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Störfaktor Eltern

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Eltern wollen das Beste für ihre Kinder. Dennoch oder gerade deshalb werden sie zum größten Störfaktor in der Bildungspolitik, wenn Populisten ihnen nach dem Munde reden. Was sich eindrucksvoll illustrieren lässt an der Neuauflage des Streits um G8 und G9.

Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln: Vor allem Machtpolitiker erinnern sich ungern an ihr Geschwätz von gestern. Allen voran der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU), der mit Brachialgewalt gerade Veränderungen auf den Weg bringt, die er vor vier Jahren noch kategorisch ausschloss. O-Ton Seehofer im Dezember 2013: "Es wird mit mir kein G9 geben." O-Ton Seehofer im April 2017: "Ich bin total überzeugt, dass die Rückkehr zum G9 eine Generationen-Entscheidung ist, die Signalwirkung für ganz Deutschland hat."

Erst einmal zeigte dies beim dienstältesten Kultusminister der Republik Wirkung. Denn mit der Reform der Reform musste sich Ludwig Spaenle nach der alten Franz-Josef-Strauß-Steigerung "Feind, Todfeind, Parteifreund" de facto entmachten lassen. Und per Interview trat sein Regierungschef auch noch nach, indem er über dessen Arbeitsstil herzog: "In ungefähr vierteljährlichem Abstand gibt es neue Ideen - und das immer mit dem Satz: Aus tiefer Überzeugung." Die "Süddeutsche Zeitung" fand deutliche Worte für den Umgang der beiden CSU-Schwergewichte miteinander: In die Schulpolitik habe sich Spaenle "von so vielen Leuten reinquatschen lassen, dass sein Standpunkt nur noch unterm Elektronenmikroskop zu erkennen ist". Wenn aber "ausgerechnet Wendehals Seehofer ihn bloßstellt, darf man das für schäbig halten".

Ohnehin ist völlig unklar, ob die Rückkehr zum G9 in Bayern nicht vor allem ein großangelegter Wahlkampfgag ist. Die CSU liegt in der Demoskopie derzeit rund fünf Punkte unter ihren gut 49 Prozent bei der Bundestagswahl von 2013. Und im Herbst 2018, wenn die Umstellung auf G9 anlaufen soll, sind Landtagswahlen. Seehofer wird, wie man ihn nur zu gut kennt, noch für reichlich Überraschungen gut sein im Streben nach der absoluten Mehrheit. 2004 hatte übrigens der damalige Ministerpräsident Edmund Stoiber schon einmal die zuständige Fachpolitikerin – in diesem Fall Kultusministerin Monika Hohlmeier – überrumpelt mit der Ankündigung, G8 einzuführen. Und womit argumentierte der wackere Bayer? Natürlich mit der bundesweiten Vorreiterrolle und dem Elternwillen.

Schon lange vor dem PISA-Schock warnten Bildungsforscher davor, den Eltern oder jedenfalls deren artikulationsfähigem, lautem und stimmungsprägendem Teil nachzugeben. Denn spätestens seit dem – zumindest schulpolitisch – grundlos hochverehrten Roman Herzog (CDU) kommt Opportunismus in immer neuen Wellen angerollt. Herzog beschrieb die kurze Phase als baden-württembergischer Kultusminister immer als die schlimmste Zeit in seinem politischen Leben. Was ihn als Bundespräsident keineswegs hinderte, in seiner unglückseligen Ruck-Rede im April 1997 massiv in die deutsche Bildungslandschaft einzugreifen: "Wir kommt es, dass die leistungsfähigsten Nationen in der Welt es schaffen, ihre Kinder die Schule mit 17 und die Hochschule mit 24 Jahren abschließen zu lassen?"

Die Frage war schnell zu beantworten: Die in ihr enthaltene Unterstellung stimmte nicht. In den leistungsfähigsten Nationen – gemeint waren natürlich die USA oder Japan oder die Tigerstaaten – war es mitnichten die Regel, dass 17-Jährige Abitur und 24-Jährige ihr Diplom machen. Damals nicht und heute nicht. Aber Tatsachen interessierten kaum. Die Büchse der ideologischen Wettbewerbs-Pandora war geöffnet. Wer dagegen hielt, musste sich als ahnungslos oder von vorgestern beschimpfen lassen. Die Diskussion über den acht- und den neunjährigen Weg zum Abitur wurde Lackmustest dafür, ob Deutschland fähig ist zum verlangten Ruck oder doch eher nicht.

Ende der Neunziger waren Schul- und WissenschaftspolitikerInnen aus dem baden-württembergischen Landtag auch deshalb in den Eliteschmieden an der amerikanischen Ostküste zu Besuch, an der Havard-University in Boston oder am Massachussetts Institute of Technology (MIT). Eine hochrangige Riege von US-Professoren riet dringend davor ab, die Schulzeit zu verkürzen. Zu spät. Elternverbände waren auf den G8-Zug aufgesprungen. Der neu erfundene Wettbewerbsföderalismus mit seinen Überbietungsmechanismen und die erste PISA-Studie taten ein Übriges.

Für ein Drittel der Schüler ist G8 das Richtige

Dass Baden-Württemberg in der Diskussion über die Länge der Schulzeit immer im Fokus stand, hing zusammen mit jenem ersten Schulversuch, der 1991 begann und ursprünglich bessere und beste SchülerInnen fördern sollte. Wären seine Ergebnisse ernst genommen und in der gebotenen Ruhe umgesetzt worden, hätten sich alle Beteiligten fast zwei Jahrzehnte quälender Debatten erspart. Wissenschaftlich belegt wurde nichts anderes als das, was Vernünftige ohnehin schon vermutet hatten: Ein Teil der Jugendlichen, etwa 30 Prozent, ist im G8 am richtigen Platz, für die anderen wäre es besser, es bei neun Jahren zu belassen. Immer mehr Eltern wetterten damals jedoch gegen die Zweigleisigkeit, weil G9 als Gymnasium zweiter Klasse missverstanden und in Misskredit gebracht wurde. Jetzt will der bildungspolitische Schwadroneur Seehofer in seinem schönen Bayern just für rund 30 Prozent der Schüler und Schülerinnen – sogenannte Überholer – den Weg zum achtjährigen Abitur freihalten. Und in Hessen, wo Schwarz-Grün die kostspielige Wahlfreiheit zwischen G8 und G9 wieder eingeführt hat, wählen 70 Prozent der Jugendlichen von sich aus den längeren Weg zur Hochschulreife.

Apropos Hochschulreife: Auch die vor allem von neoliberalen InteressenvertreterInnen aus dem Arbeitgeberlager heftig befeuerte Debatte über die angebliche Überreife deutscher Schul- und Hochschulabsolventen hat sich längst in ihr Gegenteil verkehrt. Mittlerweile wird gejammert über minderjährige Jugendliche, die zu wenig und zu schnell gelernt und zu billig Abitur gemacht hätten. Dabei war es Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt, der seinerzeit massiv auf eine Schulzeitverkürzung drängte und – mit der ersatzlosen Streichung des Referendariats – zugleich die Lehrerbildung rasieren wollte. Natürlich unter dem Applaus jener Teile der Elternschaft, die immer schon wussten, dass sowieso nur Faulenzer in den Lehrerberuf drängen.

Schlauer: Bildungspolitik in Rheinland-Pfalz

Es ist hinderlich für alle bildungspolitischen Debatten, von der Schulstruktur bis zur Grundschulfremdsprache, wie immer neue Elterngenerationen mit wachsender Vehemenz das Beste für ihr Kind einfordern und zugleich nur wenig wissen wollen von Analysen, Studien oder auch nur den Ratschläge der Fachwelt. Dass aber PolitikerInnen auf solche Expertenbefunde nicht hören wollen, ist grob fahrlässig, gefährlich und offenbar unveränderlich. Sonst müssten die neuerlichen Reformdebatten ganz anders laufen und längst Kniewallfahrten nach Rheinland-Pfalz stattfinden.

Doris Ahnen, von 2001 bis 2014 dort Kultusministerin, und mit ihr noch einige andere SPD-geführte Landesregierungen widersetzten sich damals allem G8-Geschrei, selbst dem von Eltern. In die höhnische Kritik der CDU stimmten später, als Ministerpräsident Kurt Beck 2006 die absolute Mehrheit errang, auch Liberale ein. Sie verweigere den Kindern die Zukunft und sei blind für Neuerungen, musste sich die Sozialdemokratin Ahnen beschimpfen lassen. Dabei nahmen die Verantwortlichen in Mainz nur den Begriff Wettbewerbsföderalismus ernst und erdachten einen eigenen Weg: G8-Gymnasien wurden nur als Ganztagsschulen zugelassen. "Sozialismus!", krakeelten Oppositionspolitiker.

Heute können in Rheinland-Pfalz Jugendliche an 19 von 149 Standorten in acht Jahren ihr Abitur machen, und die neue Reformdebatte lässt die Nachbarn weitgehend unberührt. "Es war nicht leicht durchzuhalten", erinnert sich Ahnen, inzwischen Finanzministerin, "aber wir waren immer sicher, dass wir richtig liegen." Bildungsforscher applaudieren ihr schon lange. Zählt doch zum ganz kleinen Einmaleins guter Schulpolitik längst die Einsicht, dass Kinder, Eltern und Lehrkräfte nicht ständig mit immer neuen Veränderungen überzogen werden sollen. Außerdem fehlen, gerade aktuell in Bayern, konkrete Vorschläge, wie denn die abermalige Dehnung eigentlich genutzt werden soll und wo die mindestens tausend benötigten neuen Lehrkräfte herkommen werden, von belastbaren Ideen zur Finanzierung ganz zu schweigen.

Für Baden-Württemberg schließt CDU-Kultusministerin Susanne Eisenmann dementsprechend die Rückkehr zu G9 aus. Noch. Und noch gelten auch Erkenntnisse wie die der Uni Duisburg-Essen, die 2014 das Niveau von G8- und G9-Abiturienten anhand von 3500 Studierenden im ersten Semester untersuchte. Ihr Befund: "Die zwei Geschwindigkeiten bis zum Abi bringen keine Nachteile – nur einen logischen Altersunterschied." Erstsemester mit acht Jahren Gymnasium seien bundesweit durchschnittlich 18,3 Jahre, die anderen 19,5 alt. Zugleich führe der längere Bildungsweg aber "weder zu einem besserem Abi, noch haben zwölf Schuljahre schlechter auf die Anforderungen eines Studiums vorbereitet".

Eigentlich ist damit alles gesagt. Dass solche ernüchternden Erkenntnisse durchdringen, steht dennoch nicht zu erwarten. Also scheint eines so sicher wie das Amen in der Kirche: Irgendwann, wenn sich im nächsten Jahrzehnt Wind und Moden wieder drehen und vor allem die Ergebnisse in Vergleichsstudien mittelmäßig bleiben, wird es neuen Krach um die Länge der Schulzeit geben. Eltern sind Wähler, und der Populismus wird mit Horst Seehofer nicht verschwinden. 


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9 Kommentare verfügbar

  • Peter S.
    am 24.04.2017
    Antworten
    Meine Kinder waren auf G9, G8 und auch im Ausland auf einem G8 (IB). Dort war das aber eine Schule von morgens 9 bis mittags 4 und dann war alles schulische erledigt.
    Das ist hier eben nicht so, denn diese deutsche G8 Implementierung hat nur dazu geführt, daß alle Beteiligten mehr Stress haben und…
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