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Das Sanduhr-Konzept

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Eine gestandene Gewerkschafterin, eine bestens vernetzte Generalsekretärin, neue Gesichter und starker Rückenwind aus Berlin – noch im Frühjahr schienen die Weichen gestellt, dass auch die nicht gerade erfolgsverwöhnte Südwest-SPD zu einem Erfolg bei der Bundestagswahl im September hätte beitragen können. Hätte, hätte, Fahrradkette.

Leni Breymaier ist unterwegs in ihrem Wahlkreis. Radeln dafür, dass sich am Ende doch noch ihre kühne These von der "Merkel-Müdigkeit" bestätigt. Es gibt doch noch so viele Unentschlossene! Die frühere Verdi-Bezirksleiterin, heute Chefin der Landes-SPD und auch deren Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl, kennt keine Scheu vor roten Hüten und roten Rikschas und nicht einmal vor roten Plastikeimern, um Aufmerksamkeit zu erregen. Wenn sie sich niederlässt auf Plätzen zwischen Konstanz, Lahr und Wasseralfingen, will sie mit möglichst vielen Leuten ins Gespräch kommen. Drei Sanduhren sind immer dabei. Die "3-1-2-Aktion" – drei Minuten Bürgern zuhören, eine Minute antworten und anschließend zwei Minuten diskutieren – hat ihr bundesweite Aufmerksamkeit gebracht. Und jüngst im Netz sogar das Prädikat, zu einem elitären Quartett von nur vier (!) GenossInnen bundesweit zu zählen, das sich wirklich um Kontakt zu Mann und Frau auf der Straße bemühe. Eine andere ist übrigens die SPD-Linke Hilde Mattheis aus Ulm.

Gerade im Südwesten scheinen vor allem die Genossinnen die Flinte nicht vor der Schließung der Wahllokale am 24. September um 18 Uhr ins Korn werfen zu wollen. Jasmina Hostert, die in Sarajevo geborene Böblingerin, der Breymaier gerne eine noch größere Rolle im Landesverband zugeschrieben hätte, sucht zwei Mal in der Woche sogar auf der Fahrt in der S-Bahn nach Stuttgart für ihre SPD den direkten Kontakt zu Überzeugten und Zuüberzeugenden. Die mehrsprachige Politikwissenschaftlerin und Mutter einer fünfjährigen Tochter muss auf ein richtig gutes Ergebnis für ihre Partei hoffen – sonst wird sie angesichts von Platz 25 auf der Landesliste den Bundestag nur als Besucherin von innen sehen. Sie will "authentisch sein, glaubwürdig und keine Dinge versprechen, die nicht zu halten sind". In der Dieselkrise kann sie einschlägige Fragen zum eigenen Lebensstil und der Pkw-Nutzung schnell beantworten: Sie besitzt gar kein Auto.

Eines ist allen gemeinsam, Genossen wie Genossinnen: Für die Umfragemalaise haben sie keine Erklärung, gerade in Baden-Württemberg. Die Spitzenkandidatin passt zum Themenschwerpunkt Gerechtigkeit, um den sich alles andere ranken soll, und sie ist medial präsent, sogar zur Primetime bundesweit. Der Landesverband kann auf 12 000 Facebook-Likes zählen, mehr als die baden-württembergische CDU und die Grünen oder die FDP ohnehin. 1800 vor allem junge Mitglieder konnten seit Jahresbeginn gewonnen werden. Aber der Funke will nicht überspringen. Nach den Analysen der politischen Stimmung gut vier Wochen vor dem Urnengang droht zwischen Main und Bodensee sogar die Gefahr, die desaströsen 19,3 Prozent von 2009 zu unterbieten.

Sie lasse sich auf keinen Fall entmutigen, sagte Hostert letzthin in einem Zeitungsinterview. Luisa Boos, die netzaffine Generalsekretärin, twittert und postet, legt sich mit der AfD-Bundesvorsitzenden Frauke Petry an, weil die auf einem Plakat mit ihrem erst wenige Monate alten Sohn wahlkämpft. "Unerträglich", urteilt Boos. Dahinter stecke "ein Bild von der Mutter, die zur 'Volkserhaltung' beiträgt". Die 32-Jährige ist in der analogen und in der digitalen Welt zu Hause, sie freut sich im Sigmaringer Gasthof Traube trotz Hochsommer über drei Dutzend BesucherInnen. Und erklärt munter die Smartphone-App, die beim Wahlkampf von Tür zu Tür helfen soll – speziell in ausgewählten Ortsteilen oder Straßenzügen, die nicht zu ohnehin arg geschrumpften SPD-Kerngebieten gezählt werden.

Nach einer Umfrage unter WahlhelferInnen bezeichneten sich noch im Juli bei solchen Hausbesuchen rund 60 Prozent der Angetroffenen als unentschlossen. Grundsätzlich geht die Demoskopie bundesweit von rund einem Fünftel unentschlossener WählerInnen aus. Seit Monaten ist dieser Wert stabil. Selbst aus dem Kreis der bewährten TV-Politik-Analysten werden Stimmen laut, die die Bundestagswahl als längst nicht entschieden einstufen. "Problemlagen", sagt zum Beispiel der Duisburger Professors Karl-Rudolf Korte dieser Tage, "können sich sehr schnell ändern." Allerdings müsse eine Offensive der SPD mit einem klaren Gestaltungsziel verbunden sein.

Mit "Hätte, hätte, Fahrradkette" ist der letzte gescheiterte SPD-Spitzenkandidat Peer Steinbrück in die Geschichte eingegangen. Hinter den Kulissen jammern inzwischen viele im rot-rot-grünen Lager, dass die SPD "als gefühlte Kanzlerpartei", wie eine Spitzengrüne sagt, das Gestaltungsziel nicht aus den Händen hätte geben dürfen. Die noch im Frühjahr in vielen Gesprächsrunden ausgelotete Machtoption ist geschmolzen wie Schnee in der Sonne. Manche Parteistrategen im Südwesten meinen sogar, durch offenen Konflikt punkten und die SPD so wenigstens über die 20-Prozent-Hürde lupfen zu können. Was aber auch nicht viel mehr als ein Trostpflaster wäre.

Zuletzt vergriff sich im steten Bemühen ausgerechnet der frühere Kultusminister Andreas Stoch im Ton. Der Heidenheimer ist inzwischen Chef der Landtagsfraktion und hatte die famose Idee eines Vergleichs ("Wenn Sie in Biologie aufgepasst haben ...") zwischen grünen AbgeordnetenkollegInnen und Parasiten. Die nämlich, so wusste es der Jurist – sicher zum Dank dafür, dass ihn Kretschmann nach der SPD-Pleite im Frühjahr 2016 als "besten Kultusminister" in der Landesgeschichte gepriesen hatte –, die würden alles tun, um denselben Winfried Kretschmann "so lange wie möglich am politischen Leben zu halten", im Wissen, dass ihr Wohl und Wehe vom Regierungschef abhängt. Die Grünen, besonders Landeschef Oliver Hildenbrand und der Fraktionsvorsitzende Andreas Schwarz, schäumten.

SPD-Mann Stoch wird schwach und die CDU bleibt männlich

Der unhöfliche Vergleich ist das eine; Stoch ließ aber gleich noch einen Blick auf seine wahre Gefühlslage zu. Auf die Frage der "Schwäbischen Zeitung", ob er sich vorstellen könne, im Laufe der Legislaturperiode gemeinsame Sache zu machen mit CDU und FDP, reagierte er nicht mit Abscheu und Entsetzen, sondern mit dem Bekenntnis, "an manchen Tagen schon schwach" zu werden. Und zwar dann, wenn die Grünen sich "nur noch als grün lackierte CDU" präsentierten.

So schnell kann sich das Bild vom Koalitionspartner ändern, wenn der keiner mehr ist: Früher der natürliche Partner, ist Grün heute ein rotes Tuch. Auch deshalb zeichnet sich ab, dass die Schwarzen alle 38 Bundestagswahlkreise im Land gewinnen werden. Dass nur drei CDU-Frauen ins Parlament kommen werden – Annette Widmann-Mauz, Karin Maag und Ronja Kemmer –, wollen die SPD-Frauen anprangern als Schieflage. Von männlichen Parteifreunden erhalten sie dafür wenig Unterstützung. Und alle grün-roten Absprachen aus der Vergangenheit können heutzutage nicht mehr funktionieren, weil nicht klar ist, in welcher Rolle und Regierung – oder Opposition – sich durch Erststimmen unterstützte KandidatInnen wiederfinden. Cem Özdemir beispielsweise kann in Stuttgart logischerweise nicht mehr auf eine Empfehlung der Sozialdemokratin Ute Vogt zählen.

Es ging schon mal anders: 1998 und dank einer klaren Koalitionsaussage luchste die SPD der verdatterten Südwest-CDU ein gutes Dutzend Direktmandate ab. Heute hätten Grüne wie Özdemir oder Kerstin Andreae in Freiburg beste Chancen, gäbe es noch einen rot-grünen Schulterschluss gegen die Union.

Gibt es aber nicht. Also twittert Luisa Boos emsig weiter ("Wir sind Familien! Kinder fördern statt Trauscheine. So schwer ist das nicht"), Hilde Mattheis wirbt für die Bürgerversicherung, Jasmina Hostert darf sich über positive Reaktionen auf ihre S-Bahn-Termine freuen ("Wir brauchen mehr solche Politiker") und Leni Breymaier radelt um Prozente, sozusagen. Und ihr Sanduhr-Konzept ist irgendwie typisch für den Wahlkampf. Es funktioniert und funktioniert auch nicht. Denn der gelbe, der grüne und der blaue Sand rieseln nicht selten an der Unterhaltung vorbei, die Zeitvorgaben drei, eine und zwei Minuten werden gerissen. Aber ins Gespräch mit Bürgern und Bürgerinnen kommt sie dennoch. Und das ist deutlich mehr als nichts.


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3 Kommentare verfügbar

  • Gustav Burger
    am 28.08.2017
    Antworten
    Solange die SPD keine Themen aus dem Leben hat und nur die Linie der Ökofuzzies vertritt wird sie keinen Anklang beim Wähler finden.
    Mit Elektroauto, Energiewende und unrealistischen Umweltforderungen kann man keine Zustimmung erreichen.
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