KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

SPD: Die Wüste lebt

SPD: Die Wüste lebt
|

Datum:

Auch die Südwest-SPD kann ihr Glück kaum fassen. Martin Schulz sorgt für einen ungeahnten Aufschwung. Diese Euphorie kann nur erklären, wer die Depression der Sozialdemokratie in den vergangenen 15 Jahren verstanden hat.

Die Südwest-SPD hat traditionell ihren Platz nicht auf der Siegerseite der Geschichte. Sie lässt sich seit 1952, seit der Gründung Baden-Württembergs, in die Pflicht nehmen, wenn sie gebraucht wird. Politische Rendite ist nie geflossen. Nie wurde einer der Ihren Regierungschef, die Verdienste der vielen Denker und Vordenker haben sich nicht in die DNA des Landes eingebrannt. Doch jetzt, am Tag der Bundestagswahl, dem 24. September 2017, soll endlich ein Erfolgskapitel geschrieben werden. Viele Genossinnen und Genossen träumen von einem Wahlabend, an dem ihr Landesverband eine besondere Rolle spielt, als Eckpfeiler des Erfolgs, dank 26, 28, 30 oder noch mehr Prozent der Stimmen.

Seit einem Jahr musste als sicher gelten, dass die Sozialdemokratie zwischen Main und Bodensee das bundesweite Ergebnis kräftig nach unten ziehen würde. Jetzt ist alles anders. Was gerade, in der Aufarbeitung des 12,7-Prozent-Desasters vom März 2016, noch als Manko angesehen wurde, ist plötzlich Nährboden für den Aufschwung. Zum Beispiel die Kleinteiligkeit in den Ortsvereinen, allein in der Landeshauptstadt sind es mehr als 20. Mit einem Mal gelten die häufig nur noch ziemlich kleinen Gruppen und Grüppchen, die sich regelmäßig treffen, Kampagnen vorbereiten und politische Positionen debattieren, sich selber bestätigen und organisieren, als Keimzelle des Erfolgs. Sie komme viel durchs Land, berichtet die Generalsekretärin Luisa Boos, die Stimmung sei wie ausgewechselt.

Da redet einer wie ein Sozialdemokrat

"Mit jedem Mann und jeder Frau steht die SPD in Baden-Württemberg hinter dir", verspricht die neue Landesvorsitzende Leni Breymaier dem designierten Kanzlerkandidaten Martin Schulz auf dem jüngsten Parteitag in Schwäbisch Gmünd. Viele tausend Sozialdemokraten haben jahrelang darauf gewartet, dass endlich wieder ein Sozialdemokrat kommt, der redet wie einer, haben sich jahrelang mit dem Gedanken beschäftigt, ob ein Parteiaustritt nicht doch die richtige Antwort auf die weitgehende ideologische Entleerung wäre. Da kommt der einstige Bürgermeister der niederrheinischen Kleinstadt Würselen, der Kugelkopf mit der Brille Marke Fielmann oder pro optik, mit den Anzügen im Langweiler-Grau, und trifft den Nerv einer ausgehungerten Basis.

Nicht nur Jusos johlen, wenn er in einen Saal einzieht. "Wir streichen unseren Sommerurlaub und gehen Klinkenputzen", verspricht in Schwäbisch Gmünd ein Ex-MdL. Ganze Ortsvereine entwerfen Pläne für ihre Klingeltouren von Haus zu Haus. Er habe, sagt Albrecht Bregenzer, einst Sprecher des Landesverbands und Geschäftsführer der Sozialdemokratischen Gemeinschaft für Kommunalpolitik, seit den Siebzigern einen derartigen Aufbruch nicht mehr erlebt. Das Geschenk ist beziehungsreich: Der "künftige Kanzler" kriegt einen Märklin-ICE geschenkt, "der Schulz-Zug rollt", sagt die Landesvorsitzende. Noch heute ist im Internet-Shop der SPD der Märklin-Nachbau jenes Salonwagens zu erwerben, mit dem Willy Brandt in seinen Wahlkämpfen unterwegs war.

Ein Märklin-ICE für den "künftigen Kanzler"

Schulz erzählt von den zwei großen geschichtlichen Bewegungen, bei denen er als junger Bursche dabei war: von der Ostpolitik und dem europäischen Aufbruch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Dann streut er Kierkegaard ein, nach dem das Leben zwar nach vorne gelebt wird, aber nach rückwärts verstanden. Das könnte klingen wie Angabe, bei Schulz ist der Oberton ein anderer. Auch in der Sozialdemokratie von heute haben manche noch die gewaltige Arbeiterbildungsbewegung vor hundert und mehr Jahren im Kopf, als Zehntausende zu einschlägigen Veranstaltungen pilgerten. Oder die Naturfreunde nach dem Ersten Weltkrieg, die grünen Roten, wie sie sich nannten, mit ihrem Bildungswillen und dem unbändigen Drang, zu verändern.

Das will Schulz ebenso. Der gelernte Buchhändler ohne Abitur hat als Präsident des Europäischen Parlaments mit Fahrer und Entourage kaum ein bescheidenes Leben geführt, aber nicht vergessen, wie viele eines führen müssen. Die Cohiba aus Kuba und der Brioni-Mantel aus Kaschmir haben ausgedient. "Am Anfang des Denkens einer Partei wie der SPD muss eines stehen: Kann das, was wir vorschlagen, diskutieren und beschließen, das Leben der Menschen jeden Tag ein Stückchen besser machen?", lautet einer seiner Merksätze.

Im Blick hat er die kleinen Leute oder besser: die vielen gewöhnlichen Durchschnittsbürger. Die alleinerziehende Mutter etwa, die 120 oder 130 Euro für die Kita zahlen und arbeiten muss, damit sie das Geld aufbringen kann. Genau umgekehrt müsse es sein, fordert Schulz, die Kita müsse dafür da sein, "dass die Frau arbeiten gehen kann." Oder der Gegenwind zu seinen Hartz-IV-Plänen. Die Wettbewerbssicherung in Deutschland hänge doch nicht an der Länge des Bezugs von Arbeitslosengeld, sagt Schulz, sondern an der Qualifizierung von Facharbeiterinnen und Facharbeitern. Deshalb sei es richtig, die Bundesagentur für Arbeit zu einer Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung umzubauen.

Die schwäbischen Schwarzen sind ganz aufgeregt

Ausgerechnet im reichen Baden-Württemberg hat dies die Arbeitgeber schon auf den Plan gerufen. "Die Verlängerung der Arbeitslosengeld-Bezugsdauer konterkariert Bemühungen um schnelle Vermittlung in Arbeit", behauptet der Hauptgeschäftsführer der Arbeitgeber Baden-Württemberg, Peer-Michael Dick, im Vorfeld des Gmünder Parteitags, ohne einen Beleg beizubringen. Schulz solle "sich wieder an sein früheres Bekenntnis zur Agenda 2010 erinnern, anstatt die Arbeitsmarkt-Erfolge der vergangenen Jahre durch wahltaktische Spielereien aufs Spiel zu setzen". Die Reaktionen per Twitter und auf Facebook, sogar in den Kommentarfunktionen bürgerlicher Blätter belegen, wie solche Kritik vor allem die Reihen der Fans des neuen Heilsbringers schließt.

Manuel Hagel, CDU-Generalsekretär im Land, teilt die ratlose Nervosität, die die politischen Konkurrenten angesichts des Hypes erfasst hat. Der 28-jährige Diplom-Bankbetriebswirt mit Abschluss an der Sparkassenakademie erlaubt sich Wortspiele rund um Schulz' Bekenntnis, dass er einst nach dem geplatzten Traum vom Fußballprofi alkoholkrank war. Der sei ja kein "Flaschenöffner", höhnt Hagel, sondern vielmehr der "Korkenknaller". Und ohnehin mit der ganzen Landespartei in einem "echten Historiendrama mit einem Rucksack voller rückwärtsgewandter Ideen" auf einer Zeitreise in die Vergangenheit.

Es sollen sogar Genossen zurückkommen

Wenn der CDU-Jungspund da nicht mal recht behält. Die Südwest-SPD freut sich wieder über mehr als 35 000 Mitglieder (zum Vergleich: Die regierenden Grünen, die bei der Landtagswahl fast zweieinhalb Mal so viele Stimmen bekamen wie die Sozialdemokraten, zählen 9000). Seit dem Tag im Januar, an dem Schulz in den Ring stieg, kamen 1014 neue dazu. Gut 400 sind unter 35, fast hundert über 70. "Es sollen Rückkehrer dabei sein", sagt ein Genosse am Rande des Parteitags verschmitzt und erinnert daran, dass der Landesverband über viele Jahre personell und ideologisch zu den interessantesten zählte.

Dafür standen Gestalten wie Carlo Schmid, der Württemberger, geboren in Perpignan, später Vater des Grundgesetzes, der dank seines Verhandlungsgeschicks mit den französischen Besatzern die Lebensmittelversorgung im Hungerwinter 1946/1947 sicherstellte und eine Katastrophe verhinderte, wie Fritz Erler, der Vater der Staatsrätin, der Landrat in Biberach und Tuttlingen war, wie Alex Möller, Erhard Eppler oder Hermann Scheer. Noch im ersten Kabinett Gerhard Schröder stammten vier Minister aus Baden-Württemberg. In der Hochzeit zwischen 1969 und 1971 hatte der zu Wochenbeginn verstorbene Horst ("Hotte") Ehmke, Willy Brandts Allrounder ("Ich werde überall gebraucht"), den später aufgelösten Bundestagswahlkreis Stuttgart III mit mehr als 49 Prozent der Erststimmen direkt erobert. An solche Zeiten will Schulz anknüpfen.

Nach der Landtagswahl seien die Bäume kahl und die Äste ab gewesen, erinnert sich Leni Breymaier in Schwäbisch Gmünd, "aber es kommen neue Knospen, es werden neue Blüten da sein, und im Herbst werden wir die erste Ernte einfahren". In dem berühmten Arbeiterlied "Wann wir schreiten Seit' an Seit'" heißt es, "... fühlen wir, es muss gelingen". Die SPD im Südwesten singt es nach 25-jähriger Pause auch auf Parteitagen wieder. Und das nicht nur pflichtbewusst.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


21 Kommentare verfügbar

  • Bernd Oehler
    am 20.03.2017
    Antworten
    @Harald A. Irmer
    »Der damaligen SPD entspricht noch am ehesten Die Linke von heute. Mit der kommt die Revolution auch nicht ;-)«
    Naja, wenn doch niemand die Revolution (welche? wie genau?) will, bescheidet man sich halt mit Sozialdemokratischem. Viele Menschen wollen das, nur die SPD will nicht so…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!