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Auf nach Palermo

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Minute für Minute müssen weltweit rund 25 Menschen ihre Heimat verlassen. Am Weltflüchtlingstag, dem 20. Juni, wird Jahr für Jahr mit Aktionen rund um den Globus an ihr Schicksal erinnert. Zu einer faireren Migrationspolitik führt das nicht.

Leoluca Orlando lebt immer noch. Dabei stand der frühere Rechtsprofessor in den Neunziger Jahren nach eigener Einschätzung ganz oben auf der Todesliste der Mafia. Anfang Juni wurde der inzwischen bald 70-Jährige zum fünften Mal zum Bürgermeister seiner Heimatstadt Palermo gewählt. Er sei ein Sohn der Stadt, sagt er, er sei ihr Bruder gewesen und jetzt sei er ihr Vater. Die 400 000 Flüchtlinge, die in den vergangenen Jahren in Sizilien ankamen, schließt er ausdrücklich mit ein. Sogar im Wahlkampf. Und er wird nicht müde zu betonen, dass es "keinen einzigen Fall von Intoleranz oder rassistischen Schmierereien an Palermos Hauswänden" gegeben habe. Die Einwanderer würden "als Teil der Gemeinschaft" aufgenommen.

Was nicht immer ganz richtig ist, das betonen nicht nur die UNICEF-Fachleute, die sich vor allem um die immer größer werdende Zahl von unbegleiteten Minderjährigen kümmern. Auch in Palermo könnten die Behörden nicht verhindern, dass zu viele der Mädchen und jungen Frauen gleich nach ihrer der Ankunft eine Telefonnummer anrufen, die ihnen in Libyen mit auf den Weg gegeben wurde. Und so ohne Umweg in den Fängen von Menschenhändlern landen. Andere Jugendliche machen sich allein von Italien aus in Richtung Norden auf. Die meisten hätten sogar ein konkretes Ziel: Familie oder Freunde in Deutschland oder in anderen EU-Staaten. Die Familienzusammenführung funktioniert aber nicht. Österreich hat sich zwar verpflichtet, ganze 50 unbegleitete Jugendliche einreisen zu lassen, aber kein einziger passierte bisher die Grenze am Brenner. Eine Grenze mit einem "Management-System", das ermöglichen soll, jederzeit wieder "engmaschige Kontrollen" anlaufen zu lassen, als gäbe es kein gemeinsames Europa.

Aufenthaltsgenehmigung abschaffen, fordert Palermos Bürgermeister

Orlando hätte ein anderes, radikales Rezept: die Abschaffung der Aufenthaltsgenehmigung. Und er nennt die Idee, für die er seit Jahren wirbt, "eine wohlbedachte, rationale Überlegung", denn so werde "das unlogische System der Filter, der Quoten und der Unterscheidung zwischen Asylbewerbern und Wirtschaftsflüchtlingen" beendet. Ende Mai hätten sich die StaatenlenkerInnen der G7 aus dem nahen Taormina nach Palermo begeben und ihn anhören können. Stattdessen wurde eine peinliche, durch US-Präsident Donald Trump zusätzlich verwässerte Erklärung verabschiedet, die anstatt einer Lösung nur das Problem beschreibt: "Wir bestätigen die souveränen Rechte der Staaten, ihre Grenzen zu kontrollieren und klare Grenzen für die Zuwanderung zu setzen."

Deutschland müsste sich gerade am 20. Juni, am Weltflüchtlingstag, in besonderer Verantwortung sehen. Denn seit 2014 ist an diesem Datum auch ein "Gedenktag für Opfer von Flucht und Vertreibung", der in diesem Jahr zum dritten Mal begangen wurde. Eingeführt wurde er auf Druck der Vertriebenenverbände, und auch der CDU-Landeschef und heutige Innenminister Thomas Strobl wollte damit "erreichen, dass der Heimatverlust von 14 Millionen Deutschen zum Mahnmal für alle Vertreibung in der Gegenwart gemacht" wird. Ursprünglich sollte der 5. August Gedenktag werden. Am Ende aber setzten sich diejenigen durch, die das neue offizielle Gedenken an den Weltflüchtlingstag koppeln wollen. Und Bundestagspräsident Norbert Lammert erinnerte in der Feierstunde 2016 vor allem an das aktuelle Leid durch Flucht und Vertreibung.

Im vergangenen Herbst ließ ein Satz der Kanzlerin aufhorchen – nach der Wahlniederlage der Union in Berlin. Damals bedauerte Angela Merkel, dass sich die Bundesrepublik – dank des Dublin-II-Abkommens umgeben von sicheren Drittstaaten – in der Flüchtlingspolitik zu lange vor der Verantwortung gedrückt und Italien oder Griechenland im Stich gelassen habe. Gegenwärtig wiederholt sich genau dieser Mechanismus. Sie würde die Zeit zurückdrehen, wenn sie könnte, so die Kanzlerin damals. Jetzt müsste sie nicht drehen, sondern handeln. Doch es bleibt zu Beginn eines Bundestagswahlkampfs offenbar einfach keine Zeit, der weltweiten Realität ins Auge zu blicken.

Ehrlich wäre es, den WählerInnen gerade in einem Wahlkampf reinen Wein einzuschenken. Und dringend notwendig. "Die Völkergemeinschaft steuert schleichend, aber zielgenau auf eine humanitäre Katastrophe bisher unbekannten Ausmaßes zu", schrieb Greenpeace schon 2007. Seit 2009 warnt der heutige UN-Generalsekretär Antonio Guterres vor den Auswirkungen des Klimawandels. Aus demselben Jahr stammt eine seriöse Studie, wonach bis 2035 rund 200 Millionen Menschen ihre Heimat werden verlassen müssen. Belegt ist, dass für viele SyrerInnen nicht nur der Krieg, sondern auch eine fünfjährige Dürre zwischen 2006 und 2011 Fluchtgrund war. <link http: www.europarl.europa.eu sides external-link-new-window>Das Europäische Parlament hat im April eine umfangreiche Entschließung zum Thema Migration verabschiedet, die verlangt, "dass Personen, die durch die Folgen des Klimawandels vertrieben werden, ein spezieller internationaler Schutzstatus gewährt werden sollte, mit dem deren besonderer Lage Rechnung getragen wird".

Vater der neuen Grenzzäune: Österreichs Außenminister Kurz

2017 haben bisher mehr als 65 000 Flüchtlinge Europa über die Mittelmeerroute angesteuert. Die Zahlen schwanken, die Zunahme im Vergleich zu 2016 wird mit 17 bis 20 Prozent angegeben. Nach den Informationen, die der EU vorliegen, kommen täglich etwa weitere 50 an der griechischen Küste an. Und noch immer versuchen Nacht für Nacht Menschen, einen der vielen Grenzzäune auf der Balkanroute zu überwinden, die der Kontinent dem österreichischen Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) zu verdanken hat – am 24. Februar 2016 hatte er auf dem Wiener Treffen der Westbalkanländer dafür gesorgt, dass sich die beteiligten Staaten auf eine Schließung der Route verständigten. Kurz will im Oktober Bundeskanzler werden, behauptet sein Handeln an christlichen Grundwerten wie Barmherzigkeit und Nächstenliebe auszurichten, und will jetzt auch noch die Mittelmeerroute schließen. Mit Sätzen wie, "die Menschen machen sich nur auf den Weg, solange der Weg offen ist" will er ernsthaft punkten. Natürlich ohne eine konkrete Einwanderungsalternative zu eröffnen. Kürzlich lobte er sogar Ungarns Victor Orbán.

Noch so ein Schandfleck. Dieser Tage beginnt im ungarischen Kecskemet der Prozess gegen die Schlepper, die Ende August 2015 mehr als 70 Frauen, Männer, Kinder und Babys in einem Kühl-LKW in den Erstickungstod schickten. Inzwischen ist nicht nur bekannt, dass Dutzende solcher Fahrten stattfanden, sondern vor allem, dass die ungarischen Behörden davon wussten. NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung" liegen Aufzeichnungen von Telefongesprächen vor. "Sie schreien einfach die ganze Zeit, du kannst dir gar nicht vorstellen, was hier los ist, wie sie schreien. Scheiße!", sagt der Fahrer. "Ich denke, dass die Leute im Laster keine Luft bekommen, ich bin mir 100 Prozent sicher. Du musst nur weiterfahren! Das ist das Wichtigste", erwidert sein Komplize. Die ungarische Polizei will die Protokolle nicht rechtzeitig ausgewertet und in den vielen Wochen, in denen Zehntausende Flüchtlinge durchs Land zogen, auch nur über äußerst spärliche Hinweise auf Schlepperbanden verfügt haben.

Ihnen würde das mörderische Handwerk wenn schon nicht gelegt, dann zumindest "erheblich verhagelt", gäbe es legale Einwanderungsrouten, meint nicht nur Leoluca Orlando. Zehn Nachrichtenagenturen weltweit haben sich zu einem Projekt zusammengetan und die Preise für Fluchthilfe recherchiert. 2016 kostete danach die Fahrt von Libyen übers Mittelmeer 600 bis 800 Dollar, inzwischen hat sich der Preis fast verdoppelt. Frak Laczko, einer der UN-Migrationsexperten, schätzte kürzlich, dass derzeit die internationalen Schleppernetzwerke rund neun Milliarden Euro umsetzen. Und: Das Risiko hat sich verdoppelt. 2016 kam auf 88 Menschen, die Europas Küsten erreichen, ein Todesopfer, inzwischen kommt ein Toter auf 44.

Dass Seenotrettung zur Flucht ermuntere, ist ein Ammenmärchen

Widerlegt ist die Behauptung rechter Hetzer und einzelner CDU- und CSU-Politiker, die Seenotrettung durch Hilfsorganisationen im Mittelmeer ermuntere erst recht zur Flucht. Ein Forscherteam der University of London analysierte Statistiken und Berichte, recherchierte bei Behörden, Helfern und Migranten und kommt zu dem Schluss, dass dieser sogenannte Pull-Faktor gar nicht existiert. So seien etwa die Ausreisezahlen aus Marokko 2016 um 46 Prozent gestiegen, obwohl dort keine NGOs unterwegs waren. Und noch eine Erkenntnis kam ans Tageslicht, die allen Europäern die Schamesröte ins Gesicht treiben müsste: Die EU-Anti-Schlepper-Mission ist mitverantwortlich dafür, dass immer mehr Menschen sterben. Denn die konsequente Zerstörung der Schlepperboote legt nicht den Schleppern das Handwerk, sondern führt zum Einsatz von billigeren, instabileren und gefährlicheren Booten.

Auch in diesem Frühsommer ist die Zahl der Boote, die in den Häfen von Augusta und Catania, von Pozzallo und Palermo anlanden, stark angestiegen. Die Geflüchteten stammen aus Nigeria, Bangladesch, Guinea, Elfenbeinküste, Gambia und Senegal. Allein in den 24 Stunden vom 16. auf den 17. Juni wurden nach den Zahlen der italienischen Küstenwache 2500 Afrikaner im Mittelmeer gerettet. Was kein gutes Licht auf das grün-schwarz regierte Baden-Württemberg wirft: Dem Innenministerium zufolge kamen im Mai 2017 gerade mal 650 Flüchtlinge im Land an.

Die Umverteilung innerhalb der EU funktioniert nicht

Auf Sizilien wird derweil der "Plan 200 000" zur Umverteilung geschmiedet. Aber nur ein Drittel der 8000 italienischen BürgermeisterInnen erklärte sich bereit, Asylbewerber aufzunehmen und unterzubringen. Und gerade die wenigen prinzipiell eher willigen EU-Länder wie Deutschland, Österreich oder Schweden schauen mittlerweile angestrengt weg. Nicht einmal die Umverteilung jener 160 000 von Italien und Griechenland Aufgenommenen funktioniert, auf die sich die Mitgliedsstaaten 2015 geeinigt hatten. Bis Ende Mai 2017 konnten nur rund 20 000 tatsächlich weiterreisen. Brüssel leitete daher eben erst ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn, Polen und Tschechien ein. Das allerdings wird auch nicht zu mehr Mitmenschlichkeit führen, sondern bestenfalls zu saftigen Geldstrafen. Und die dürften für noch größere Ablehnung der Gemeinschaft in den drei Ländern sorgen.

Zu groß ist auch die Gruppe derer, die nur schön reden. Frankreichs neuer smarter Polit-Superstar Emmanuel Macron lobt Angela Merkel, die mit ihrer Flüchtlingspolitik "Europas Würde" gerettet habe. Pro einer Million Einwohner hat Frankreich 2016 rund 1100 Flüchtlinge aufgenommen, Österreich 4600 und die Bundesrepublik 8700. Von neuen Anstrengungen Macrons ist allerdings nicht bekannt. In Calais verjagt die Polizei weiterhin Hungernde, die anstehen, wenn die katholische Kirche Essen verteilt. Zehn Verbände, darunter der Secours Catholique, versuchen, auf dem Klageweg eine menschenwürdige Versorgung zu erzwingen – mit Nahrung, Sanitäranlagen und Gesundheitsleistungen. Da hätte Macron seit seiner Wahl der eigenen Nation längst ein Stück Würde zurückgeben können. Fehlanzeige.

Überhaupt lässt sich an den Fingern einer Hand die Zahl der Länder weltweit abzählen, die sich wirklich zu einer freizügigen Aufnahme von Vertrieben und Flüchtlingen durchringen. Darunter das – im Vergleich zu Baden-Württemberg – bettelarme Uganda, das der UNHCR als "Modell nicht nur für Afrika, sondern für die Welt" rühmt. 175 000 Menschen fanden allein in den ersten fünf Monaten des laufenden Jahres Zuflucht, derzeit kommen täglich rund 3000 aus dem Südsudan. Die Leistungen des ugandischen Staates bei der Aufnahme der Fremden sind verblüffend: Nicht überall, aber weitgehend funktioniert ein Verfahren, bei dem binnen 36 Stunden jeder Flüchtling registriert und mit Papieren ausgestattet wird.

"In vielen europäischen Staaten wird dagegen über Migranten gesprochen, als wären sie ein Problem", weiß Leoluca Orlando. Dabei sei sogar der Papst einer. Da müsse doch die Frage erlaubt sein: "Wie kann man besorgt sein über Zuwanderung?"


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2 Kommentare verfügbar

  • Rolf Steiner
    am 24.06.2017
    Antworten
    Mit vielen anderen Wählern bedauere ich, dass das "C" bei der CDU/CSU", aber auch bei deren Schwester-Parteien in Österreich und Ungarn zu einem nur noch als verachtenswert und schäbig zu bezeichnenden Verlogenheitsmantel verkommen ist. Wenn bei dem europ. Staatsakt für Kohl ein Orban "im Namen…
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