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Weg mit den Klammern

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Reflexartig verlangen Law-and-Order-Freaks, vor allem in der Union, nach jedem Terroranschlag neue Gesetze, neue Behörden, neue Kompetenzverteilung. Es sind dieselben, die seit Jahren in Amt und Würden sind, und damit verantwortlich für tatsächliche oder vermeintliche Versäumnisse.

Verfassungsschutzalltag: Im ersten Stuttgarter NSU-Untersuchungsausschuss gab Beate Bube, die Präsidentin des Landesamts für Verfassungsschutzes, Einblick in die Arbeit ihrer Behörde. Deren Basis sind "weitgehend" Akten aus Papier sind, und daran, sagte Bube voraus, werde sich "so schnell" auch nichts ändern. Die Einführung der elektronischen Aktenführung ist nämlich "wie in vielen anderen Behörden ein Großprojekt".

Bube weiß, wovon sie spricht. Und sie konnte - im Falle des "Nationalsozialistischen Untergrund" wenigstens im Nachhinein - diese Arbeit konkret darlegen: Eine Projektgruppe von 17 Leuten wurde gebildet, weitere Beschäftigte mussten zusätzlich hinzugezogen werden, um erst einmal die Klammern von den Akten zu entfernen, damit sie überhaupt scannertauglich werden. "Ein unglaublicher Aufwand", klagte die Präsidentin. Insgesamt handelt es sich um 150 000 Akten, wobei eine zwischen zwei und fünfzig Seiten enthalten kann. Bei ihrer Aussage im November 2015 waren gerade mal "rund 20 Prozent des gesamten Aktenvolumens aus dem Bereich Rechtsextremismus eingescannt und elektronisch suchfähig aufbereitet". Das LfV verfügt aktuell über 361 Stellen, 50 weniger als 1988.

Seit mindestens 15 Jahren, seit dem 11.September 2001, wird an grundlegenden Korrekturen der nationalen und internationalen Zusammenarbeit gezimmert. Mohammed Atta, der Kopf der Todesflieger, studierte neun Jahr an der TU Hamburg-Harburg, war mehrfach von Deutschland nach Afghanistan gereist, um mit Al Kaida Kontakt auf zunehmen. Lange zuvor hatte Bundesinnenminister Otto Schily, der Gründungsgrüne mit SPD-Parteibuch, laut über die Eingliederung der Landesämter für Verfassungsschutz nachgedacht, und holte sich eine Abfuhr. Nicht zuletzt, weil viele schwarze Kollegen dem Roten den Erfolg nicht gönnten. Gedreht an den Stellschrauben wurde dennoch. Der Landtag von Baden-Württemberg verabschiedete im Oktober 2005 - parallel zum laufenden Stellenabbau - eine Ausweitung der Kompetenzen. Jetzt sollten "auch solche Bestrebungen beobachtet werden, die sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung oder gegen das friedliche Zusammenleben der Völker richten".

Fast kriegt man den Eindruck, der Staat sei wehrlos

CDU, SPD und FDP erleichterten Zuverlässigkeitsprüfungen nach dem Waffen-, dem Sprengstoff- und dem Jagdrecht, ebenso wie Abfragen bei Kreditinstituten, Finanzdienstleistungsinstituten, Finanzunternehmen, Luftfahrtunternehmen oder bei der Post. Die Grünen hatten versucht, eine Befristung der neuen Regelungen zu erreichen. "Wir sollten nicht das Geschäft derjenigen betreiben, die gerade diesen Rechtsstaat mit seinen freiheitlichen Rechten durch terroristische Anschläge angreifen wollen", argumentierte der Ulmer Rechtsexperte Thomas Oelmayer vor elf Jahren erschreckend zeitlos. Die Terroristen wollten "ja gerade erreichen, dass wir unsere Freiheiten immer weiter einschränken". Eine Befristung oder eine Überprüfung der Wirksamkeit wurde abgelehnt.

Im Rückblick flechten Experten dem Hardliner Schily Kränze. Weil der nach ernsthafter Schwachstellenanalyse die vielzitierte Sicherheitsarchitektur tatsächlich veränderte - mit dem 2004 geschaffenen Terrorismusabwehrzentrum GTAZ als "Kooperations- und Kommunikationsplattform", wie es beim Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) heißt. Seither arbeiten dort die 40 nationalen Behörden aus dem Bereich der Inneren Sicherheit zusammen: BfV, Bundeskriminalamt (BKA), Bundesnachrichtendienst(BND), Generalbundesanwalt, Bundespolizei, Zollkriminalamt, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Militärischer Abschirmdienst (MAD) und alle einschlägigen Behörden der 16 Länder. Ganz so wie es die aufgeregten Schreihälse aktuell verlangen. Mehr noch: Das GTAZ gilt Brüsseler Fachleuten sogar als Vorbild für eine mögliche gemeinsame europäische Terrorabwehr. Nach den Anschlägen von Paris und Brüssel im vergangenen Frühjahr waren Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesinnenminister Thomas de Maizière zu Besuch und des Lobes voll für die "effiziente Arbeit" der 200 ausgewählten Beamten und Beamtinnen.

Aber nicht nur deshalb verwundert de Maizières aktueller Aktionismus. CDU und CSU müssten sich vor allem in Zurückhaltung üben, weil die Union seit dem Machtwechsel 2005 alle Bundesinnenminister stellt, wie auch davor von 1982 bis 1998. Jede Klage fällt auf sie selber zurück, selbst wenn noch so viele Nebelkerzen geworfen werden. Auf Wolfgang Schäuble (2005 bis 2009) folgten de Maizière (2009 bis 2011) und Hans-Peter Friedrich (CSU).

CDU und CSU müssten sich vor allem in Zurückhaltung üben

Seit ziemlich genau drei Jahren ist Friedrichs Vorgänger sein Nachfolger. Und der könnte in der angekündigten Schwachstellenanalyse gleich mit sich selber beginnen. "Der Hilfesuchende", titelte der "Spiegel" schon im Oktober 2014 und beschrieb, wie de Maizière nicht lassen mochte von der Hoffnung, Asylbewerber immer weiter abschrecken zu können. Deutschland, wiederholte der Christ regelmäßig, könne nun mal nicht die Armutsprobleme dieser Welt lösen. Selbst eigene Parteifreunde sind sich längst einig, dass für die fehlende Registrierung Tausender der viel zu lange nicht ausgeglichene Personalmangel im BAMF verantwortlich ist. Der Innenminister hätte gleich bei Amtsantritt reagieren müssen, tat er aber nicht.

Besonders ärgerlich ist, dass der Oberstleutnant der Reserve den Ländern längst wichtige Befugnisse im Kampf gegen den Terror entziehen könnte, wenn er nur wollte. Der ebenfalls von Rot-Grün eingeführte Paragraph 58a Ausländerrecht erlaubt, Abschiebungen in die Verantwortung des Bundes zu stellen, "wenn ein besonderes Interesse des Bundes besteht". Die zuständige Landesbehörde sei "hierüber zu unterrichten". Und in Paragraph 62 sind schon heute die Bedingungen für eine Inhaftierung geregelt, wenn die Abschiebungsanordnung "nicht unmittelbar vollzogen werden kann". Praktiker können ungezählte Fälle beibringen, in denen wegen fehlender Haftplätze oder aus Personalmangel nicht gehandelt werden konnte.

Grün-Rot kann sich in Baden-Württemberg auf die Fahnen schreiben, den Stellenabbau bei der Polizei unter den CDU/FDP-Vorgängerregierungen gestoppt zu haben. "Die Personalstärke des Vollzugsdienstes lag am Ende der Legislaturperiode um mehr als 700 Beamtinnen und Beamte über dem Stand, den wir übernommen haben", lobt Hans-Ulrich Sckerl, der innenpolitische Experte, seine Fraktion für Anstrengungen auf einem Politikfeld, auf dem sich viele Grüne bis heute nur schwer vorstellen können, dass mit derartigen Erfolgsmeldungen tatsächlich zu punkten ist. Aber die Zeiten haben sich geändert, und dementsprechend ist die Zahl 700 auch längst als vergleichsweise gering eingeordnet: Um einen Gefährder rund um die Uhr nie aus den Augen zu verlieren, sind rund 30 Polizisten nötig.

Nutznießer der von de Maizière ausgelösten Kakophonie sind die Rechtspopulisten. Im Internet überschlagen sich AfD-Abgeordnete vor Begeisterung, weil die Union Ideen wie die Fußfessel für Gefährder oder eine - gar nicht mögliche - präventive Festsetzung "endlich" aufnehme, dass es endlich "strenge Gesetze" gebe. Jens Gnisa vom Deutschen Richterbund hält, wie viele andere, dagegen. Die seien gar nicht nötig, sagt er im ZDF, denn die vorhandenen Gesetze reichten aus. Vielmehr werde bei den Bürgern der falsche Eindruck erweckt, der Rechtsstaat sei nicht in der Lage, auf Gewalt und Terror zu reagieren.

Auch auf die Abhilfe von Thomas Strobl darf man gespannt sein

Mit der Handlungsfähigkeit des Staates haben sich alle bisherigen parlamentarischen NSU-Untersuchungsausschüsse in ihren Abschlussberichten befasst. "Die laufende Qualitätssicherung bei Polizei und Verfassungsschutz muss mit geeigneten Instrumenten sichergestellt werden", schrieben die Stuttgarter Abgeordneten vor einem Jahr in ihren Empfehlungen. In der besonderen Rolle, seiner "Aufsichtsaufgabe" nachzukommen, stehe das Innenministerium, in diesem Fall das baden-württembergische. Und weiter heißt es, "die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit dieser staatlichen Institutionen ist eine der Landesregierung zuvörderst obliegende Pflicht".

Übersetzt in den grün-schwarzen Koalitionsvertrag heißt das: "Wir werden das Landesamt für Verfassungsschutz als Frühwarnsystem der Demokratie bedarfsgerecht ausbauen." Als der neue Ressortchef Thomas Strobl, doppelt zuständig, sozusagen, für Inneres und Digitalisierung, in einer seiner ersten Pressekonferenz auf die Aktenführung aus der Schlapphut-Zeit aufmerksam gemacht wurde, versprach er ähnlich wolkig Abhilfe.

Konkret geht es inzwischen um 30 Fachleute, etwa IT-, Cyber- und Darknet-Experten oder Experten im arabischen Sprach- und Kulturkreis, und um hundert Beamte. Letztere muss sich die Polizei allerdings aus den eigenen Rippen schneiden. Die Stellen werden nicht neu geschaffen, sondern aus "anderen Aufgabenfeldern" abgezogen. Denn alles andere würde Geld kosten. Und ehrlich wäre zu sagen: Das ist auf dem Weg zur Schuldenbremse aber nicht vorhanden.


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7 Kommentare verfügbar

  • Blender
    am 14.01.2017
    Antworten
    Ein V-Mann (diesmal vom LKA) fuhr Herrn Amri nach Berlin. Vielen Dank auch (für die weitere staatliche Unterstützung einer weiteren terroristischen Vereinigung). These: Ohne V- Männer gäbe es keinen Terrorismus?…
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