandal als Beweis dafür darstellen, dass das System an sich nicht funktioniert. Ohne aber ein System anbieten zu können, das solche Skandale besser verhindern kann. Im Gegenteil: Wo Populisten an der Macht sind, gibt es deutlich weniger Checks und Balances, sie bedienen sich sofort selbst an dem, was sie Fleischtöpfe nennen und versuchen, Rechtsstaatlichkeit und Medienfreiheit einzuschränken und auszuschalten. Womit sie natürlich erst recht die Voraussetzung für Korruption und Skandale schaffen. Das ist an Ironie kaum zu überbieten.

Wenn nun die Aufdeckung von Skandalen nicht dazu führt, dass Konsequenzen gezogen werden, können Sie dann den Verdruss gegenüber Politik und Parteien nachvollziehen?

Ja. Eine radikale Kritik an bestehenden Zuständen ist selbstverständlich legitim und in vielen Fällen auch angemessen. Entscheidend ist aber die Frage, ob der Verdruss dazu führt, dass ich mich von den grundlegenden Ideen der Demokratie und vor allen Dingen der Rechtsstaatlichkeit entferne. Oder ob ich sie in ihrer konkreten Ausformung und ihre Schwächen hart angehen muss. Sich von den Grundlagen einer freiheitlichen Gesellschaft abzuwenden, macht dabei aber nichts besser. Um es mit Churchill zu sagen: Die Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen, außer allen anderen, die wir ausprobiert haben. Nur noch gut die Hälfte der jungen Europäer ist überzeugt, dass es sich bei der Demokratie um die beste Staatsform handelt. Da haben wir ein echtes Problem, das mit Geschichtsvergessenheit zu tun hat.

Was glauben Sie, wie sich das entwickelt mit dem Erstarken der Demokratiefeinde? Entzündet sich das? Oder ist es womöglich eine Gelegenheit, latente Konflikte anzugehen?

Mannheim, nichts als Mannheim

Peter Kurz (54) ist seit knapp 35 Jahren kommunalpolitisch in Mannheim aktiv. Zunächst als Bezirksbeirat, anschließend als Stadtrat und später Fraktionsvorsitzender der SPD. 1994 wurde er Richter am Verwaltungsgericht Karlsruhe, fünf Jahre danach Mannheimer Bildungsbürgermeister. Seit 2007 ist er Oberbürgermeister der Stadt. Er kandidierte nie für ein Parlament. (min)

Das lässt sich nicht einfach prognostizieren. Die Bedingung dafür, dass eine freie Gesellschaft gestärkt aus dieser Krise hervorgeht und den Populismus abwehrt, sind Wertschätzung und Bewusstseinsbildung über die wesentlichen Merkmale, über die eine gesunde Demokratie verfügen muss. Das hat, auch in Deutschland, über die letzten Jahrzehnte kaum stattgefunden. Zu meiner Schulzeit gab es noch eine starke Auseinandersetzung mit dem Scheitern der Weimarer Republik, das war Teil der grundständigen Bildung. Auch warum unser Grundgesetz so ist, wie es ist, war selbstverständlicher Gegenstand im Unterricht und hat das politische Denken geprägt. Das ist verloren gegangen. Insgesamt ist die politische Bildung als zentrales Thema stark vernachlässigt worden, hier gibt es einen großen Mangel. Einem großen Teil der Gesellschaft fehlt die Kenntnis jeder verfassungsrechtlichen Grundlage.

Liegt das nur an der Bildungspolitik?

Vielleicht ist das auch zu einem gewissen Teil eine Bequemlichkeitsfolge, weil viele denken, sie müssten sich nicht kümmern und es sei im Grunde egal, wer regiert. Es ist ja auch eine ständige Erzählung, dass sich die Parteien kaum noch voneinander entscheiden. Und natürlich kann es sein, dass der Konsens zugenommen hat. Aber in vielen, hochrelevanten Details – etwa beim Wohnungsbau, bei der Bildung oder der Gesellschaftspolitik – stimmt das eben überhaupt nicht. Die Annahme, es werde schon irgendwie alles auf das Gleiche hinauslaufen, hat zu einer erheblichen Denkfaulheit geführt. Hinzukommt, dass sich der ökonomische Druck auf Medien deutlich erhöht hat, wodurch ihre Durchdringung der Gesellschaft nachgelassen hat und sie insgesamt oberflächlicher geworden sind.

» Dass auch die Öffentlich-Rechtlichen in diesem Mainstream mitschwimmen, nährt Zweifel, inwiefern öffentliche Finanzierung tatsächlich einen Unterschied zu den aufmerksamkeitsgetriebenen Privaten macht.

Vom Journalismus heißt es, er sei das Geschäft der Zuspitzung, und wenn fast alle Printmedien an Auflage einbüßen, ist zumindest ökonomisch nicht verwunderlich, dass Aufmerksamkeit durch Aufreger gesucht wird.

Natürlich. Und wir brauchen hier Debatten, wie sich da gegensteuern lässt. Ich muss allerdings auch sagen, dass sich interessanterweise auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk zunehmend auf Zuspitzung einlässt, obwohl er diesen Mechanismen ja eigentlich entgegenstehen sollte. Natürlich gibt es hier, wie in der Presse, noch hintergründige und hochqualitative Formate. Aber gerade wenn man sich die Wochen vor der Wahl anschaut und insbesondere die Reaktionen auf die AfD, muss man ja sagen, entgegen der Zuschreibung, die Medien wären größtenteils distanziert zu dieser Partei, haben sie diese mit großgemacht. Ein Beispiel ist das Kanzlerduell. Mehr als 50 Prozent der Zeit wurde da über Flüchtlinge diskutiert – und es gab keine einzige Frage aus einem humanistischen Blickwinkel. Sondern nur aus der Perspektive der sogenannten besorgten Bürger. Dass hier auch die Öffentlich-Rechtlichen ohne Korrekturfilter in diesem Mainstream mitschwimmen, nährt natürlich Zweifel, inwiefern öffentliche Finanzierung hier tatsächlich einen Unterschied zu den aufmerksamkeitsgetriebenen Privaten macht.

Waren Berichterstattung und Nachrichtenkonsum früher wirklich anders und besser?

Ja. Ich kann mich noch gut erinnern an das konstruktive Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt und an die damalige Parlamentsdebatte. Da hatte ich gerade mein Abitur gemacht und die haben wir in meiner Generation – und die älteren sowieso – alle gehört. Und zwar nicht gefiltert und verkürzt. Erhebliche Teile der Bevölkerung haben sich angehört, was die Politiker im Bundestag zu sagen hatten. Zueinander, übereinander. Das war ein historischer Moment und es gab ein allgemeines Bewusstsein darüber, das ist jetzt eine Weichenstellung. Diese Wahrnehmung musste sich gar nicht konzentriert vermitteln über Kommentare oder die Tagesschau. Man hat tatsächlich sich die Zeit genommen, das im Original zu verfolgen und drei, vier Stunden die Debatte angehört. Aus den vergangenen 20 Jahren fällt mir da nichts ein, wo ich sagen würde, das ist vergleichbar hinsichtlich dieser gemeinschaftlichen Wahrnehmung und hat nichts mit den ständigen Echokammern zu tun.

Der Populismus braucht Unzufriedenheit als Nährboden. Die These ist naheliegend, dass mit wachsender Ungleichheit soziale Spannung zunimmt. In Deutschland konzentriert sich Vermögen seit Jahren zunehmend auf kleinere Kreise und Regierungsparteien haben in den verschiedensten Koalitionen effektiv nichts dagegen unternommen. Ist es da an der Zeit für die SPD, entschiedener für Umverteilung einzutreten?

Natürlich ist große Unzufriedenheit ein Sprengsatz, auch für die allgemeine Lebensqualität in einem Land. In der Glücksforschung, die untersucht, wie wohl wir uns in einer Gesellschaft fühlen und wie zufrieden wir sind, schneiden finanziell egalitärere Gesellschaften deutlich besser ab als ungleiche. Etwa die skandinavischen Staaten. Ob die Formel aber ganz so einfach ist, dass ich mit einem höheren Maß an Gleichheit automatisch auch den Rechtspopulismus reduziere, muss man im europäischen Maßstab allerdings bezweifeln, denn der ist auch dort ausgeprägt und prozentual ähnlich wie bei uns anzusiedeln. Es gibt also noch andere soziale Faktoren jenseits der ökonomischen Ungleichheit, die Rechtspopulismus befördern, die sicherlich etwas mit Ideen einer angeblichen kulturellen oder ethnischen Homogenität einer Gemeinschaft zu tun haben. Die nicht etwas mit Abstiegsängsten zu tun haben, sondern mit Veränderungsängsten. Was nicht heißen soll, dass die SPD sich nicht für einen skandinavischeren Weg einsetzen sollte, weil er für eine Gesellschaft tatsächlich der bessere Weg ist. Das ist auf den Rechtspopulismus eine Antwort, aber nicht die alleinige.

» Die SPD hat unter kurzfristigen, taktischen Aspekten auf die Vision verzichtet, weil man eher demoskopischen Empfehlungen geglaubt hat.

Die Labour-Partei hat mit Corbyn und einem Linksruck 40 Prozent erreicht, kann die SPD daraus Handlungsaufträge ziehen?

Wenn Sie Corbyn und Macron nebeneinander stellen, haben Sie im europäischen Vergleich zwei ganz unterschiedliche Konzepte, die bei Wahlen jeweils sehr großen Zuspruch in der Bevölkerung erhalten haben. Auch Sahra Wagenknecht legt ja der SPD nahe: Wenn ihr euch glaubwürdig auf eine Linie der harten Konzentration auf soziale Gerechtigkeit einschränkt, dann sind auch die linken Mehrheiten wieder da. Das halte ich für eine Banalisierung. Das heißt nicht, dass wir in der SPD das Thema der sozialen Ungleichheit nicht deutlicher und ambitionierter fokussieren müssen. Ich glaube aber, nur Verteilungsfragen zu formulieren, reicht nicht. Ohne eine gesamtgesellschaftliche Vision, die daneben noch ein Mehr enthält, wird es keine Mehrheitsbildung geben.

Was heißt das konkret?

Der Labour-Partei ist es zum Beispiel gelungen, auch diejenigen anzusprechen, die sich kulturell ein anderes Großbritannien wünschen, als es Theresa May verkörpert. Und insofern geht es auch um Fragen des Lebensgefühls und einer veränderten Kultur, die eine Partei verkörpern muss, wenn sie Regierungen anführen will. Und da hat die SPD im Moment ein sehr unklares Bild. Im Augenblick haben wir kein lebensweltliches und kulturelles Angebot, bei dem vielleicht 35 oder 40 Prozent sagen können: Damit kann ich mich identifizieren. Und es ist eine offene Frage, ob uns das wieder gelingt. Um es mal hart zu formulieren, ist ja ein Teil der sozialen Gerechtigkeitsrhetorik nur eine Negativ-Abgrenzung davon, dass man eine Politik wie unter Gerhard Schröder nicht wiederholen will. Das ist nur ein "So nicht", aber keine Vision.

Wie könnte die denn aussehen?

Zum Beispiel ein Europa mit einer Dezentralisierung unterhalb der Nationalstaaten auf der einen Seite und auf der anderen mit einer Stärkung der Integration auf der europäischen Ebene: für mehr Solidarität, Egalität und Harmonisierung, was Wirtschafts- und Sozialpolitik angeht und auch bei Steuerfragen. Das wäre die Richtung, die eine Ausstrahlung schaffen kann, mit der Mehrheiten möglich sind. Und ansatzweise war das auch zu verspüren am Anfang des Jahres. Martin Schulz hätte das gut verkörpern können. Das hat die SPD am Anfang zwar angedeutet, aber dann nicht mehr weiterverfolgt und damit eben außer dem kaum konkret ausgefüllten Begriff der sozialen Gerechtigkeit nichts angeboten. Die Partei hat unter kurzfristigen, taktischen Aspekten überlegt, dass die Wähler die Forderung nach mehr internationaler Solidarität eher als Angriff auf sich selbst empfinden. Man hat auf die Vision verzichtet, weil man eher demoskopischen Empfehlungen geglaubt hat. Das Wesen der Politik ist – oder sollte wieder sein – eben gerade nicht, den angeblichen "Volkswillen" zu exekutieren, sondern ein visionäres Angebot zu machen und damit um Mehrheiten zu ringen. Das ist auch der verfassungsgemäße Auftrag an die Parteien: An der politischen Willensbildung mitzuwirken. Und insofern geht es bei der Bekämpfung des Populismus vielleicht nicht nur um bessere politische Bildung, sondern auch um die Parteien, die sich wieder an diesen, ihren eigenen Auftrag erinnern müssen. 


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9 Kommentare verfügbar

  • Schwa be
    am 14.10.2017
    Antworten
    Im Grunde wünsche ich mir das Kontext solche Interviews kritisiert statt führt.
    An den ersten Antworten lässt sich schön ablesen wie bürgerliche ticken. Nur sie (hier Kurz) wissen wie Demokratie und Rechtsstaat funktionieren. Kritik ja, aber bitte schön nach den von ihnen beschriebenen Regeln. Wer…
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