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Jongen: Vordenker der "Umvolkung"

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Der Aufstieg der AfD zeigt, wie das Denken der neuen Rechten in der Realpolitik angekommen ist, sagt der Stuttgarter Philosoph Michael Weingarten. Ein Gespräch über Peter Sloterdijk, dessen Schüler und AfD-Ideologen Marc Jongen, das Versagen der Leitkultur-Prediger und einen blinden Fleck bei den Linken.

Herr Weingarten, nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen sitzt die AfD nun in dreizehn Landesparlamenten. Wie gefährlich ist das Weltbild, das hinter dem Aufstieg von Pegida und AfD steht?

Hinter dem Weltbild dieser Gruppen steckt der Versuch, dem neoliberalen Projekt der Globalisierung eine Renationalisierung entgegenzusetzen. Und damit der Rückgriff auf das Völkische. Das kann eine Verabsolutierung des Nationalstaats bedeuten wie in der früheren Lucke-AfD oder des Volkes als Ethnie oder Rasse wie in der gegenwärtigen AfD. Übersetzt auf die aktuelle Diskussion: Alle, die nicht zu einer bestimmten Leitkultur gehören, werden ausgegrenzt.

Der Karlsruher Philosoph Marc Jongen wird für die AfD aller Wahrscheinlichkeit nach im Herbst in den Bundestag einziehen. Muss man sich jetzt auch noch mit seinem philosophischen Denken auseinandersetzen?

Er hat zwar kaum fachwissenschaftlich publiziert, arbeitet aber mit dem Renommee des Hochschullehrers und des Schülers eines der bekanntesten deutschen Philosophen der Gegenwart, seines Doktorvaters Peter Sloterdijk. Er war an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe dessen Assistent. Deshalb wird Jongen von einem bürgerlichen Publikum ganz anders wahrgenommen als etliche andere Sprecher der AfD.

Marc Jongen ist Vizechef der AfD in Baden-Württemberg und sitzt in der Bundesprogrammkommission. Welche Rolle spielt er als Hausphilosoph der AfD?

In der AfD positioniert sich Jongen bei der völkischen, aber nicht der rassistischen Richtung, die von Björn Höcke repräsentiert wird. Jongen setzt nicht auf eine rassenbiologische Position, für die das Volk eine Blut- und Abstammungsgemeinschaft darstellt. Für ihn ist Volk eine historisch gewachsene Kultur- und Wertegemeinschaft. Im Gegensatz zu den Leitkultur-Ideen aus den Reihen von CDU und CSU, die sich auf das christlich-abendländische Weltbild berufen, setzt Jongen auf eine imaginierte alte griechische Tradition.

Welche Rolle spielt dabei der Philosoph Peter Sloterdijk?

Wie früher schon Martin Heidegger postuliert Sloterdijk die Notwendigkeit einer Rückbesinnung auf den mythischen Ursprung Europas. Daraus sei zu lernen: Der Untergang der urbanen Lebensformen im alten Griechenland sei eine Folge von Völkerwanderung und Durchmischung. Deshalb fordert Sloterdijk zum Beispiel die Wiederherstellung eines strengen nationalen Grenzregimes. "Die deutsche Regierung hat sich in einem Akt des Souveränitätsverzichts der Überrollung preisgegeben", sagte Sloterdijk zum Beispiel vor gut einem Jahr im Gespräch mit dem Magazin "Cicero". Jongen übersetzt das in konkrete Parteipolitik. Sloterdijk hat sich zwar von Jongens AfD-Engagement distanziert, aber nicht von dem weltanschaulichen Vokabular, das Jongen in seinen politischen Äußerungen verwendet. Das ist aber wörtlich von Sloterdijk übernommen. Genau diesen Zusammenhang zu seiner eigenen Philosophie nicht zu bemerken, entlarvt Sloterdijks Schreibweise als so verantwortungslos wie es für Heidegger und Ernst Jünger schon oft festgehalten wurde.

Jongen spricht gern über den altgriechischen Begrifft "Thymos", also so etwas wie Mut, Zorn und Empörung. Er will die "thymotische Spannung" in Deutschland erhöhen. Auch das ein Rückgriff auf Sloterdijk?

Ja. Es ist die Umsetzung von Sloterdijks Überlegungen in "Zeit und Zorn" aus dem Jahr 2006 in parteipolitische Programmatik. Im Gegensatz zur liberalen Tradition, die auf reine Rationalität setzt, betonen Sloterdijk und Jongen eine Politik der ungeregelten Affekte. Wut und Zorn seien nicht nur zulässig und gerechtfertigt, sondern auch notwendig, um politische Veränderungen zu ermöglichen. Insofern sind die liberale und die neu-rechte Position in spiegelbildlicher Verkehrung zwei Seiten einer Medaille. Die Gegenposition: Für die Regulierung der Affekte braucht es Vernunft. Beide müssen in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. In dieser Tradition stehen Philosophen wie Aristoteles und Spinoza oder in unserer Zeit Axel Honneth und die Amerikanerin Martha Nussbaum.

Gibt es im Denken der Neuen Rechten Parallelen zur Zeit der Weimarer Republik, zu den geistigen Wegbereitern der NS-Diktatur? Ähnlich wie damals zeichnet Jongen heute das Bild einer "existenziellen Großgefahr" für die deutsche Kultur. Er fordert "unkorrumpierte Persönlichkeiten mit dem Mut zur Wahrheit".

Im Laufe der politischen und wirtschaftlichen Krisen der 1920er Jahren bildeten sich die rechten Theorien heraus, mit denen wir es heute noch zu tun haben. Sie waren unter anderem eine Grundlage für den Aufstieg der NSDAP und den Ruf nach einem starken Mann. Auch in den Krisenprozessen der Gegenwart rücken Leute wie Jongen die Forderung nach einer starken, führungsfähigen Elite ins Zentrum.

Was stört Leute wie Jongen am herrschenden Establishment?

Jongen kritisiert, dass es international und nicht mehr national agiert. Beispiel Bankenkrise: Hier hat sich gezeigt, dass nationale Regierungen global agierende Banken mit Steuergeldern retten mussten. Ähnlich die Kritik am Euro – verbunden mit einer Hetze gegen die angeblich faulen Griechen oder Spanier, die vom fleißigen Deutschen alimentiert werden. Jongen will eine national agierende Elite.

Die Kritik wird inzwischen ja in allen politischen Lagern geäußert. Denn mit der Globalisierung wurde die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme in ganz Europa zum Teil extrem zusammengestrichen. Welche Antwort haben Jongen und Sloterdijk darauf?

Der sogenannte sozialrevolutionäre Flügel der NSDAP um Gregor Strasser hatte die soziale Frage mit der Unterscheidung eines "raffenden" von einem "schaffenden" Kapital in den 1920er Jahren aufgegriffen. Genauso heute der Front National in Frankreich. Jongen und Sloterdijk kritisieren die herrschende Wirtschaftsordnung als einen "Semi-Sozialismus auf eigentumswirtschaftlicher Grundlage" und fordern dagegen eine steuerliche Entlastung des "schaffenden Vermögens", die Abschaffung der "Zwangssteuern", wie Sloterdijk es nennt. Er verspricht der Allgemeinheit stattdessen eine hohe Spendenbereitschaft der "gebenden Seite" der Reichen. Ob solche Positionen innerhalb der AfD mehrheitsfähig werden können, scheint mir aber zweifelhaft. Derzeit dominiert dort immer noch eine national ausgerichtete neoliberale Wirtschaftsprogrammatik.

Die Neue Rechte hat seit gut zwei Jahren viele Anhänger gefunden. Wie hängt dies und wie hängt der Aufstieg der AfD mit dem Versagen anderer politischer Akteure zusammen?

Die Versprechen neoliberaler Politik sind spätestens mit der Finanzmarktkrise widerlegt worden. Doch die Vertreter dieser Linie, insbesondere Finanzminister Wolfgang Schäuble, halten an der zerstörerischen Austeritätspolitik fest. Auf der anderen Seite ist es den Linken – und damit meine ich das gesamte linke und linksalternative Spektrum, mich selbst eingeschlossen – noch immer nicht gelungen, eine tragfähige und überzeugende Alternative zu formulieren.

Hat die Linke die soziale Frage vergessen? Hat sie ihre Basis nicht mehr im Blick, insbesondere die Menschen, die abgehängt sind? Und nutzt das jetzt Leuten wie Jongen und der Neuen Rechten?

Die Linke hat kulturelle Deutungskämpfe mit der Rechten in den Vordergrund gestellt, etwa die Geschlechterpolitik oder den Umgang mit Minderheiten. Damit geriet die Notwendigkeit von grundlegenden Änderungen der Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialpolitik aus dem Blick. Das untere Viertel der Erwerbstätigen fühlt sich jedenfalls seit Jahren nicht mehr politisch vertreten. Viele Menschen fallen inzwischen auf völkische Ideologien herein, die die sozialen Probleme nicht als Versagen unserer Gesellschaft sehen, sondern als Ergebnis der Zuwanderung. Deshalb fordern Jongen oder Sloterdijk ja auch eine deutliche Begrenzung.

An der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, aber auch andernorts gab es immer wieder die Forderung, Jongen wegen seiner rechten Gesinnung nicht mehr lehren zu lassen.

Berufsverbote sind kein Ersatz für politische und wissenschaftliche Auseinandersetzungen. Doch die Philosophen in Deutschland verweigern die Debatte mit Sloterdijk – von wenigen Ausnahmen abgesehen – seit Jahrzehnten. Das rächt sich jetzt.

 

Michael Weingarten lehrt als Professor für Philosophie in Stuttgart und Marburg. Er ist Mitbegründer des Hannah-Arendt-Instituts für politische Gegenwartsfragen. Am 27. Juli 2017 hält Weingarten einen Vortrag bei der Stiftung Geißstraße in Stuttgart mit der Frage <link https: www.die-anstifter.de veranstaltungen politische-schlagwoerter-heute-was-meint-eigentlich-neoliberalismus external-link-new-window>"Was meint eigentlich (Neo-)Liberalismus?".


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7 Kommentare verfügbar

  • Rolf Steiner
    am 19.05.2017
    Antworten
    Komisch, dass an der Aufklärung der rechtsextremen NSU-Morde herum gemäkelt wird, wo doch durch die von Zschäpe verteilte Bekenner-CD ziemlich deutlich auf die Tätergruppierung hinweist. Und vermutlich nicht nur auf die 3 mutmaßl. Mörder bzw. Mordgehilfin, sondern auf ein wesentlich breiteres - und…
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