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Wichtiger Wohlfahrtsstaat

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Eine klare Ansage an die unverbesserlichen "Leistung muss sich wieder lohnen"-Prediger: Das Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) hat ermittelt, wie stark die Gesellschaft jahrzehntelang vom Sozialstaat profitierte. Auch wenn wiedererstarkende Neoliberale das Gegenteil verbreiten.

"Ich rate zu ideologischer Abrüstung", erklärte FDP-Bundeschef Christian Lindner nach dem Wahlerfolg seiner Partei in Nordrhein-Westfalen. Natürlich gilt die Empfehlung anderen. Denn für sich selbst haben die Liberalen ihre alten Sprüche von vorgestern recycelt, stilisieren sich zu Rettern der Republik ("Jetzt wieder verfügbar: Wirtschaftspolitik") und ihr Spitzenkandidat streicht das Thema Umverteilung ausdrücklich aus dem Katalog der Zukunftsaufgaben.

Die vom ZEW in "Wohlstand für alle" zusammengetragen Fakten sprechen eine ganz andere Sprache. Sie belegen, wie notwendig es für eine tragfähige Soziale Marktwirtschaft ist, "möglichst viele Menschen an den Wohlstandsgewinnen in Zukunft teilhaben zu lassen". Mehr noch: Gerade weil die Verteilung der Einkommen und die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinandergeht, schreibt die Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung "wohlfahrtsstaatlichen Instrumenten" eine "wichtige stabilisierende Wirkung" zu.

Lindner und die Seinen und vor allem eine wieder massiv angewachsene Zahl gerade junger AnhängerInnen glauben an Mechanismen, die schon unter Guido Westerwelle nicht funktioniert haben. Nicht unter Wolfgang Gerhardt, Klaus Kinkel oder Otto Graf Lambsdorff. Ausgerechnet mit dem Abschied von der sozialliberalen Koalition in der ersten Hälfte der Achtzigerjahre beginnt jene Entwicklung, die bis heute anhält und nur durch Umverteilung abgemildert wird: Die Einkommensverteilung verändert sich stetig zu Gunsten Besserverdienender, ohne ernsthaft die Leistung von Krankenschwestern, Busfahrern oder ErzieherInnen in den Blick zu nehmen.

"Insgesamt sank der Anteil der Mittelklasse an den verfügbaren Haushaltseinkommen zwischen 1982 und 2014 von 81 auf 73 Prozent", schreiben die Autoren der Studie. Und vor allem treibt die Spaltung in Nimmersatte und Habenichtse kaum zu glaubende Blüten: Nach den ZEW-Zahlen verfügen die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung über 52 Prozent des deutschen Gesamtvermögens (1993 waren es knapp 45 Prozent), während die ärmere Hälfte samt Otto Normalverbraucher mit einem einzigen Prozent (1993 waren es vier) zufrieden sein muss. Der Rest verteilt sich – in rasant steigender Kurve – auf die gehobene Mittelschicht, wohlhabende, noch wohlhabendere und reiche Menschen.

Einst wollte die CDU viele "besitzende Eigentümer"

Die Mannheimer Ökonomen haben die wirtschaftliche Entfaltung der Bundesrepublik seit 1949 untersucht. In ihren Düsseldorfer Leitsätzen sofort nach Ende des Zweiten Weltkriegs hatte die CDU noch als erstrebenswert erachtet, dass in der sozialen Marktwirtschaft durch eine "soziale Verteilung der wirtschaftlichen Erträge und eine soziale Gesetzgebung (…) aus den vermögenslosen Schichten unseres Volkes in großem Umfang besitzende Eigentümer" gemacht werden sollten. Als Ziel wurde die "breite Streuung" des vorhandenen Volksvermögens genannt.

In den Erfolgsjahren zwischen 1950 und 1966, mit dem nie wieder erreichten Wirtschaftswachstum von durchschnittlich fast sieben Prozent per anno, geriet diese vergleichsweise radikale Forderung nach Umverteilung allerdings völlig aus dem Blick. Neben der marktwirtschaftlichen Ordnungspolitik sei eine auf sozialen Ausgleich ausgerichtete Sozialpolitik kennzeichnend gewesen, urteilt die Studie. Ein großer Schritt ist dabei die Rentenreform 1957 gewesen, die die kapitalgedeckte Rentenversicherung ablöste durch das bis heute bestehende umlagefinanzierte und dynamische Modell, nicht als Zuschuss zum Leben im Alter, sondern als Lohnersatz.

In drei Phasen wird die Entwicklung der Sozialen Marktwirtschaft in der Republik eingeteilt. Nach den Wirtschaftswunderjahren folgt die sozialliberale nachfrageorientierte Ära mit dem Ziel der ausgeglichenen Handelsbilanz – von wegen Exportweltmeister ­– und der Einführung von Sozial- und Arbeitslosenversicherung: "Grundsätzlich sollte den Empfängern durch die verschiedenen Systeme der sozialen Sicherung eine menschenwürdige Lebensführung auf dem sozialkulturellen Mindestniveau der Gesellschaft ermöglicht werden". Der "Paradigmenwechsel" durch Union und FDP hin zur Angebotsorientierung schließt sich an. In allen drei Phasen erreichte der Wohlfahrtsstaat laut Studie "das gleiche Maß an Umverteilung". Trotzdem habe er ab Mitte der 1980er Jahre "dem Anstieg der Ungleichheit" bei den verfügbaren Haushaltseinkommen keinen Einhalt gebieten können. Das war die Zeit, in der der Neoliberalismus sich zu seinem Siegeszug rund um den Globus aufmachte, mit seinem unerfüllt gebliebenen Versprechen, je besser es denen oben gehe, umso mehr hätten die unten davon.

Mit dem Neoliberalismus beginnt das Ungleichgewicht

Viele internationale Vergleiche zeigen Gegenstrategien vor allem im Kleingedruckten. So werden etwa in den alljährlich von der OECD veröffentlichten "Taxing Wages" Einkommenssteuer und Sozialabgaben getrennt in Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteil dargestellt. Per Saldo ist die Bundesrepublik bei der Steuer- und Abgabenquote regelmäßig Spitzenreiter mit Werten knapp unter 50 Prozent, bedingt durch hohe Steuersätze und viele Beschäftigte mit Löhnen deutlich oberhalb des Durchschnitts. "Steigen die Einkommen darüber, geht die relative Belastung allerdings wieder zurück", heißt es im aktuellen Zahlenvergleich, weil ein Berechnungsdeckel eingezogen sei. Und weiter: "Deutschland ist im internationalen Vergleich kein Hochsteuerland, allerdings sind die Sozialabgaben hierzulande weit höher als in anderen wohlhabenden Volkswirtschaften."

In anderen Ländern, zum Beispiel in Italien oder Schweden, zahlen Arbeitgeber deutlich mehr in jene Töpfe ein, aus denen sich der Wohlfahrtsstaat finanziert. Ein Vergleich: Die Gesamtabgabenlast in Frankreich liegt nur einige Zehntelprozent-Punkte unter jener in der Bundesrepublik. Werden allein die Arbeitnehmer betrachtet, verändert sich das Bild, denn hierzulande zahlen sie knapp 40 Prozent ihres Bruttolohns, jenseits des Rhein aber nur 28 Prozent. Was ein anderer gefeierter Neoliberaler, Präsident Emmanuel Macron, bekanntlich gerade ändern will.

Lindner gibt den Kümmerer in schwarz-weiß, nimmt die in den Blick, die angeblich nicht zusätzlich privat für ihr Alter vorsorgen können, der Sozialabgaben und Steuern wegen, und mit deren Geld "die letzten Lücken des Wohlfahrtsstaat gestopft werden" sollen. Andere gehen noch viel weiter. Heike Göbel, früher "Stuttgarter Nachrichten", inzwischen seit vielen Jahren bei der FAZ mit Schwerpunkt Wirtschaftsordnung, hat sich in einer Gastvorlesung in Erfurt zum Thema "Liberale und der Wohlfahrtsstaat – eine schwierige Beziehung" als Systemkritikerin geoutet: Mittlerweile würden 888 Milliarden Euro umverteilt. In den vergangenen fünf Jahren seien die Sozialausgaben trotz guter Konjunktur und stark sinkender Arbeitslosigkeit wieder stärker als das Wirtschaftswachstum. Die Quote kratze seit geraumer Zeit knapp unter der 30 Prozent-Schwelle und "wollte man die halten, dürfte sich der Ausbau der Leistungen nur noch im Gleichschritt mit dem Wirtschaftswachstum vollziehen".

Von wegen ideologische Abrüstung

Was sich noch einigermaßen vernünftig liest, bekommt Sprengkraft angesichts der Bandbreite von politischen Entscheidungen, die die Volkswirtschaftlerin unter der Überschrift "Sozialstaat" aufgeführt wissen will: den Mindestlohn und die Mietpreisbremse, die gesetzlichen Ansprüche auf Teilzeit samt Rückkehrrecht in Vollzeit, die Beschränkung von Zeitarbeit, die "staatlich subventionierte Kinderbetreuung samt gesetzlichem Anspruch auf einen Kita-Platz" oder das Lohngerechtigkeitsgesetz, das Unternehmen dazu bringen soll, etwaige geschlechtsspezifische Unterschiede in der Bezahlung abzubauen". Von wegen ideologische Abrüstung.

Dem stellt das ZEW eigene Zahlen gegenüber auf Basis der jährlichen Befragung von 12 000 Haushalten und einer Reihe von externen Faktoren wie Geschlecht, Bildungsabschluss, Job der Eltern, Wohnort oder Herkunft. Trotz des Beschäftigungsbooms seit Mitte der vergangenen Jahrzehnte hat sich danach die Armutsrisikoquote zwischen 1962 und 2015 von 9,8 Prozent auf 15,4 Prozent erhöht und ist damit so hoch wie noch nie im Nachkriegsdeutschland. Armut ist mitten in der arbeitenden Bevölkerung angekommen. In den Wirtschaftswunderjahren waren, trotz der damals neuen Rentengesetzgebung, alleinstehende Rentner von Armut bedroht. Heute sind es Alleinstehende, vor allem Frauen, schon im erwerbstätigen Alter.

Nach dem FDP-Weltbild müssen die sich gefälligst selbst am Schopf packen und aus dem Schlamassel ziehen. Denn wie sagt Hans-Werner Sinn, der Übervater aller Verächter eines starken Wohlfahrtstaats: "Einkommen hängen in der Marktwirtschaft von der Knappheit der Leistung ab, nicht von der Mühe oder Nützlichkeit für die Gesellschaft." Gut möglich, dass Christian Lindners FDP nach dem 24. September Gelegenheit bekommt, in genau diesem Geiste mitzuregieren. Seine Sprüche jedenfalls haben sich in Netz schon mal satirisch verselbständigt: "Ein neues Design ändert alles: Aber wann ändert sich endlich die FDP?"


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5 Kommentare verfügbar

  • Rolf Steiner
    am 09.09.2017
    Antworten
    "Alter Schleim in neuen Schläuchen" - so treffend kommentiert wurde FDP-Lindners Partei- und Wahlprogramm in der gestrigen "Heute-Show". Wie glücklich waren viele vor 4 Jahren, dass der FDP-Westerwelle abgewählt wurde, jetzt versucht sich Stehauf-Männchen Lindner erneut zu profilieren. Merke: ein…
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