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Die Grünen erröten

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Winfried Kretschmann hat sich tatsächlich mit Jürgen Trittin getroffen. Fünf Monate vor der Bundestagswahl wünschen sich viele Grüne, dass die ziemlich besten Feinde an einem Strang ziehen und am Ende für eine Regierungsbeteiligung sorgen. Am liebsten mit der SPD.

Eine gute halbe Stunde lang hat der Ministerpräsident den erfolgsverwöhnten Südwest-Abgeordneten in der letzten Fraktionssitzung vor Ostern ins Gewissen geredet. Die Grünen dürften sich nicht an Fehlern der Konkurrenten abarbeiten, müssten auf "Negativ-Campaigning" verzichten und stattdessen positiv denken, also über die eigenen Erfolge reden. Und vor allem über das "Kernthema Klimaschutz". Das Ziel: "Rauskommen aus dem Loch."

Vielen seiner Zuhörer und Zuhörerinnen nicht nur in der Landtagsfraktion schwant allerdings, dass das allein nicht reichen wird. Politiker brauchen Fortüne, lautet einer der Merksätze des grünen Superstars. Die aber fehlt, seit Martin Schulz die Berliner Bühne betreten hat. So schmerzlich, dass sich kürzlich sogar der grüne Linksausleger Jürgen Trittin und Oberrealo Winfried Kretschmann an einen Tisch gesetzt haben. Um sich ihrer Gemeinsamkeiten zu versichern zum Wohle der Partei, heißt es. Zugleich werden unterschiedlichste Pläne geschmiedet. Einer zum Beispiel von Rebecca Harms, Gorleben-Aktivistin, langjährige Europaabgeordnete, ebenfalls grünes Urgestein. Dieser Tage hat sie im "Focus" einen Luftballon steigen lassen und vorgeschlagen, die ungleichen Parteifreunde Kretschmann und Trittin den keineswegs überall nur Enthusiasmus auslösenden Spitzenkandidaten Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir als "Lokomotiven" zur Seite zu stellen.

Was pikant wäre in mancherlei Hinsicht. Baden-Württembergs Regierungschef hatte der Bundesspitze ziemlich genau vor einem Jahr ungefragt angeraten, mit nur einem einzigen Zugpferd in den Bundestagswahlkampf zu gehen. Mit dem Harms-Modell gäbe es jetzt deren gleich vier, mit Trittin zudem eine veränderte programmatische Ausrichtung. Die Basis hatte sich zu Jahresbeginn für ein Duo entschieden, das eindeutig und trotz seiner Beteuerungen, nach allen Seiten offen zu sein, für Schwarz-Grün steht. "Der Klassenkampf ist abgesagt", titelte die "Zeit" am 18. Januar, sechs Tage bevor Genosse Schulz ins Rennen um die Kanzlerschaft einstieg. Da lagen die Grünen in den Umfragen noch bei zehn und mehr Prozent. Zwar auch schon deutlich schlechter als im vergangenen Sommer, aber immerhin zweistellig. Inzwischen rückt die Fünf-Prozent-Hürde gefährlich nah und die Strategie liegt in Scherben.

Dabei war sie so putzig ausgedacht: Aufgehübscht und heiratswillig, mit stattlicher Mitgift, die diversen Verehrer ordentlich zappeln lassend, so wollten die Grünen in den Bundestagswahlkampf ziehen. Angesichts von Kretschmanns 30 Prozent bei der Landtagswahl und dem damaligen demoskopischen Höhenflug auf Bundesebene sollte der Verzicht auf eine Koalitionsaussage interessant machen. Das ist zwar schon früher schiefgegangen – besonders schief nach der Wiedervereinigung, als die Partei im Westen nicht einmal die Fünf-Prozent-Hürde schaffte –, sollte diesmal aber Zeichen solider Selbstständigkeit sein und der Abnabelung von der SPD dienen. 2013 gab es zusammen nicht mehr als mickrige 34 Prozent. Im Herbst 2017 sollte es mit der Union reichen, Seehofers CSU hin oder her.

Bundesweit ist das Modell "Wir können mit allen, außer mit der AfD" längst durchbuchstabiert: Von Schwarz-Grün in Hessen und Grün-Schwarz in Baden-Württemberg reicht die Probebühne bis nach Thüringen und Berlin (beide Rot-Rot-Grün). Der Blick auf vergangene Bundestagswahlen lehrt jedoch: Wenn die SPD wie gegenwärtig relativ stark ist, sind jederzeit linke Mehrheiten möglich. 2005 brachten es die Sozialdemokraten gemeinsam mit den Grünen (8,1 Prozent) und den Linken sogar auf satte 51 Prozent, entschieden sich aber dennoch für eine Große Koalition, die ihnen vier Jahre später einen historischen Absturz um mehr als elf Prozentpunkte bescherte.

Jetzt allerdings geht es aufwärts mit der SPD, und die Spitzen-Grünen halten es mit Bertolt Brechts Ballade von dem Menschen, der einen Plan macht und noch einen und "gehn tun sie beide nicht". Kretschmann selbst lässt nicht nur gerne durchblicken, dass er einiges hält vom früheren EU-Parlamentspräsidenten Schulz, es gibt sogar Lob für den linken Erfurter Kollegen <link http: www.kontextwochenzeitung.de ueberm-kesselrand der-papst-ist-der-groesste-3597.html _blank external-link>Bodo Ramelow, mit dem er "sehr ordentlich" zusammenarbeite. Für einen erfolgreichen Schwenk weg von der Union müssten jedoch alte Fehleinschätzungen über Bord gehen: Teile der Partei, der Stuttgarter Regierungschef gehört dazu, wollten aus der Niederlage vor dreieinhalb Jahren partout die falschen Schlüsse ziehen. Mit dem linken Spitzenkandidaten Trittin und den angeblich so falschen Steuer- und Bevormundungsplänen – Stichwort Veggie Day – waren die vermeintlich Schuldigen schnell gefunden, unter tätiger Mithilfe naseweiser Medien, denen fast unisono die ganze Richtung nicht gepasst hatte. Dabei hatte auch über Wahlprogramm und Schwerpunkte die Basis abgestimmt. Hohn und Spott gerade von Parteifreunden musste Trittin über sich ergehen lassen, als er sich Gehör zu verschaffen versuchte mit dem Hinweis, dass die 8,4 Prozent das drittbeste Bundestagswahlergebnis in der grünen Geschichte darstellten und fast zwei Prozentpunkte über dem von 1998 lagen. Und das war immerhin die Basis für die Regierung Schröder/Fischer gewesen.

Ein Lagerwahlkampf könnte Prozente bringen

Gerade in der Retrospektive des historischen Erfolgs vor bald 19 Jahren darf der Blick aufs Wahlrecht nicht fehlen. Sich alle Optionen offenzuhalten, mag gerade noch angehen in volatilen Ländern mit Einstimmen-Wahlrecht. Bei einer Bundestagswahl mit ihrem Zwei-Stimmen-Wahlrecht wollen die Wähler und Wählerinnen aber wissen, woran sie sind. Nach der Wahl von 1990 ergab eine Studie sehr wohl die Bereitschaft eines Teils der SPD-Anhängerschaft, mit der Zweitstimme Grün zu wählen – vorausgesetzt eine eindeutige Absichtserklärung, die Erststimme in Wahlkreisen mit aussichtsreichen SPD-Kandidaten und -Kandidatinnen im Gegenzug ebendiesen zu überlassen.

Bester Beleg für das Funktionieren von Geben und Nehmen im Lagerwahlkampf ist Stuttgart 1998: Beide Wahlkreise gingen an die Sozialdemokraten (Ute Kumpf und Ernst-Ulrich von Weizsäcker). Die CDU musste entsetzt feststellen, dass sie insgesamt im Land nicht weniger als 13 sichergeglaubte Direktmandate an die SPD verloren hatte, weil ausreichend große Teile der rot-grünen Wählerschaft ihre zwei Stimmen sinnvoll einzusetzen wussten. Wobei 2017 aus Rot-Grün je nach Ausgangslage Grün-Rot werden müsste, weil die Grünen in Baden-Württemberg inzwischen in vielen Wahlkreisen größere Chancen auf den ersten Platz haben. Werden sich die beiden nicht einig, könnte die CDU jeden einzelnen der 37 Wahlkreise für sich entscheiden.

Immerhin kommen selbst von der bisher eher glücklosen Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt, die bei der Urwahl im Winter ohne Gegenkandidatin 70,6 Prozent der Stimmen auf sich versammeln konnte, inzwischen ziemlich neue Töne. "Wir regieren in elf Ländern in sieben verschiedenen Varianten mit, und dabei meistens mit der SPD", so die 50-Jährige. Ihre Erkenntnis: "Das würde auch im Bund funktionieren." Noch ist der Konjunktiv ein Irrealis, denn Schulz saugt die zwischen Rot und Grün wechselnde Anhängerschaft an sich. Für Schleswig-Holstein, wo am 7. Mai gewählt wird, weist Infratest dimap aktuell 33 Prozent für die SPD und zwölf Prozent für die Grünen aus. Im vergangenen Dezember hießen die Zahlen noch 26 und 15. In NRW, Wahltermin ist der 14. Mai, liegen die Sozialdemokraten bei 37 und ihr Koalitionspartner bei mageren sechs Prozent. Der Dezember-Vergleich: 32 und zehn.

Vom Ausgang der Wahl im größten Bundesland wird vieles abhängen. Sollte es doch reichen für eine Neuauflage Hannelore Kraft/Sylvia Löhrmann, wollen führende Grüne das Ruder herumreißen. Beerdigt würde die Idee des Offenhaltens. Stattdessen könnte die Bundesdelegiertenkonferenz Mitte Juni in Berlin eine Koalitionsaussage zu Gunsten der SPD verabschieden. Wenn der kleine Partner in NRW aber aus der Regierung fliegt, ist guter Rat besonders teuer. Denn dann könnte – was laut Umfragen im Bereich des Denkbaren liegt – eine sozialliberale Koalition fröhliche Urständ feiern. Schwer beschädigt wäre zu allem Überfluss auch noch die grüne Strategie als vielzitierte "FDP mit Fahrrad und Genderstern" im liberalen Becken zu fischen. "Wir haben es gemeinsam in der Hand, jetzt eine bessere Zukunft zu gestalten", heißt es im Entwurf des grünen Wahlprogramms, das ebenfalls Mitte Juni verabschiedet werden soll. Das Reizwort "links" kommt auf den 106 Seiten übrigens nicht vor. Noch nicht.


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14 Kommentare verfügbar

  • Horst Ruch
    am 18.04.2017
    Antworten
    @ jue. So, Danke für die Hinweise zu alten Kommentaren.
    ...mittels Doppelpass konnte endlich Kretschmann's Demokratie"Mehrheits"idiologie in der Türkei den Beweis antreten.....weiter so mit sachbezogenem Grün, oder mit politisch gefärbten Chamäleonfarben?
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