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"Der Kalte Krieg ist zurück"

"Der Kalte Krieg ist zurück"
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Kommt es 2017 zu einem neuen atomaren Wettrüsten oder zu einer Wiederauflage des Kalten Krieges? Davor warnt der Überwinder der letzten Eiszeit, Michail Gorbatschow, in einem neuen Buch, das er jetzt zusammen mit Franz Alt herausgibt. Für Kontext schreibt der Baden-Badener Autor über seine fünf Begegnungen mit dem früheren Staatspräsidenten der Sowjetunion. Der Titel des Buches: "Kommt endlich zur Vernunft – Nie wieder Krieg".

Wir sitzen Ende Oktober letzten Jahres in der Gorbatschow-Stiftung in Moskau und legen letzte Hand an unser gemeinsames Buch. Draußen fällt erster Schnee. Das frostige Wetter passt gut zum derzeitigen Klima zwischen Russland und dem Westen. Doch Michail Gorbatschow spricht auch jetzt unerschütterlich von "möglicher Versöhnung" und erinnert daran, dass selbst im Kalten Krieg vor 30 Jahren Versöhnung und Abrüstung durch gegenseitiges Vertrauen möglich wurden. Auch Präsident Putin, so Gorbatschow, habe am Vorabend im russischen Fernsehen von Versöhnung gesprochen.

Auf meinen Einwand, dass zwischen Putins Worten und Taten oft Widersprüche lägen, meint er: "Warten wir ab. Wir brauchen Geduld. Das erwarte ich von beiden Seiten. Zurzeit machen alle Fehler. Ich sehe noch immer die Gefahr eines Atomkriegs, solange die letzte Atombombe nicht abgeschafft ist. Ein solcher Krieg wäre der letzte in der Menschheitsgeschichte. Danach gäbe es niemanden mehr, der noch Krieg führen könnte."

Ich bin überzeugt, dass heute diese Stimme der Versöhnung und der Vernunft ebenso wichtig ist wie im vergangenen Jahrhundert, als die Welt am Rande des atomaren Abgrunds stand. Deshalb unser Buch mit der Stimme des großen Politikers. Als ich nach Moskau flog, las ich in westlichen Zeitungen entsetzte Kommentare über russische Bomben in Syrien. In Moskauer Zeitungen kurz danach ähnliches Entsetzen über westliche Bomben in Nahost. Gibt es gute Bomben und schlechte Bomben? Gute Bomben von uns und böse Bomben der anderen?

"Nie wieder Krieg! Frieden ist möglich"

Ich erfahre bei diesem Besuch auch, dass Gorbatschow die "Nowaja Gazeta", eine der wenigen unabhängigen Zeitungen in Russland, mitgegründet und über Jahre finanziell unterstützt hat. Er ist bis heute ihr Aktionär. Seit dem Jahr 2000 sind fünf Journalisten dieser Zeitung – unter ihnen auch die prominenteste russische Journalistin Anna Politkowskaja – ermordet und mehrere weitere Kollegen schwer verletzt worden. Das Blatt war die einzig russische Zeitung, welche ein Jahr lang aufklärerisch über die Panama-Papers mit recherchiert hat – gar nicht zur Freude der russischen Machthaber.

In diesen Zeiten neuer Feindbilder brauchen wir überlebensnotwendig vermittelnde und versöhnende Stimmen wie die des 85-jährigen erfahrenen und mutigen Realisten Michail Gorbatschow. Er hält konsequent an seiner Devise fest: "Nie wieder Krieg! Frieden ist möglich. Immer. Das ist eine Frage der Vernunft und der Lebens-Intelligenz."

Ich frage ihn, ob er enttäuscht sei über das heutige Russland und ob sein Lebenswerk "Glasnost" (Öffnung) und "Perestroika" (Wandel) heute zerstört sei. "Enttäuscht bin ich nicht, aber ernsthaft besorgt über die Lage in Russland und in ganz Europa" sagt er. Auf meine Nachfrage, ob er glücklich sei, antwortet er ausweichend: "Es gibt keine glücklichen Reformer. Nur ganz wenige haben die Früchte ihrer Reformen selbst ernten können. Aber ich hatte historisch die Chance, einen realen Wandel zum Besseren in meinem Land und zu einem positiven Wandel in der ganzen Welt beizusteuern. Dafür bin ich dankbar."

"Mein Rücktritt war mein Sieg"

Das ist die pure Bescheidenheit, wenn man als deutscher Journalist daran denkt, dass wir Gorbatschow die friedliche Wiedervereinigung verdanken. "In Russland", sagt er, "kam die Perestroika zwar zum Stillstand, aber Millionen Russen und viele Menschen darüber hinaus können die Früchte meiner Reformen noch heute genießen. Mein Werk ist nicht tot." Wie hat er seinen Rücktritt als Präsident der Sowjetunion vor 25 Jahren verkraftet? "Das war damals ein Putsch gegen mich. Aber wäre ich nicht zurückgetreten, hätte ein Bürgerkrieg entstehen können. Mein Rücktritt war mein Sieg."

Der große alte Mann hatte mich zum Drei-Stunden-Gespräch mit diesen Worten empfangen: "Nun lebe ich schon 17 Jahre ohne Raissa." In seiner Stiftung sehe ich viele Bilder von seiner Frau, weit mehr als von US-Präsident Bush, Helmut Kohl oder von den damaligen sowjetischen Spitzenpolitikern. Wer Gorbatschow oft getroffen hat, weiß um sein inniges Verhältnis zu Raissa und um die große Liebe dieses Paares. Vor 20 Jahren habe ich ihn bei einem ARD-Interview gefragt, woher er die Kraft nehme für seine umstrittenen Reformen. Lachend deutete er auf seine Frau, die hinter der Kamera stand. Sie lächelte zurück. Dieses Ehepaar war d a s politische Liebespaar des 20. Jahrhunderts. Michail lernte von Raissa, dass Vertrauen der Goldstandard aller Beziehungen ist, der privaten wie der internationalen Beziehungen.

"Der Kalte Krieg könnte ein heißer werden"

In der Politik heißt das: die Dinge auch vom Standpunkt des anderen zu sehen und zu verstehen. Nur so, meint Gorbatschow auch heute, findet man zu Gemeinsamkeiten. Und nur mit diesem Urvertrauen konnte er eine Politik der einseitigen Vorleistungen riskieren. Schon 1996 hatte er mir gesagt: "Nur mit Hilfe der westlichen Friedensbewegung konnte ich meine Abrüstungs-Politik gegen die Hardliner im Kreml durchsetzen."

Unser Buch erscheint in mehreren Sprachen – auch auf Russisch. Der Titel zeigt, wie besorgt der Ex-Politiker heute über die Lage in Europa ist: "Der Kalte Krieg ist zurück. Es könnte sogar ein heißer werden", warnt er und fügt hinzu: "In den Achtzigern war die Welt ein atomares Pulverfass. Der Frieden hing an einem seidenen Faden. Aber trotzdem fanden Präsident Reagan und ich einen Weg zur atomaren Abrüstung. 80 Prozent aller Atomwaffen konnten vernichtet werden. Warum soll heute nicht möglich sein, was damals möglich war?" Noch immer optimistisch, fragt er jetzt in unserem Buch: "Warum nehmen sich die heutigen Politiker daran kein Beispiel? Beide Seiten, der Westen und Russland, machen ständig Fehler. Der Hauptfehler war, dass sich der Westen nach 1991 als Sieger gegenüber der Sowjetunion aufspielte und bis heute ständig provoziert. Auch militärisch. Mit Säbelrasseln schafft man keinen Frieden. Viele Absprachen wurden vom Westen nicht eingehalten."

"Sie haben damals den militärischen Warschauer Pakt aufgelöst. Sollte der Westen wenigstens jetzt die NATO auflösen? Wäre das ein Beitrag zum Frieden und zur Entspannung?", will ich von ihm wissen. "Dafür ist es zu spät", entgegnet Gorbatschow resigniert.

"Zu Putin muss man Vertrauen aufbauen"

In der Innenpolitik kritisiert er den heutigen Präsidenten Putin heftig. Doch mit Kritik an dessen Außenpolitik hält er sich zurück, obwohl auch Putin nicht gerade ein Pazifist ist, wie seine Syrien-Politik zur Genüge beweist. "Beide Seiten müssen abrüsten. Zu Putin muss man Vertrauen aufbauen. Auch er hat einen guten Kern. Wir brauchen Geduld", sagt Gorbatschow und fügt hinzu: "An Frieden denken heißt an unsere Kinder denken. Das ist das Wichtigste. Ein neues atomares Wettrüsten wäre Wahnsinn und widerspricht der Lebensintelligenz von uns Menschen."

Nur wenn es gelingt, die bisherigen Feindbilder zu überwinden, finden wir neue Wege zum Frieden. Dafür allerdings brauchen wir Politiker wie einst Michail Gorbatschow, der den Mut zum ersten Schritt in der Abrüstung hatte. Er machte es möglich, dass das scheinbar Unmögliche möglich wurde. Heute sehe ich jedoch weit und breit keinen Gorbatschow – weder im Westen noch im Osten.

Auch ein Vierteljahrhundert nach seinem Rücktritt hat "Gorbi" seinen Humor nicht verloren. Zum Abschied erhebt er sich, nimmt seinen Krückstock und meint lachend: "Seit zwei Jahren laufe ich auf drei Füßen." Im Westen gilt er den meisten als Held, aber in Russland sehr vielen als Verräter. Der Mann hat schließlich ein Reich zerstört und Millionen regimetreue Funktionäre arbeitslos und politisch heimatlos gemacht. Beinahe täglich bekommt er Morddrohungen. 

Sein Verdienst ist es, dass vor 30 Jahren aus dem "atomaren Gleichgewicht des Schreckens" ein Gleichgewicht der Vernunft wurde – zumindest vorübergehend. Wir können und müssen von ihm lernen. Noch immer können wir die große Vision des Friedensnobelpreisträgers realisieren und das "gemeinsame Haus Europa" bauen. Heute brauchen wir eine globale Glasnost und eine globale Perestroika. Und keine zusätzlichen NATO-Truppen an der Grenze zu Russland.


Michael Gorbatschow versteht sein Buch als "Appell an die Welt". Es erscheint im Benevento-Verlag und ist ab 26. Januar im Buchhandel erhältlich.


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3 Kommentare verfügbar

  • Peter S.
    am 19.01.2017
    Antworten
    Ich glaub das Buch lese ich. Gorbatschow haben wir enorm viel zu verdanken. Aber er war naiv dem Westen zu vertrauen. Auch ohne UdSSR und warschauer Pakt wurde aggressiv expandiert. Ob es zu spät ist die NATO abzuschaffen weiss ich nicht. Wenn sie so wie sie ist bestehen bleibt, so steigt die…
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