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Zu viele Datenköche

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Viele KöchInnen für den Datenbrei: Die Zuständigkeiten der grün-schwarzen Landesregierung für die schöne neue digitalisierte Welt sitzen gut verteilt in allen elf Häusern. Mit die spannendsten Fragen ressortieren – überraschend – im Verkehrsministerium.

Wie soll die Digitalisierung im Land koordiniert werden? Momentan teilen sich alle elf Ministerien die Zuständigkeiten, doch mittlerweile ist den Verantwortlichen in der Koalition, bis hoch in die Villa Reitzenstein gedämmert, dass die zersplitterten Kompetenzen innovationshemmend statt -fördernd sind. Es gibt also großen Gesprächsbedarf in der Landesregierung.

Am vergangenen Dienstag hat daher wieder ein Runder Tisch auf Expertenebene stattgefunden. Eine gemeinsame Strategie ist angekündigt, immer neue Begriffe, Abkürzungen und Schlagworte schwirren durch die Debatte. Verkehrsminister Winfried Hermann verspricht eine neue "Open-Data-Kultur", in Echtzeit werden "Floating-Car-Daten" das Verkehrssystem im ganzen Land abbilden, ein "Think Tank" ist in Aussicht gestellt. In Bälde soll die Digitalisierungsstrategie "digital@BW" auf dem Tisch liegen, zum "konkreten Nutzen für die Bürgerinnen und Bürger". Was erst einmal zu beweisen ist, bei einem Thema, das vor allem Verwirrung stiftet.

Wo anfangen, wo aufhören? Zum Beispiel bei den Super-GAUs. Im Juli 2015 musste Fiat Chrysler USA 1,4 Millionen Fahrzeuge des Modells Jeep Cherokee zurückrufen. Nicht etwa, weil der Airbag defekt war, sich die Fahrzeuge aus dem Stand selbständig machten, weil Scheibenwischer ausfielen, Winterreifen gegen die Laufrichtung montiert waren oder die Zusatzkühlmittelpumpe blockierte. Auf die Notbremse stieg die Firma erst, als Hacker die Kontrolle über zentrale Funktionen erlangt hatten und über das Infotainment-System aus der Ferne Geschwindigkeit, Bremsen oder Lenkung manipulieren konnten. Wenig später besserte auch BMW 2,2 Millionen Autos nach. Tesla hat schon einen Super-Gau hinter sich: Im Juli 2016 übersah der Autopilot einen Lastwagen, der PKW-Fahrer starb.

So etwas kommt natürlich in der Welt der Unfallpräventionssysteme, der entspannten FahrerInnen in den musikalisch mit Wohlfühlklängen untermalten Videoclips nicht vor. Über 93 Prozent aller Unfälle würden durch menschliches Fehlverhalten verursacht, heißt in der Selbstdarstellung von Mobileye, jenem System, mit dem inzwischen weltweit über zehn Millionen Fahrzeuge ausgestattet sind. Milliarden weitere sollen folgen: "Die Zukunft gehört dem unfallfreien Fahren mit unserer Technologie im Mittelpunkt." Eben erst wurde die 1999 in Israel als Start-up gegründete Firma für mehr als 15 Milliarden Dollar an den Chipgiganten Intel verkauft. Nicht der schönen digitalen Augen wegen, die die menschlichen ersetzen sollen, und auch nicht vor allem zum Zwecke der Unfallverhütung. Es geht ums ganz große Geschäft mit den gesammelten Daten.

Die Landesregierung hat 8,6 Millionen Euro bewilligt für eben jenen Think Tank im Hause Hermann. "Von der modernen Fahrzeugtechnik über die Verkehrslenkung bis zur Sharing Economy", heißt es in waschmittelwerbungsreifer Anpreisung. Die Digitalisierung sei "ein Treiber der großen Veränderungen, die das Mobilitätssystem aktuell durchläuft". Denn die Informationstechnologie mache es möglich, "dass sich Fahrzeuge und ihre Umgebung miteinander vernetzen". Das kommt so harmlos daher.

"Wem gehören die gesammelten Daten eigentlich?", wollte Stefan Klocke, ein einschlägig tätiger Berater aus Karlsruhe ("Wir verhelfen Ihren großartigen Ideen zur Entfaltung") kürzlich von einem Mobileye-Manager wissen. Die Gesprächspartner drücken sich um eine Antwort, wissen aber ganz genau, dass Hochleistungsrechner allgegenwärtig sein müssen, um für Sammlung, Auswertung und Weitergabe – den Begriff Verkauf vermeidend – bereitzustehen. Die Kosten dafür, so darf vermutet werden, trägt in dieser Vorstellungswelt selbstredend die öffentliche Hand, damit bei den privaten Nutznießern die Kasse noch ein bisschen besser stimmt.

"Big Data steht für neue Chancen – für neue soziale, ökonomische, wissenschaftliche Erkenntnisse, die dazu beitragen können, die Lebensverhältnisse in unserer komplexen Welt zu verbessern", schrieb Winfried Hermanns Partei- und alter Freund aus grünen Fundiflügel-Tagen Thilo Weichert in einem Thesenpapier schon vor vier Jahren. Big Data stehe aber zugleich "für neue Risiken – die Möglichkeiten des informationellen Machtmissbrauchs durch Manipulation, Diskriminierung und Unterdrückung: Werden große Mengen von Daten durch private oder öffentliche Stellen zusammengeführt, so kann deren informationelle Ausbeutung zu massiver Verletzung informationeller Grundrechte der Menschen und damit zur Gefährdung ihrer Freiheitsrechte führen". Denn, so Weichert: "Alles wäre mit allem kombinier- und dann auswertbar: Angaben über Finanztransaktionen, Bonität, medizinische Behandlung, privaten Konsum, Berufstätigkeit, aus der Internetnutzung, von elektronischen Karten und Smartphones, aus der Video- oder der Kommunikationsüberwachung."

Inzwischen muss "wäre" ersetzt werden durch "ist". Ein Demonstrationsvideo bei Mobileye offenbart, wie massenhaft ahnungslose und unbeeiligte Fußgänger gescannt werden. In einem größeren Winkel, als es das menschliche Auge könnte – ein unbestreitbarer Mehrwert des Systems zur Früherkennung von Gefahren – werden alle großen und kleinen, dicken und dünnen, schnellen und langsamen PassantInnen erkannt, selbst wenn sie mit dem eigentlichen Verkehrsgeschehen gar nichts zu tun haben. Und sie alle wissen nichts von ihrem zweifelhaften Glück.

Nicht von ungefähr schlägt Weichert, einst Landtagsabgeordneter in Baden-Württemberg und später Datenschutzbeauftragter von Schleswig-Holstein, den Bogen zu den Diskussionen um die Volkszählungen 1983 und 1987. Die seien geprägt gewesen "von der Erwartung, mit den Volks-, Berufs- und Arbeitsstättenzählungen eine aktuelle, umfassende und zuverlässige Datenbasis für gesellschafts- und wirtschaftspolitische Entscheidungen des Bundes, der Länder und Gemeinden zu liefern". Gerade daraus, dass solche Verheißungen nicht eingetroffen seien, müssten heute die richtigen Konsequenzen gezogen werden. So hatte der damalige Präsident des Bundeskriminalamts Horst Herold schon Ende der Siebziger unerfüllt gebliebene Erwartungen geweckt, mit Hilfe der individualisierten informationstechnischen Auswertungen von Kriminalitäts- und sozialökonomischen Daten könne die Polizei schon vor den TäterInnen am Tatort sein.

Big Data wiederholt solche und andere Versprechen in einer ganz neuen Dimension. "Gesundheitsmanager wollen durch Auswertung von Google-Suchanfragen vorhersagen, welchen Weg eine Grippewelle einschlägt", weiß Weichert, "durch Bewegungsdaten sollen Verkehrsstaus prognostiziert und Ausweichstrecken ausgemacht, anhand von strukturierten oder unstrukturierten Massendaten verlässliche Prognosen über Klimaveränderungen, Konjunkturentwicklungen, demografischen Wandels oder Vorhersagen über Preisentwicklungen erstellt werden". Und selbst im Bereich der Sozialverwaltung werde gehofft, "durch 'intelligente' Datenanalyse, das Mittel zur Problemlösung gefunden zu haben", so der ehemalige Datenschützer Weichert, "von der finanziellen Grundsicherung über die Kinder- und Jugendhilfe bis hin zur Arbeitsvermittlung". Ebenso wie Weichert warnt auch die IG Metall in Bayern vor einer "Schutzlücke auf Dauer" sowie davor, das Eigentum an Daten einfach auszugeben, und verlangt stattdessen "Datenschutz – more than ever!".

Unternehmen, die sich darauf verlegen, Daten zu kaufen und zu verkaufen, haben dagegen die Dollarzeichen in den Augen. Zum Beispiel deshalb, weil ganz banal selbstfahrende Autos – natürlich niemals mehrere – diesen einen freien Parkplatz im Stuttgarter Westen effizient und Feinstaub-vermeidend finden werden. Oder weil das sich aus dem Wissen über das Kaufverhalten der Nicht-mehr-Fahrer ergebende, heiß begehrte Sonderangebot in optimalem Preis-Leistungs-Verhältnis ganz autonom und unverblümt angesteuert wird. Die großen Fragen, wie die nach der Entscheidungskompetenz im prekären Zweifelsfällen – das Kind oder seine Oma überfahren? – bleiben weiterhin ohne Antwort.

Selbst McKinsey räumt ein, dass viele Luftblasen bisher noch ungefüllt sind. Aktuell analysiert wurde eine Analyse aus dem Jahr 2011. "Wir sind überzeugt, dass das Potenzial nicht überschätzt wurde", schreiben die Autoren 2017 über die alte Arbeit. So verdopple sich das weltweite Datenvolumen weiterhin alle drei Jahre. Datenspeicherung sei sehr viel günstiger geworden, entsprechend hätten sich die Kapazitäten in diesem Bereich erheblich vergrößert. Dann allerdings kommt das große Aber: "Die 2011 in Aussicht gestellten Fortschritte haben sich bislang kaum realisiert." Erhoben wurden auch entscheidende Barrieren. Auf Platz eins landet, wenig überraschend, das Thema Datenschutz und Datensicherheit, das nur Freaks für old-school und von vorgestern halten. Beklagt wird unter anderem, dass zum Beispiel in der Automobilindustrie bisher nur 35 Prozent der Daten "optimal verwertet" würden. 2022 sollen es 75 Prozent sein.

Die Landesregierung plagen vorerst ganz andere Probleme. Wie die zersplitterten Zuschnitte neu bündeln, wie verhindern, dass zwei Ministerien – was tatsächlich geschehen ist – zu zwei Expertenrunden mit großen thematischen Schnittmengen und zum Teil denselben ReferentInnen innerhalb von nur 48 Stunden einladen? Der Digitalisierungsminister Thomas Strobl pocht auf seine Kompetenzen, die allerdings auf ihren Durchbruch noch wartet, das Wissenschaftsministerium will Start-up-Stories ("Studierst Du noch oder gründest Du schon?"), das Wirtschaftsministerium fördert Start-up-Ökosysteme, etwa in Karlsruhe und im Großraum Mannheim/Heidelberg/Walldorf, was nichts mit Ökologie zu tun hat, sondern neudeutsch für wachsende Vernetzung steht, das Sozialministerium ist in der Telemedizin aktiv, und das Umweltministerium hat just in dieser Woche vier Bescheide und 1,2 Millionen Euro an Energieprojekte übergeben. "Um die Versorgungssicherheit auf höchstem Niveau zu gewährleisten", lautet die frohe Botschaft, "müssen in Zukunft viel mehr Informationen ausgetauscht und viel mehr Daten verarbeitet werden, und das alles mit viel höherer Geschwindigkeit."

Noch bis zum 24. April kann zum Thema Digitalisierung auf dem Beteiligungsportal des Landes mitdiskutiert werden. Diesmal unter der Federführung von nur noch drei Ministerien: Wissenschaft, Inneres und Agrar. Das Verkehrsministerium ist auf einmal außen vor, das Wirtschaftsressort auch. Nicht nur deshalb wird im Staatsministerium an einer Bündelung gebastelt. Vorstellbar ist eine Stabstelle. "Lothar Späth", sagen langgediente Beamte, "hätte längst einen Staatsrat berufen." Und Winfried Hermanns Experten hatten am Runden Tisch eine Präsentation dabei, in der einer der zentralen Gelingensfaktoren, abseits von Datenschutz oder dem Vertrauen in autonome Systeme, dargelegt wird: die Einführung einer einzigen Anlaufstelle. Ganz analog, aber dafür zügig.


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