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Feuer unterm Dach

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Der Hype um Martin Schulz ist abgeebbt. Davon profitieren in den Umfragen Union und FDP. Und die Grünen? Die hängen im Umfragetief bei Werten fest, die noch unter jenen nach der schmerzlichen Wahlniederlage von 2013 liegen. Da wird nicht nur guter Rat immer teurer, auch ungefragte Ratgeber machen sich unbeliebt. Selbst wenn sie Winfried Kretschmann heißen.

"Zukunft wird aus Mut gemacht", heißt der Titel des Programmentwurfs für die Bundestagswahl. Mut ist gefragt, um nicht zu sagen: Übermut, wenn intern und nach außen ein Ergebnis zwischen neun und zehn Prozent am 24. September als realistische Perspektive ausgegeben wird. Denn in Berlin und anderswo kursieren Rohdaten namhafter Demoskopen, wonach die CDU wieder oberhalb von 40 Prozent liegt und die SPD – immerhin – nahe an 30. Die Liberalen dürfen in diesen ausdrücklich als Momentaufnahmen gekennzeichneten Erhebungen die Zweistelligkeit in den Blick nehmen. Und die Grünen die Fünf-Prozent-Hürde. Der düstere Befund animiert einen das Gras wachsen hörenden Karikaturisten wie Thomas Plaßmann, der in der Frankfurter Rundschau einen Käfer auf dem Rücken liegen und verzweifelt "Flieg, Käferchen! Flieg!" rufen lässt, während das beobachtete Kleingetier "Autosuggestion" und "tragische Geschichte" diagnostiziert.

So weit ist es noch lange nicht. Informierte Kreise wissen, dass Angela Merkel eine Koalition mit den Grünen jeder anderen vorziehen würde, also sowohl der Großen als auch einer mit der FDP dieses kecken, machtbewussten, neoliberale Botschaften versprühenden Christian Lindner. Die zarten Bande im Hintergrund, nach Stuttgart und zu Winfried Kretschmann, den sie auf der Beliebtheitsskala gerade wieder überholt hat, sind längst geknüpft. Von Kretschmann mit seinem 30-Prozent-Landtagswahlergebnis im Rücken ist ohnehin bekannt, welche Koalitionskonstellation er anstrebt, weil er zu wissen meint, die Zusammenarbeit mit der Union sei in Zeiten wie diesen gerade die richtige. Selbst seine Realo-Freunde wünschen sich inzwischen aber mehr öffentliche Zurückhaltung bei der direkten oder subkutanen Verbreitung seines Credos. "Existenzieller kann die Malaise nicht mehr zutage treten", schreibt die "Süddeutsche", nachdem Cem Özdemir und "sein politischer Ziehvater" dieser Tage aneinandergeraten waren, eben wegen Kretschmanns kritischer Zwischenrufe in Richtung linker Störenfriede in NRW und anderswo. Vielleicht drohe "sogar ein Desaster".

Kretschmann verteilt ungefragt ideologische Noten

Der grüne Superstar, der für bundesweite Auftritte im Bundestagswahlkampf schon überbucht ist, hatte per Interview wieder einmal ohne Not ideologische Noten verteilt, diesmal an den Landesverband in NWR: "Da gibt es immer einen gesinnungsethischen, einen idealistischen Überschuss, und das kann leicht nach hinten losgehen." So weit, so schlecht. Dass aber er, der seit Jahrzehnten bei Bedarf innerparteilich immer mal wieder als Polarisierer hervortrat, nun plötzlich mahnt, die Flügel zusammenzuhalten ("Daran arbeite ich mich seit 35 Jahren ab. Klappt nicht immer"), ließ so manchem den Hut hochgehen. Im Netz kursieren ganze Listen von Gegenbeispielen. Ungefragt empfahl er beispielsweise die Abschaffung einer Doppelspitze. Zur Steuerpolitik ging er schon 2012 und 2016 auf Gegenkurs. Beim Thema Flüchtlinge riskierte er zumindest den öffentlichen Eindruck, wichtige Werte zu verraten. Und mit kritischen Bemerkungen über eine angebliche Neigung seiner Partei zu wählervergraulenden Zwangsbeglückungsideen sparte der weltweit einzige grüne Regierungschef auch nicht.

"So sollten wir vom linken Flügel einmal mit ihm umgehen", kommentiert einer im Netz, "da wäre Feuer unterm Dach." Das lodert ohnehin. Der Partei geht es so schlecht wie lange nicht mehr. Die Analysen der drei Landtagswahlen der vergangenen Wochen zeigen, dass sie überhaupt nur in einem einzigen Thema die Meinungsführerschaft für sich beanspruchen kann: in der Energiepolitik. Und da werden die Erfolge sogar zum Bumerang, weil zu viele Wähler und Wählerinnen diese Materie im Wesentlichen für erledigt halten und auf gutem Gleis befindlich. Selbst das zweistellige Ergebnis in Schleswig-Holstein kann – mit Blick auf den Bund – nicht wirklich entspannen. Außer in der Energiepolitik nennen nur mickrige Teile der Wählerschaft die Grünen, wenn nach guten Lösungen für Themen wie Bildung, soziale Gerechtigkeit, Verkehr oder Flüchtlinge gefragt wird.

Natürlich will sich die Partei nicht anmerken lassen, wie ihr die Felle davonschwimmen. "Das Programm ist prall gefüllt mit guten Ideen", heißt es auf ihrer Homepage zur Mitgliedermotivation. Gepriesen werden das Klimaschutzgesetz, ein Einwanderungsgesetz, das saubere Auto ab 2030, ein Hilfsprogramm für 10 000 Schulen oder ein Zwölf-Milliarden-Euro-Paket für Familien. Und an anderer Stelle heißt es: "Sei motiviert und gib alles! Ohne Euch können wir die Wahl nicht gewinnen." Das Problem könnte sein: Vom Hocker reißt das niemanden. Und Figuren wie Robert Habeck in Schleswig-Holstein oder Winfried Kretschmann, die das kompensieren könnten mit ihrer Ausstrahlung, hat die Partei auf Bundesebene nicht aufzubieten.

Die Konturen der Grünen verschwimmen

Baden-Württembergs Landesverband steht in besonderer Verantwortung, weil nach Expertenmeinung hier mindestens 13 Prozent gebracht werden müssen, um die angestrebten neun bis zehn Prozent bundesweit zu erreichen. Zentrale Forderungen wird Kretschmann aber – wenn überhaupt – auf keinen Fall mit Herzblut unter die Leute bringen: von der "verfassungsfesten, ergiebigen und umsetzbaren Vermögenssteuer für Superreiche" bis zu dem "klaren Ziel", dass "ab 2030 nur noch abgasfreie Autos vom Band rollen" sollen und "das Zeitalter der fossilen Verbrennungsmotoren dann zu Ende ist". Die Formulierungen sind noch vorläufig, zum Wahlprogramm liegen 2000 Änderungsanträge vor. 500 davon gelten als inhaltlich relevant. Möglicherweise wird so mancher, beim Münsteraner Parteitag im Spätherbst 2016 mühsam gebastelter Kompromiss noch einmal aufgeschnürt.

In keiner Kretschmann-Rede dürfte aber der Hinweis fehlen, dass seine Partei immer noch in acht Ländern und völlig unterschiedlichen Konstellationen mitregiert. In einigen davon werden, anders als in Baden-Württemberg, regelmäßig demoskopische Zwischenstände auf dem Weg zur Bundestagswahl erhoben. Das Stimmungsbild ist düster: In Niedersachsen derzeit zwei, in Berlin drei Prozent unter dem Ergebnis von vor vier Jahren. Rheinland-Pfalz meldet einen Rückgang um vier, Hamburg um mehr als sechs Prozent. Solide Regierungsarbeit mit Partnern von der CDU bis zur Linken macht sich beim Publikum offenbar nicht so recht bezahlt. Wenn die Grünen mit allen Parteien irgendwie können, verschwimmen die Konturen. Und die Zahl derer, die Verrat wittern, wächst. "Aber unsere Wahrnehmung ist anders, als die Umfragen annehmen lassen", sagen WahlkämpferInnen, und es klingt nach Pfeifen im dunklen Wald.

Tatsächlich erfreuen sich die neuen "Cem-Sessions", die "Town Hall"-Termine ohne Rede oder Impulsreferate, bei denen FragestellerInnen sofort in die Diskussion kommen, großer Beliebtheit. Cem Özdemir, Katrin Göring-Eckardt und die anderen müssen aber immer wieder erkennen, wie gerade die Verantwortung in den Kommunen und den Ländern drückt. Es gibt keine Fahrverbote in Innenstädten, Fahrradwege enden im Nirwana, Wohnung und ÖPNV sind teuer geblieben – immer trotz Mitregierens. Das Argument, dass ohne Grüne vieles anders und sogar schlechter wäre, stimmt. Aber es zieht nicht so richtig. "Wir haben eben", sagt eine Heidelbergerin, "eine sehr sensible Wählerschaft."

Aus diesem und vielen anderen Gründen ist es inzwischen so weit, dass Spitzengrüne von sich aus und ganz ohne unangenehme JournalistInnenfragen auf das Jahr 1990 zu sprechen kommen. Damals war die Partei aus dem Bundestag geflogen. "Nein", sagt eine Kandidatin dieser Tage in Stuttgart, "die Fehler aus dem Jahr 1990 werden wir nicht wiederholen." Die Botschaft zwischen den Zeilen: Wir haben uns schon mit der damaligen "Endzeitstimmung", wie der "Spiegel" vor 27 Jahren getitelt hatte, befasst. Wenn das stimmt, gäbe es einiges zu lernen von damals. Joschka Fischer in seiner Realo-Hochburg Hessen schimpft auf den "Fundi-Radikalismus" in den Unistädten.

Untergangsparolen sollen die Wähler einfangen

Selbst im gefestigten Südwesten brachen die Zwistigkeiten seiner Zeit derart eruptiv aus, dass die damalige Fraktionsvorsitzende im Landtag, Biggi Bender, laut über eine Trennung zwischen "Öko-Grünen" und "Rot-Grünen" nachdachte, was wiederum ihre Landesgeschäftsführerin Inge Leffhalm zu einem öffentlichen Ausbruch über das "Spaltungsgerede" motivierte. Und flügelunabhängig schwebte über allen die strategische Frage, ob es ratsam sei, mit dem Totenglöcklein zu läuten, um Anhänger auf den Ernst der Lage aufmerksam zu machen. Ausgerechnet Fischer gehörte zur Gruppe jener, die die Wählerschaft mit Untergangsparolen einfangen wollten und mit dem gebetsmühlenhaften Hinweis auf den drohenden Weltuntergang, weil nur die Grünen das große Ganze im Blick behielten. Retrospektiv hat(te) Fischer im Wesentlichen recht. Für vier Jahre in der außerparlamentarischen Opposition zurechtfinden musste sich seine Partei dennoch.

Spätestens seit der NRW-Wahl wird über diese Gefahr im Netz heftig diskutiert, ebenso über die Strahlkraft der Spitzenkandidaten. "Die Göring-Eckhardt geht erst, wenn die Bundestagswahl mit fünf Prozent verloren ist", kommentiert ein "Baden-Württemberger". Sie müsse auf jeden Fall "Meister Trittin" und dessen "Links" mitnehmen: "War es früher nicht schick, Sportwagen zu fahren und Grün zu wählen? Heute ist es peinlich! Nicht der Sportwagen, aber die Grünen!" Derartige Kommentare lassen auch Demoskopen aufhorchen, weil diese Haltung eine wundersame Wählerbewegung der vergangenen Monate erklären könnte.

Im Schulz-Hype wurde Zustimmung an die SPD abgegeben, die jetzt im Abschwung der Sozialdemokratie aber nicht zurück-, sondern weitergewandert ist – zur FDP. Der Landesverband in NRW verlor jedenfalls 60 000 Stimmen an die Linke und halb so viele an die Liberalen. Da kommt wieder Kretschmann ins Spiel, der offensiv im selben Teich fischen will mit der Salbung der Seinen als neue Wirtschaftspartei. Wenn da nur nicht am 24. September die dickeren Hechte der FDP an die Angel gehen statt, so eine beliebte Verballhornung im Netz, der "FDP mit Fahrrad und Genderstern".


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3 Kommentare verfügbar

  • Bruno Neidhart
    am 26.05.2017
    Antworten
    Nun, das Interesse an Parteien schwankt stetig. Einmal ist eher die Mitte interessant, mal die linke Seite, dann wieder mehr das Rechtslastige, vielleicht wiedermal das Liberale. Es kommt dabei, wie es scheint, tatsächlich stark auf die Frontmänner und Frontfrauen an. Nicht immer sind diejenige…
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Ausgabe 459 / Grüne Anfänge mit braunen Splittern / Udo Baumann / vor 1 Tag 6 Stunden
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