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Alles muss raus

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Ab 2019 müssen Bahnreisende in Stuttgart auf zahlreiche Versorgungsmöglichkeiten verzichten, wahrscheinlich auch auf eine Toilette. Denn dann beginnt, Stuttgart 21 sei Dank, der Umbau des Bahnhofs zu einem Vier-Sterne-Hotel.

Nein, sie weiß nicht, wie es ab 2019 weitergeht, sagt die Verkäuferin im "Press & Books"-Laden im Stuttgarter Hauptbahnhof. Sie hat auf Ende 2018 eine Kündigung erhalten. Sie wüsste selber gern, was dann passiert. Aber es habe auch keinen Zweck, bei ihrem Arbeitgeber nachzufragen, denn der wisse auch nicht mehr.

Der Laden befindet sich im Besitz der Valora Holding GmbH, nach eigener Auskunft "Spezialist für tagesaktuelles Infotainment" und mit 170 Läden Marktführer im deutschen Bahnhofs- und Flughafenbuchhandel. Valora hat die Buch- und Zeitschriftenläden 2009 von Wittwer übernommen und betreibt heute in der großen Kopfbahnsteighalle zwei Läden: "Press & Books" ist eher der Buchladen, der aber auch Tabakwaren und Süßigkeiten verkauft, während "Presse + Buch" ein breites Sortiment an Zeitschriften bietet, wie es in Stuttgart wahrscheinlich kein zweites Mal zu finden ist.

Sämtlichen Läden und Restaurants im Stuttgarter Hauptbahnhof hat die Deutsche Bahn gekündigt. Ende 2018 müssen sie alle raus. Denn dann soll der Umbau zentraler Teile des Bahnhofs zu einem Vier-Sterne-Hotel beginnen, der bis 2021 dauern soll. Die Kette "Me and all Hotels" hat den Zuschlag erhalten, eine erst seit zwei Jahren bestehende Zweitmarke der Lindner Hotels, an der seit April das Family Office von Clemens Tönnies und die Hildesheimer Hanseatic Group beteiligt sind.

Finanziell lohnt sich ein Hotel – besonders für die Bahn

Warum überhaupt ein neues Hotel? Es gibt doch bereits eines im Bahnhof, und Stuttgart hat Hotelzimmer genug. 153 Betten soll das neue Hotel haben und vier Sterne. Drei Sterne und 148 Betten hat das bestehende Intercity-Hotel. Selbst wenn es bestehen bliebe: Der Kuchen ist groß genug, dass sich auch einer mehr noch ein Stück abschneiden kann – die Stücke werden dabei natürlich ein bisschen kleiner. Doch in Zeiten der Niedrigzinspolitik können die Anleger ihr Geld kaum gewinnbringender investieren. Und die Bahn kann aus dem Bahnhofsgebäude noch ein bisschen mehr herauspressen.

Die Pläne für den Bau stammen, wie alles am Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs im Zusammenhang von Stuttgart 21, vom Düsseldorfer Architekten Christoph Ingenhoven. Im Prinzip ist alles längst beschlossen, und auch die Tatsache, dass im Zuge der Bahnhofstieferlegung der funktionslos werdende Bonatzbau entkernt und mit neuen Nutzungen gefüllt werden soll, ist keineswegs neu. Doch erst jetzt, wo der Umbau näher rückt, reibt sich manch einer verwundert die Augen. Die Pläne sind im September 2015 und erneut im März 2016, nach der 16. und 17. Planänderung, im Umwelt- und Technikausschuss (UTA) in öffentlicher Sitzung vorgestellt worden. Niemand hat protestiert, auch die Fraktion SÖS-Linke-Plus nicht, wie ihr Vorsitzender Hannes Rockenbauch selbstkritisch anmerkt. Eine Abstimmung gab es nicht. Am Ende ist jeweils im Protokoll vermerkt, dass der Ausschuss die Pläne zur Kenntnis genommen habe.

Allerdings fragt sich schon, wie genau die Gemeinderäte informiert wurden. In der 17. Planänderung ist eine Aufstockung des Hotels vorgesehen. In der zugehörigen Präsentation, die den Ausschussmitgliedern am 8. März 2016 gezeigt wurde, stammt jedoch der Querschnitt – die einzige Planzeichnung, die in diesem Fall relevante Aussagen erlaubt – bereits aus dem Jahr 2013. "17. Planänderung" steht auf einer Folie, darunter "Stand 15.05.2015". Warum wurde dann der UTA erst am 8. März 2016 über die Planänderung unterrichtet, wo er doch schon am 22. September 2015 zum selben Thema getagt hat?

Noch im Nebel: Aussehen und Außenwirkung des Hotels

Wie soll das geplante Hotel aussehen, wie wird es den jetzigen Charakter des Bonatzbaus verändern? Gar nicht so leicht zu sagen. In beiden Ausschuss-Präsentationen ist das Hotel zumindest gleich hoch, es befindet sich im Wesentlichen auf der dritten und vierten Etage des Bereichs zwischen den beiden Schalterhallen, hinter der großen Pfeilerhalle und vor der Kopfbahnsteighalle, und tritt somit nach außen hin kaum in Erscheinung. Unten, wo sich einmal die Gepäckaufgabe befand – ein Service, auf den Bahnkunden heute verzichten müssen – soll künftig Gastronomie und Reisendenbedarf Platz finden. Ebenso in der ersten Etage, also auf der Höhe der Kopfbahnsteighalle, jedenfalls nach dem Querschnitt zu urteilen. Der Grundriss fehlt in der Präsentation. Die Mitteltreppe soll weg, da die Reisenden künftig nach unten müssen und nicht mehr nach oben, nur zwei kleine Treppenläufe am Rand bleiben. Im zweiten Obergeschoss sind ein Konferenzbereich und das Hotelrestaurant vorgesehen, zur Straße hin auch Hotelzimmer.

Die beiden oberen Etagen reichen über die mittlere Halle hinweg und sind von allen angrenzenden Gebäudeteilen um vielleicht fünf bis sechs Meter zurückgesetzt. Dies gehört wohl zu den im Protokoll vermerkten Veränderungen, die "in Absprache mit dem Denkmalschutz getroffen worden seien." Denn nur so ist gewährleistet, dass noch Licht in die halbrunden Thermenfenster der Kopfbahnsteighalle und in die Seitenfenster der beiden Schalterhallen fällt. Um diese Bedingung zu erfüllen, musste der Architekt allerdings keine großen Zugeständnisse machen, denn ohne diese Lücke zu den angrenzenden Bauteilen hätten auch die Hotelgäste auf Tageslicht verzichten müssen.

Vorn bleibt das Attikageschoss über den mächtigen Pfeilern nur als Blendmauer erhalten, hinter der, etwas zurückversetzt und etwas höher, der gläserne Baukörper des Hotels aufragt. Wird das Hotel vom Arnulf-Klett-Platz aus sichtbar sein? Den Plänen ist es aus zwei Gründen nicht zu entnehmen: Einmal weil unklar bleibt, ob sie den Zustand vor oder nach der 17. Planänderung darstellen; zum anderen, weil sie die Konturen des Hotels und des Bahnhofsgebäudes nicht in ein Verhältnis zum Bahnhofsvorplatz setzen.

Wundersame Verjüngung und Verkehrsberuhigung im Entwurf

In der Visualisierung von Ingenhoven ist nur bei sehr genauem Hinsehen eine schmale graue Linie oberhalb der Steinkante der Pfeilerhalle zu erkennen. Dafür erstrahlt die Bahnhofsfassade gegenüber dem vorigen Bild, das den Status quo illustriert, plötzlich in neuem Licht, so als beabsichtige der Architekt, die Kalkstein-Quader einer Verjüngungskur zu unterwerfen. Fußgänger schlendern sorglos über die Straße, ohne sich mit den wenigen Mercedes-Cabriolets in die Quere zu kommen, die weiterhin vierspurig über den Bahnhofsvorplatz rollen. Dafür ist der Omnibusverkehr verschwunden. Wohin, das bleibt Ingenhovens Geheimnis.

Wird also das gläserne Hotel, vor allem nachts, hinter der Pfeilerhalle hervorleuchten und damit das Hegel-Zitat überstrahlen, das der amerikanische Konzeptkünstler Joseph Kosuth 1993 dort angebracht hat? Welche Veränderungen tatsächlich "in Absprache mit dem Denkmalschutz" beschlossen wurden, will Peter Dübbers, der Enkel des Bahnhofsarchitekten Paul Bonatz wissen und hat daher mit Norbert Bongartz, dem früheren Oberkonservator und Sprecher des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21, um einen Termin beim Landesdenkmalamt gebeten. Natürlich ist der Bonatzbau ohnehin nur noch ein Torso, wie der Grünen-Stadtrat Jochen Stopper zu Recht anmerkt.

Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, wie von 2019 an die Versorgung der Reisenden funktionieren soll. Die Pressestelle des Bahnprojekts Stuttgart-Ulm verweist auf das Regionalbüro Kommunikation der Deutschen Bahn. Dort antwortet Werner Graf zunächst ganz nüchtern: "Wir haben in Stuttgart Hauptbahnhof am Querbahnsteig all die vorhandenen Flächen zur Verfügung gestellt, um in Verkaufspavillons den wichtigsten Reisebedarf für unsere Bahnkunden sicherzustellen (kleiner Supermarkt, Speisen und Getränke, Zeitschriftenladen)."

Ab 2019: sechs Versorgungs-Container für Reisende

Auf Nachfrage beweist Graf durchaus Humor. Natürlich sei der kleine Container am Gleis 16 nicht mit der "paradiesischen Buchhandlung" in der Bahnhofshalle vergleichbar, "die ich sehr schätze." Aber: "Es gibt sogar Zigarillos, das ist mir persönlich das Allerwichtigste." Am provisorischen Querbahnsteig, wo derzeit die Züge abfahren, stehe sogar "der kleinste Supermarkt Stuttgarts auf zwei Quadratmetern." Graf untertreibt ein wenig: In Wirklichkeit dürfte der Spar-Kiosk mindestens sechs Quadratmeter haben.

Es gibt, um genau zu sein, neben dem Spar-Kiosk, dem Presse + Buch-Container und der Bahnhofsmission noch vier weitere Boxen mit Brötchen und Fleischwurst. Damit muss genug sein. Bahnreisende aus Stuttgart können sich schon mal darauf gefasst machen, dass es ab 2019 im Bahnhof für mindestens zwei Jahre keinen Drogeriemarkt mehr gibt, keine Apotheke und natürlich keine so exquisiten kulinarischen Angebote wie vietnamesische Küche, Hähnchen vom Grill oder Fisch von der Nordsee.

Wer also schnell mal Pampers braucht oder Damenbinden oder gar Medikamente, muss sich dann rechtzeitig vorher versorgen oder genügend Zeit für einen Ausflug in die Innenstadt einplanen. Ziemlich einzigartig für eine Großstadt. So wie es im Moment aussieht, wird es auch keine Bahnhofstoilette mehr geben. Jedenfalls kann sich Graf kaum vorstellen, dass beim Umbau des gesamten Bahnhofsgebäudes das "Rail & fresh"-WC am Mittelausgang als einziges geöffnet bleibt.

Und was sagt die Stadtverwaltung dazu? "Keine Verwaltung kann da Zuständigkeit reklamieren", lautet die lapidare Antwort aus der Pressestelle. "Die Bahn plant und unterhält den Bahnhof mitsamt seinen Geschäften und Lokalen. Es ist ihr Geschäftsbereich."


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8 Kommentare verfügbar

  • Blender Blender
    am 20.07.2017
    Antworten
    Kein Gastwirt darf behördlicherseits eine Kneipe ohne Toiletten betreiben. Erstaunlich dass bei einem Bahnhof angeblich keine Verwaltung zuständig sein soll. Wenn Kot sich dann auf den Wegen häuft gibts dann das kleinste "Superklo" (neben dem kleinsten Supermakt) auf ebenfalls 6 qm. 1,5 qm Männer,…
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