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Raus aus dem Konsens

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Der Essay von Arno Luik ("Die Totengräber Europas") ist durch die Kontext-Decke geschossen wie keiner zuvor: 20 000 Mal ist er gelesen worden. Beileibe kein leichtes Thema und 17 000 Zeichen lang. Woher kommt das große Interesse?

Der Name des Autors mag eine Rolle spielen. Man kennt ihn als Interviewer des Magazins "Stern", der seine Gesprächspartner stellt, ihnen nichts durchgehen lässt, und seinerseits nicht verheimlicht, wo er steht. Solche Interviews sind heute selten. Und dennoch ist zu vermuten, dass es mehr war als die Marke Luik, dass es der Text war, der einen Nerv getroffen hat. Auch die Kommentare der LeserInnen lassen diesen Schluss zu: Aus der Seele gesprochen, auf den Punkt gebracht, treffender nicht zu sagen.

Nun hat der Autor im August nichts anderes getan als ein paar Dinge beim Namen zu nennen. Den Bundespräsidenten Joachim Gauck, der das unwillige Volk für das Problem hält, den Finanzminister Wolfgang Schäuble, dem es "gleichgültig" erscheint, wenn zig Millionen Jugendliche keine Zukunftsperspektive mehr haben, den EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker, der sein Land zur Steueroase gemacht hat, die Regierung Merkel/Gabriel, die Griechenland abgewirtschaftet hat - zur Rettung deutscher und französischer Banken.

Offenbar haben solche Artikel heute exklusiven Charakter. Mal keiner, der die Schwarze Null zum Mantra erhebt, die Austeritätspolitik (was für ein Euphemismus für gnadenloses Sparen) zur Pflicht, die Alternativlosigkeit zur Glaubenslehre. Hier sagt einer, was kaum mehr einer zu sagen wagt: Diese EU opfert das Soziale dem Gott der Ökonomie, schafft obszönen Reichtum und bedrückende Armut. Wer so etwas schreibt, gerät in Gefahr, aus der Konsenskameradschaft verstoßen zu werden.

Insofern waren wir auch Herta Däubler-Gmelin, der früheren SPD-Justizministerin, dankbar, dass sie, inspiriert durch Luik, ein Stück verfasste, das ebenfalls dagegen hielt. Ihr Nein zur "marktkonformen Demokratie", zu TTIP und CETA, war genau das, was die politische Elite nicht will: ein mitbestimmendes Volk.

Im September hat der österreichische Bundeskanzler Christian Kern zur Feder gegriffen. In seinem Beitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" kritisiert der Sozialdemokrat die "ungerechte Verteilung des Wohlstands", fordert eine staatliche Umverteilung und die "Abkehr vom Sparkurs", um das wirkliche Bedürfnis der Menschen in Europa zu befriedigen: die Verbesserung ihrer Lebenschancen. Und was passiert? Kern wird als "linker Ideologieträger" und "Mini-Marx" beschimpft.

Wahrscheinlich gehört er auch zu jenen Sozialisten, von denen Wolfgang Schäuble schon öfters "dummes Zeug" gehört hat. Wie von jenem italienischen Parlamentsabgeordneten Gianni Pittella, der gesagt hat, an Griechenland lasse sich "the evil hand of Schäuble" erkennen. So ist's in einem Gespräch mit der "Zeit" zu lesen, drei Tage vor Heilig Abend, und so lautet die Antwort des Christdemokraten: Ohne die Milliardenhilfen der EU wäre Griechenland "längst zahlungsunfähig". Schäuble sei, schreibt Luik in seinem Essay, ein "Mann von Eiseskälte". Wir haben den Autor ermuntert, öfters den Ofen anzuheizen.



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2 Kommentare verfügbar

  • Schwabe
    am 02.01.2017
    Antworten
    Herrn Friedrich Grimm kann ich nur zustimmen.
    Was er beschreibt ist m.E. nichts anderes als die von der CDU (Merkel, Schäuble und Konsorten) befürwortete "marktkonforme Demokratie" Deutschland- und Europaweit. Eben das, wohin bürgerliche (kapitalistische) Politik immer führt - zu immer schlechter…
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