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Wirtschaftsversteher misstraut Erfindergeist

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Winfried Kretschmann macht gerade ungewollt Furore mit einem Video, in dem der Ministerpräsident gegen die eigene Partei wettert. Im Netz bekommt der grüne Wutbürger viel Applaus. Fachleute hingegen wundern sich über seine Wissenslücken.

Der grüne Regierungschef zetert. Die eigene Partei will wieder einmal nicht wie er und hat per Parteitagsbeschluss dafür votiert, dass ab 2030 nur noch abgasfreie Neuwagen zugelassen werden. Laut Winfried Kretschmann ein Fehler – moderat ausgedrückt. Dass Politiker mit den Jahren ihre Alltagstauglichkeit einbüßen, ist keine Seltenheit. Der Stammplatz im Fond der Dienstkarosse verengt den Horizont, zumal in Verkehrssachen. Wirtschaftsminister Walter Döring (FDP) staunte 2004 nach seinem unfreiwilligen Abgang über die Höhe des Spritpreises, Finanzminister Gerhard Stratthaus (CDU) beging in Unkenntnis der Rechtslage nach einem Blechschaden Fahrerflucht durch Verlassen des Unfallorts. Heute glaubt Winfried Kretschmann, dass "an großen Tankstellen vielleicht Platz für zehn Autos ist". Schon lange nicht mehr selber getankt, jedenfalls nicht an einer wirklich großen Tankstelle mit Platz für Dutzende Ladesäulen, falls die im übernächsten Jahrzehnt überhaupt noch gebraucht werden.

Der heimliche Mitschnitt des Ausbruchs beim Grünen-Parteitag Mitte Juni in Berlin zeigt, dass sein harsches Nein zur Abkehr vom Verbrennungsmotor ab 2030 vorrangig auf einer fiktiven Rechenaufgabe fußt. Wenn bei fünf Millionen E-Autos die Batterien geladen werden sollen, verlangt das nach einer stattlich dimensionierten Infrastruktur. Irgendeine Autorität – zu vermuten steht: aus dem Lager konventioneller Autobauer – dürfte ihm geflüstert haben, dass das eine völlig illusionäre Vorstellung ist. "Ihr habt keine Ahnung", faucht Kretschmann in Berlin seinen Nachbarn an, den armen Nürtinger Bundestagsabgeordneten Matthias Gastel. Und weiter: "Wie soll denn das funktionieren?"

Kretschmanns Team hat Expertise – er selber weiß halt nichts davon

Da wäre er mal besser herabgestiegen vom Reitzenstein, dem Regierungssitz im Musterländle der Tüftler und Erfinder, zuerst zum Kernerplatz und danach in die Hauptstätter Straße oder umgekehrt, und hätte "meine", wie er gern sagt, Fachbeamten in den beiden federführend zuständigen Ressorts befragt. In Franz Unterstellers Umweltministerium zum Beispiel liegt eine 144 Seiten starke Studie zum "Ausbaubedarf der Verteilnetze in Baden-Württemberg" mit Prognosen bis 2030 und unter Berücksichtigung "neuer Lasten, wie Elektrofahrzeugen". Im Haus des Parteilinken Winne Hermann wiederum können Verkehrsexperten vergleichsweise leicht verständlich erläutern, was auf Basis des heute Möglichen in den nächsten Jahren realistischerweise zu erwarten ist und was das Land selber dafür tut, um die Entwicklung zu beschleunigen. 

Auch das Mannheimer IT-Beratungshaus Bridging IT könnte ihm rasch ein Licht aufsetzen, theoretisch wie praktisch. Die Entwicklungssprünge seien viel zu dynamisch, sagt einer der Experten, um Vorhersagen bis 2030 zu machen. Erwartet werden dürfe aber, dass sich schon in wenigen Jahren die Ladezeiten von 45 auf 15 Minuten verkürzen. In 25 Elektroautos haben MitarbeiterInnen zwei Millionen Kilometer zurückgelegt. An einer Tankstelle waren wenige. Es sei ein verbreiteter Denkfehler "von Verbrennungsfahrern", sagt einer von ihnen, dass zum Tanken oder Beladen grundsätzlich bestimmte Stationen angefahren werden müssten. HäuslebauerInnen und StellplatzmieterInnen könnten das grundsätzlich über Nacht und daheim erledigen.

Auf seinem USA-Trip 2015 hätte sich Kretschmann mit Jerry Brown intensiv über die Sinnhaftigkeit von Ge- und Verboten, von Zielvorgaben und Stichtagen austauschen können. Brown hielt die schon in seiner ersten Amtszeit als Gouverneur zwischen 1975 und 1983 für unvermeidlich. Oder darüber, wie das California Air Resources Board Mitte der 1960er Jahre erste Grenzwerte anpeilte und die ab 1970 gültigen Höchstwerte für den Ausstoß von Kohlenwasserstoffen und Stickoxiden überprüft wurden. Bereits Lothar Späth diskutierte mit der langjährigen CARB-Chefin Mary D. Nichols harte Vorgaben. Die Kalifornier schafften die Zehn-Prozent-Quote für E-Autos ab 2003 erst einmal nicht, und Späth packte – hasenfüßig – seine Idee vom Pflichtkatalysator für alle Neuwagen vorübergehend wieder ein; pikanterweise nach einem gemeinsamen Kanada-Urlaub mit Mercedes-Chef Werner Niefer.

Mit seinem ersten spektakulären Wahlsieg 2011 war Kretschmann in der Mitte der Gesellschaft gelandet, und er festigte diese ersehnte Position mit 30 Prozent und Platz eins im März 2016. Von dort will er vorerst nicht mehr weg. Das muss niemanden wundern, und verwerflich ist es ebenso wenig. Fragwürdig ist aber, wie regelmäßig er Ansichten vertritt, die den eigentlich unsinnigen Verdacht nähren, er sei in der CDU viel besser aufgehoben. So addieren sich alte Wunden, bei ihm selbst wie bei den Parteifreunden, die schwanken zwischen staunendem Stolz und Kopfschütteln über so viel konservativen Eigensinn. Unrepräsentative Umfragen zur eruptiven Gardinenpredigt im Netz fördern übrigens eine Zustimmung von mehr als 70 Prozent zu Tage.

"Wenn mich einer fragt, erklären Sie mir, wie Sie das machen zu diesem Termin - das kann ich nicht ansatzweise sagen", redet er sich in Rage. Und offenbart unfreiwillig, dass er den eigenen Sonntagsreden vom allgegenwärtigen Erfindergeist, vom kalifornischen "Schbiritt" in Wahrheit nicht über den Weg traut. Der weltweit einzige grüne Regierungschef bezweifelt also, "wenn fünf Millionen Elektroautos" tanken, dass es angebracht ist, einer seit mindestens zehn Jahren beim Thema E-Mobility zaudernden und vor allem nach Staatshilfen schielenden Industrie mit einem Stichtag in 13 Jahren Beine machen zu wollen.

Behäbiges BaWü, forsche EU

Sich mit den Fakten zu befassen würde helfen. Nicht nur in Italien schon seit fünf Jahren, sondern auch in Mannheim fahren E-Busse, die an Haltestellen durch Induktionsschleifen aufgeladen werden. Im Bayerischen Wald läuft ein Modellprojekt, um E-Autos unter erschwerten Bedingungen, auf Steigungen, in Gefällen, bei Starkregen oder im Winter zu testen – mit Urlaubern und Pendlern und auf jeden Fall im Echtzeitbetrieb. Schon in drei Jahren will der Freistaat rund 200 000 Autos auf die Straße gebracht haben. In einem Stadtbezirk von Salzburg sind 45 Fotovoltaikanlagen mit rund 225 Kilowatt peak verbaut, kombiniert mit 33 Elektroautos sowie 50 Boilern, Wärmepumpen und fünf Batteriespeichern, um Netzbe- und entlastungen zu testen.

Auf einer Autobahnversuchsstrecke zwischen Darmstadt und Frankfurt wird die Ladung von LKWs per Oberleitung getestet. Beispiele über Beispiele. Und forsch ist – wie so oft – auch die EU-Kommission. Der erst kürzlich verabschiedete Entwurf einer neuen Richtlinie schreibt für Neubauten, ob privat oder gewerblich, und für generalsanierte Büro- oder Behördengebäude ab 2025 mehr als zehn Parkplätze und intelligente, schnelle Ladesäulen vor. Natürlich heult die Autolobby sogleich auf: Normale, langsamere täten es erst einmal auch.

Auch Tankstellen sind im Blick der Ingenieure. Alte Batterien könnten recycelt und zu neuen Großspeichern umgebaut werden, um Netzstabilität selbst bei starkem Andrang zu sichern. "Man muss immer alles komplett denken", sagt einer der Fachleute des Stuttgarter Umweltministeriums. Er erinnert daran, dass das Land mit zehn Millionen Euro bis 2021 alle zehn Straßenkilometer eine Ladestation errichtet. Noch grassiert ja die Angst der E-Autofahrer, sie würden es nicht schaffen bis zum nächsten Ladegerät.

Ausgerechnet der Republik berühmtester Autofachmann, Ferdinand Dudenhöffer, hält, anders als Kretschmann, den "sauberen Diesel" im Echtbetrieb für "einen Mythos". Kürzlich reduzierte er die Debatte um die Zukunft der Dieselautos mit ihren Stickoxidemissionen auf ihren Kern. Es gehe nicht um "eine Spielerei", sondern um Menschenleben: Die Europäische Umweltagentur geht von zusätzlichen rund 10 000 Todesfällen pro Jahr allein in der Bundesrepublik aus. "Deutschland ist ein Land der Erfinder", sagt Dudenhöffer. Wer sage, das mit dem Ersatz der Dieselautos gehe nicht, der mache sich "den technischen Fortschritt kaputt".

Auch Anton Hofreiter, Chef der Bundestagsfraktion und einer der Auslöser für die Aufregung des Ministerpräsidenten, beruft sich auf den Auto-Professor und ein halbes Dutzend weitere Kapazitäten. Der Münchner Radler – ohne PKW-Alltagserlebnisse und erst recht ohne Fahrer, wiewohl ihm einer zustünde – stützt sich auf den Cannstatter Säulenheiligen der Verbrennungsmotor-Ära, Gottlieb Daimler. 1901 sagte der voraus, die weltweite Nachfrage nach Kraftfahrzeugen werde "eine Million nicht überschreiten – allein schon aus Mangel an verfügbaren Chauffeuren". Ein klassisches Beispiel für Denken und Reden in Blasen. Vor denen gilt es sich bekanntlich zu hüten. Was Kretschmann vormachte, als er 2011 kurz nach seinem ersten großen Wahlsieg den seither so oft zitierten Merksatz losließ: "Weniger Autos wären mehr." Sechs Jahre später meidet er diese elementare Wahrheit und verlangt von seinen innerparteilichen (linken) Widersachern, sie sollten erst einmal Wahlen gewinnen – "so wie ich".


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4 Kommentare verfügbar

  • Andreas Böcker
    am 03.07.2017
    Antworten
    Derzeit wird noch für Handys ein Nanokondensator entwickelt, der innerhalb von Sekunden zu laden ist und mit dem man dann das Handy eine Woche nicht mehr aufladen muss.
    Nach ersten Tests ist nach 30000 Ladezyklen kein Leistungsverlust feststellbar.
    Teure LiIo Technologie ist nicht notwendig.
    Die…
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